Gemäldegalerie mit schwerer Last (#0019)

Evangelische Unionskirche, Platz der Nassauischen Union, 65510 Idstein

Mein Besuch am 27. August

Übervolle Farbenpracht: Gemälde aus der Rubensschule bedecken den kompletten Innenraum der Unionskirche Idstein

Selten hat mich eine Kirche so überrascht! Von der Autobahn abgefahren, um mir auf der langen Reise eine lebendigere Pause zu gönnen, als dies an einer drögen Raststätte möglich ist, bin ich mehr oder weniger zufällig in Idstein gelandet. Die Unionskirche im Ortskern des Fachwerkstädtchens Idstein im Süden Hessens wirkt eher unscheinbar, gedrungen duckt sie sich in die engen Gassen des mittelalterlichen Ortsbildes.

Aber welche unglaubliche Pracht entfaltet sie in ihrem Inneren! Über und über ist sie ausgemalt mit Gemälden der holländischen Schule, die Decke ist kein Gewölbe, sondern gleicht einem Bilderbuch über testamentarische Szenen. Alle Wände sind mit Bibelsprüchen bedeckt, gemalte Medaillons illustrieren das Beschriebene. Ein ganz besonderer Kirchenraum, der mit der Lückenlosigkeit beeindruckt, mit der Bilder Decke und Wände bedecken. So gleicht die Raumwirkung gleicht ehr der eines alten Museums, in dem die Bilder noch über- und eng nebeneinander gehängt worden waren. Welche Pracht!

Schwere Last: Geschichte und Farbenpracht der Unionskirche geben viel Anlass zum Nachdenken.

Die viele Kunst in der Kirche stammt aus dem 17. Jahrhundert und ist verbunden mit der Regentschaft der nassauischen Linien in Idstein. Bis heute verbindet sich diese Adelsfamilie mit dem holländischen Königshaus.  Die Beseitigung fast aller gotischen Elemente aus der Kirche und statt dessen ihre farbenprächtige Ausmalung von Künstlern aus der Rubensschule erfolgte in einer Zeit, in der Idstein vom Grafen streng protestantisch ausgerichtet wurde. Wie passt das zusammen mit dieser Pracht? Und auch die Information, dass gleichzeitig, während holländische Maler sich in dieser Farbenvielfalt verloren, in Idstein die Pest wütete, 39 Hexenprozesse durchgeführt wurden und der Regent seinen eigenen ältesten Sohn verstieß, weil er katholisch glauben wollte, trübt den Blick ins bunte Gewölbe.

Trotzdem ist diese Kirche jeden Abstecher Wert, sie ist dankenswerterweise tagsüber meist geöffnet. Und über die Finsternis ihrer Geschichte kann den Besucher vielleicht auch ihr Name „Unionskirche“ hinwegtrösten: Er ist Ergebnis einer freiwilligen, nicht verordneten Fusion zweier protestantischer Linien zur „nassauischen“ Union. Na also, es geht doch: Man kann auskommen miteinander.

 

Ein guter historischer Überblick zur Unionskirche Idstein findet sich auf der Website der Kirchengemeinde: https://www.unionskirche-idstein.de/ueber-uns/die-unionskirche/

 

Bereit, weil Ihr es seid (13. September 2021)

Ein Essay über den Wahlkampf-Claim der Grünen – aus meiner Mini-Serie als #PolitikFlaneur über die Wahlkampf-Slogans der drei Kanzlerkandidaten-Parteien

Diesen Beitrag können Sie auch hören statt zu lesen:

Über die Bereitschaft

Der Augenblick, in dem alles bereit ist, ist ein ganz besonderes Momentum in unserem Leben. Wenn alle Geschenke bereitliegen, die Ungeduld ein Ende hat und die lichterglänzende Einbescherung endlich beginnen kann. Wenn das Orchester bereit ist, alle Töne gestimmt sind, das Publikum im Dunkel versinkt, und der Dirigent das Podium betritt. Wenn sich der Vorhang hebt und endlich das Schauspiel beginnt – weil jetzt alle dazu bereit sind.

Aber Bereitschaft ist auch eine Last: Jeden Tag sitzen Tausende Polizeibeamte in Deutschland in Wartesälen und Schlafräumen, und sind bereit dafür, einzugreifen, wenn es nötig ist. Ärztinnen und Ärzten, Pflegekräfte, Notfalltechniker und viele andere Berufe geben uns mit ihrer Bereitschaft die Sicherheit, dass notfalls jemand da ist, wenn wir sie oder ihn brauchen. Wir hoffen, dass wir das nicht brauchen, und die Soldatin in Friedenszeiten, die Polizistin oder der Krankenpfleger im Bereitschaftsdienst hoffen ebenfalls, dass es bei der Bereitschaft bleibt und ihr kein Einsatz folgen möge. Am schönsten ist für alle, wenn die Nacht ruhig bleibt.

Ein Slogan von ausdrucksstarker Sperrigkeit

Es lohnt sich also darüber nachzudenken, was die Grünen eigentlich meinen, wenn sie über ihre eigene und unser aller Bereitschaft sprechen. Ihr zentraler Wahlkampfslogan „Bereit, weil Ihr es seid“ brennt sich mit seiner ausdrucksstarken Sperrigkeit ein in den Kopf. Das spricht zunächst einmal für die Werbeagentur, die ihn erfunden hat. Keine andere Partei, die im aktuellen Bundestagswahlkampf einen Kanzlerkandidaten stellt, hat ihren Claim so konsequent auf jedem Plakat, in jeder Werbung verwendet. Aus gutem Grund: „Bereit, weil Ihr es seid“ ist kein Motto, das in Beliebigkeit untergeht, kein Wiederholen des immer gleichen Geredes von „Zukunft“ und „Gestalten“. „Bereit, weil Ihr es seid“ ist eine Überraschung, hat sprachliche Widerhaken, ist mindestens im gleichen Umfang ein Appell wie ein Versprechen: Wer ist denn hier bereit? Und wofür?

„Ihr“, das sind ja wohl wir Deutschen. Ob wir bereit sind für die erforderliche, grundlegende Änderung unserer Gewohnheiten, damit wir die galoppierende Erderhitzung aufhalten, wird sich erst noch herausstellen. Schon verblassen die Bilder von den Folgen der Flutkatastrophe in unserem eigenen Land, von den Waldbränden, von den Hitzerekorden in den USA und Südeuropa. Ob es ausreichend Bereitschaft in unserer Wohlstandsgesellschaft gibt, etwas abzugeben vom eigenen Reichtum – das ist vorerst ungeklärt. Die sinkenden Umfragezahlen für die Grünen lassen eher wenig Optimismus zu. Aber nur so wird sich das Klima retten und damit verbunden die immer weiter auseinandergehende Schere zwischen Arm und Reich schließen lassen.

Sind wir bereit, dass die Einbescherung beginnt?

Am Anfang jeder Bereitschaft steht die Einwilligung in den möglichen Verzicht. Wer Bereitschaftsdienst hat, muss erreichbar bleiben, um einzugreifen, zu helfen, zu löschen, zu retten, auch wenn der Grill glüht oder die Fernsehserie spannend ist. Wer bei der Einbescherung das Geschenk aufpackt, kann sich nicht mehr auf etwas freuen, was er dann vielleicht gar nicht bekommt. Mit „Bereit, weil Ihr es seid“ unterstellen die Grünen unser aller Bereitschaft, endlich mit der Einbescherung zu beginnen. Vielleicht packen wir die entscheidenden Chancen für die Zukunft unseres Planeten aus, aber wir werden bereit sein müssen, dafür Opfer zu bringen.

Wer sonst könnte uns für den Verzicht gewinnen?

Auch ob die Grünen selbst dazu bereit, bleibt offen. In den ersten Wochen ihres Wahlkampfes hatten sie zunächst mit Fehlern zu kämpfen, die daran zweifeln lassen, ob sie bereit sind für viel größere Aufgaben. Schließlich geht es künftig nicht um Lebensläufe und Buchquellen, sondern darum, unsere Gesellschaft in eine Politik des notwendigen Verzichts hineinzuführen, damit wir die drohende Klimakatastrophe bei sozialer Gerechtigkeit in einer globalisierten Welt noch abwenden. Andererseits ist auch nicht erkennbar, wer sonst als die Grünen die selbstzufriedenen Wohlstandsbürger in Stuttgart-West, Schwabing, Eppendorf oder am Prenzlauer Berg für die notwendige Hinwendung zum Verzicht gewinnen könnte.

Es ist nicht leicht, mit Ankündigungen von notwendigen Einschnitten erfolgreich Wahlkampf zu führen. Die Grünen spüren das und dürften es auch gewusst haben. „Bereit, weil Ihr es seid“ ist daher eine reichlich optimistische Analyse, aber auch ein eleganter Versuch, uns alle in den notwendigen Bereitschaftsmodus zu versetzen. Denn: Die Nacht wird nicht ruhig bleiben.

Hier geht es zum Wahlprogramm der Grünen: https://www.gruene.de/artikel/wahlprogramm-zur-bundestagswahl-2021

Dieser Beitrag gehört zu einer dreiteiligen Serie, die sich mit den zentralen Wahlkampf-Claims der drei Parteien beschäftigt, die einen Kanzlerkandidaten aufgestellt haben. Hier die Links zu den anderen Beiträgen: 

Respekt für Dich (SPD)

Deutschland gemeinsam machen (CDU)

 

Zwei Türme, zwei Besitzer (#0018)

Bartholomäuskirche, Kirchplatz, 71706 Markgröningen

Mein Besuch am 10. August 2021

Ein Glockenturm, ein Turm für die Nachwache: Bartholomäuskirche in Markgröningen

Sehr dominant prägt die Kirche mit ihren auffällig unterschiedlichen beiden Türmen das Stadtbild von  Markgröningen, ein Fachwerkstädtchen wenige Kilometer entfernt von Stuttgart. Ich stand schon öfters vor dieser mächtigen Kirche, immer war sie geschlossen. Diesmal war es anders: Dank ehrenamtlicher und hilfsbereiter Aufsicht war die Kirche an einem Werktag nachmittags für zwei Stunden geöffnet, und der Anschlag an der Kirche verspricht, dass dies wieder öfter der Fall sein soll.

Die zahllosen Radfahrer und Ausflügler, die durch den Weinbauort strömen, sollten ruhig  hereinschauen in diesen großen, strengen Kirchenraum, wenn er geöffnet ist. Mich hat wieder einmal am meisten die Wucht jahrhundertealter Mauern und Pfeiler umfangen, die mich im Hochsommer mit angenehmer Kühle verwöhnten. Die majestätische Raumwirkung tritt zurück gegenüber den sehenswerten Details, auf die den Besucher nicht nur die nette Aufsichtsdame, sondern auch ein ansprechend gestalteter Flyer hinweist, der kostenlos ausliegt.

Ein hoher, strenger Kirchenraum mit vielen sehenswerten Details

Das originellste Merkmal der Kirche findet sich aber außen: ihre beiden Türme. Der eine davon gehört zur Kirche und enthält vier Glocken. Der andere gehört der Stadt, ist also weltlich, und hatte die Funktion eines „Hochwachturms“. Wer selbst in einer Stadt aufgewachsen ist, in der es sogar noch einen Türmer auf dem (einen) Kirchturm gibt (heute aus touristischen Gründen, früher aber auch als „Hochwächter“ über Feuer und andere Gefahren der Nacht), der fragt sich schon, warum man in  Markgröningen nicht den Glockenturm auch so hätte bauen können, dass er zur Nachtwache genutzt hätte werden können.

Sehr informative Ausführungen auf Wikipedia zur Bartholomäuskirche in Markgröningen: https://de.wikipedia.org/wiki/Bartholom%C3%A4uskirche_(Markgr%C3%B6ningen)

und auf der Website der Kirchengemeinde: https://markgroeningen.churchdesk.com/

 

Zwei Männer und eine Madonna (10. August 2021)

Dies ist eine Geschichte über die Zeit, über Kunst und über Geld. Es ist auch die Geschichte vom Lebensweg der Männer Jakob und Reinhold, die sich nach 500 Jahren auf unwahrscheinlichste Art begegnet sind.

Jakob

Jakob ist ein wacher Bub. Er wächst in einer Händlerfamilie auf, beobachtet seinen Vater genau beim Geschäfte-Machen und entscheidet sich früh, als Erwachsener sein Glück als Geldwechsler zu suchen. In seiner Zeit wächst der internationale Handel, und wer dort erfolgreich sein will, braucht vertrauenswürdige Menschen, die fremde Währungen in solche umtauschen, die gerade benötigt werden. Jakob ist es, der wechselt, und er vergibt die ersten Kredite. Jakob ist ganz vorne dabei, als ein neuer Geschäftszweig entsteht: Das Kredit- und Bankenwesen. Jakob wird schnell zum gestandenen Kaufmann, ein kluger, wacher, selbstbewusster Mensch. Bald macht er sich auf, seine Berufskollegen zu organisieren; die Zunftbrüder der Geldwechsler vertrauen ihm, und er vertritt ihre gemeinsamen Interessen im Rat seiner Stadt.

Reinhold

Auch Reinhold ist ein kluger Junge. Reinhold erlebt als Kind, was Krieg bedeutet. Er ist dabei, wie die Menschen seiner Heimat zuerst in den diktatorischen Wahnsinn und dann in die selbstverschuldete Verwüstung straucheln. Die Häuser seiner Kindheit fallen in Schutt und Asche. Reinhold erlebt Armut und existenzielle Not. Zehn Jahre ist er alt, als sein Vater auf dem Tiefpunkt chaotischer Nachkriegswirren den Schritt in die Selbstständigkeit wagt. Er vertraut auf eine Marktlücke seiner Zeit und eröffnet ein eigenes kleines Geschäft. Vier Jahre später wird Reinhold sein erster Angestellter. Der Sohn beginnt eine Kaufmannslehre bei seinem Vater, absolviert sie als „harte Schule“, wie er später sagt, aber mit Bravour. Gemeinsam mit seinem Vater klappert er die Handler, Handwerker und Bauunternehmer ab, um für Umsatz zu sorgen. Das Geschäft floriert.

Jakob

Jakob wird schon früh wohlhabend. Seine Geschäfte laufen glänzend. Sein Ansehen in seiner Heimatstadt ist so groß, dass er zum Bürgermeister gewählt wird, obwohl er nicht dem Adel angehört – was zu seiner Zeit für dieses Amt zumindest ungewöhnlich ist. Aber Jakob lässt sich nicht verdrängen. Bestens knüpft er die Netzwerke, macht sich mit seinem Geld und den damit gedungenen Söldnern im ganzen Reich unentbehrlich. Auch als Bürgermeister ist er erfolgreich und sorgt für wachsenden Wohlstand seiner Stadt. Seinem Reichtum gibt er Ausdruck: Schon früh fördert Jakob einen der wichtigsten Maler seiner Zeit, noch lange bevor ihn alle für seine Kunst bewundern werden. Von ihm lässt er sich zusammen mit seiner Frau im edlen Ornat portraitieren, stolz prangen Schmuck und Goldmünzen.

Reinhold

Es ist kurz vor Weihnachten, als den inzwischen 19-jährigen Reinhold die Nachricht erreicht, dass soeben sein Vater an einem Herzinfarkt gestorben ist. Er ist der älteste in der Familie; ihm bleibt keine Wahl: zusammen mit seiner Mutter führt er das kleine Handelsgeschäft weiter. Von seinem Vater hatte er gelernt, was man mit Fleiß, Durchsetzungswille und Disziplin erreichen kann. Reinhold macht sich also auf den Weg. Aus dem Vater-Sohn-Betrieb baut er eine Firma auf, die bald fünfzig, bald hundert, dann Tausenden Mitarbeitern Lohn und Brot gibt. Er sorgt buchstäblich dafür, dass aus den Trümmern nach einem Krieg beim Wiederaufbau die Balken fest zusammengefügt werden können, dass die vielen neuen Autos nicht auseinanderfliegen. Reinhold schraubt den Wirtschaftsaufschwung zusammen. Schrauben, Millionen von Schrauben, sind sein Markt. Seine Produkte sind klein, aber unverzichtbar, und der Bedarf ist unermesslich. Kein neuer Krieg stört sein wirtschaftliches Lebenswerk. Reinhold verdient viel Geld mit Schrauben, und jeden Tag wird es mehr. Was soll er mit seinem ganzen Geld eigentlich Sinnvolles anstellen? Reinhold entscheidet sich für die Kunst.

Jakob

Jakob ist tiefgläubig. Als er selbst auf dem Höhepunkt seines Einflusses steht, erschüttert ein junger Mönch aus Deutschland die Fundamente seiner Religion, ihre unumstößlichen Wahrheiten und Grundregeln. Jakob kann mit diesen Ideen wenig anfangen, aber immer mehr Menschen und auch einflussreiche Freunde und Ratsverantwortliche seiner Stadt entscheiden sich für die neuen Zeiten, für die neue Sicht auf die religiösen Dinge. Jakob lehnt einen Übertritt zur neuen Mode ab, was ihn das Amt und vieles von seinem Ansehen kostet. Als Bürgermeister wird er gestürzt, aber er bleibt wohlhabend genug, ein weiteres Gemälde bei seinem Lieblingsmaler in Auftrag zu geben. Jakob will, dass dieses Bild ein bewusstes, störrisches Statement ist, ein Ausruf der religiösen Standhaftigkeit. Es soll eine Madonna zeigen, wie sie ihn, Jakob, und seine Familie schützt vor den Veränderungen der Zeit.

Reinhold

Auch wenn der Firmenpatriarch im Scherz schon mal „Zeus“ genannt wird, ist Reinhold praktizierender Christ. Er entstammt einer Familie, die sich zum neuapostolischen Glauben bekennt. Soweit man davon weiß, unterstützt er mit seinem im Schraubenhandel erworbenen Vermögen auch seine Religionsgemeinschaft. Generell engagiert er sich sozial und gesellschaftlich, fördert Bildung, Literatur und Musik. Reinhold ist ein leistungsorientierter, aber auch liberaler Geist, der Freude hat an der unkontrollierbaren Kreativität der Künstler. So ist er zu einem der bedeutendsten Kunstsammler Europas geworden; gewaltige Summen steckt er in Gemälde und Skulpturen, vor allem zeitgenössischer Kunstschaffender und der „klassischen Moderne“. Heute gehören zu seiner Sammlung rund 18.500 Kunstwerke. Als Unternehmer weiß er, dass klug gesammelte Kunst auch eine gute Kapitalanlage ist. Unschätzbare Werte stecken in den Gemälden und Skulpturen, die Reinhold, beraten von Experten, über Jahrzehnte zusammengetragen hat. Reinhold möchte, dass diese Schätze nicht in Magazinen verstauben. Also baut er Museen für sie. Kunst soll bei freiem Eintritt zu besichtigen sein, für seine Mitarbeitenden, aber auch für jeden anderen.

Jakob

Die „Schutzmantelmadonna“ von Hans Holbein d.J. © Philipp Schönborn, bereitgestellt durch Sammlung Würth

Das Madonnen-Gemälde sei fertig, wird gemeldet. In Anspannung empfängt Jakob den Künstler. Schon beim ersten Blick ist er erleichtert: Jakob findet sich bestens getroffen. Da kniet er, der gestürzte, aber stolze katholische Bürgermeister, fromm und voll aufschauender Demut zum Gebet. Ja, er beugt sich, aber nicht dem Trend der Zeit, sondern der alten Göttlichkeit. Und die heilige Gottesmutter nimmt als Dank für seine unerschütterliche Loyalität ihn und seine Familie unter ihren Schutzmantel. Jakob ist zufrieden. Das Bild kommt auf seinen Hausaltar.

Reinhold

Reinhold gilt in seiner Heimat als ein lebendes Beispiel für erfolgreiches Unternehmertum, er zählt zu den reichsten Menschen der Welt, seine Firmen machen Milliardenumsätze. Jetzt ist Reinhold schon im hohen Alter, und er könnte alles haben, was man sich auf dieser Welt kaufen kann. Als Mäzen und Sammler hat er die wirtschaftliche Existenz zahlreicher Künstler gefördert und ihrem Lebenswerk in Museen dauerhafte Geltung verschafft. Dann hört er von einem Bild, über dessen Geschichte viel gestritten worden war, und das nun zum Verkauf steht. Im Jahr 2011 bezahlt er dafür den höchsten Preis, der jemals für ein Bild innerhalb Deutschlands entrichtet wurde: Man weiß nicht genau, wieviel, aber es sind mehr als 40 Millionen Euro.

Die Madonna lädt ein

Die Johanniterkirche in Schwäbisch-Hall, Standort „Alte Meister“ in der Sammlung Würth

In die württembergische Provinz muss man pilgern, nach Schwäbisch Hall, um den Geist dieser zwei Männer kennenzulernen: Den selbstbewussten Geldhändler Jakob Meyer („zum Hasen“) aus Basel, der zum Bürgermeister aufstieg, und der sich seine Religion nicht von den Moden der Zeit austreiben lassen wollte. Und den Schraubenhändler Reinhold Würth aus Künzelsau, dessen mit Disziplin und Beharrungsvermögen erarbeitetes Vermögen gemeinsam mit seinem Kunstverstand bewirkte, dass eines der teuersten Bilder der Welt nicht in New York, Paris oder London, sondern in Schwäbisch Hall zu erleben ist. Es ist jene „Schutzmantelmadonna“ von Hans Holbein d.J., die 1526 entstand und heute, gesichert hinter Panzerglas wie die Mona Lisa im Louvre, den Höhepunkt einer kleinen, aber sehr feinen Sammlung süddeutscher Sakralkunst des ausgehenden Mittelalters bildet. Im gotischen Gewölbe einer früheren Kirche – jetzt eines der Museen der Sammlung Würth – blickt sie auf uns herab und lädt uns ein zum Nachdenken darüber, was bleibt, und was vergeht. Eintritt frei.

 

 

Mehr über die Sammlung Würth und ihre Museen: https://kunst.wuerth.com/de/portal/startseite.php – und speziell zur Sammlung alter Meister in Schwäbisch Hall: https://kunst.wuerth.com/de/johanniterkirche/austellungen/aktuelle_ausstellungen_1/aktuelle-ausstellungen.php

Eine Zusammenfassung der außergewöhnlichen Geschichte der „Darmstädter Madonna“ bei Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Darmst%C3%A4dter_Madonna

Dieser Text bemüht sich um eine Einordnung der beiden beschriebenen Persönlichkeiten auf der Basis zugänglicher Quellen, enthält aber auch einzelne frei assoziierte Details, um den Erzählfluss zu fördern.  Das Essay ist Teil einer Serie über außergewöhnliche kulturelle Ereignisse und Strukturen im ländlichen Raum. Siehe dazu auch das Essay „Tonleiter des Glücks“

Ausgeschilderte Seitenkapelle (#0017)

Pfarrkirche Maria Krönung, Matthias-Grünewald-Straße 45, 97980 Bad Mergentheim (Ortsteil Stuppach)

Mein Besuch am 5. August 2021

Maria Krönung in Stuppach bei Bad Mergentheim

Der Zufall hatte mich in die Landschaft zwischen Mainfranken und Hohenlohe getrieben, und auf dem Weg zur „Schutzmantelmadonna“ von Hans Holbeim d.J. in Schwäbisch Hall (siehe dazu meinen Essay als #Kulturflaneur unter dem Titel „Zwei Männer und eine Madonna“) führte der Weg vorbei am Hinweisschild „Stupppacher Madonna“. Also schnell einmal abgebogen, den Berg hinaufgefahren und angehalten an der kleinen Pfarrkirche Maria Krönung, die über das Dorf wacht, das der Madonna ihren Namen gab.

Die Kirche selbst ist eher unspektakulär, ein klarer, gotischer Kirchenraum, lichtdurchflutet und streng. Eine sehr stimmige Raumwirkung, symmetrischer Aufbau. Ich war alleine dort und habe den Raum als einladend und intim empfunden.

Das farbenfrohe Madonnenbildnis von Matthias Grünewald in einer eigens dafür errichteten Seitenkapelle

Die schon an der Straße ausgeschilderte Madonna hängt in einer Seitenkapelle. Es handelt sich um das über 500 Jahre alte Madonnengemälde von Matthias Grünewald (ca. 1480 bis ca. 1530) , das sich seit 1812 in Stuppach befindet. Die Geschichte des Bildes ist ein Nachlesen Wert, es wurde wiederholt auch inhaltlich verändert. Bis Ende des 19. Jahrhunderts galt der weltberühmte Meister Rubens als sein Schöpfer, und Zuschreibung durch Kunstexperten auf Matthias Grünewald kam bei den Stuppachern als „Herabstufung“ gar nicht gut an. Aus heutiger Sicht ging man über viele Jahre mit dem Bild wohl auch konservatorisch recht ruppig um, schnitt es auf passende Größe zu und nahm nicht sachgemäße Ausbesserungen und Konservierungen vor.

Das Bild ist leuchtend bunt, und insofern schon eine Überraschung. Ich habe lange versucht, einen Zauber zu finden in dieser farbigen Mariendarstellung; mich hat sie nicht erreicht. Also weiter nach Schwäbisch Hall, zu einer anderen Madonna!

Die Stuppacher Madonna hat eine eigene Website: http://www.stuppacher-madonna.de/

Zur Geschichte der „Stuppacher Madonna“ siehe auch hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Stuppacher_Madonna

Sehr informativ und interessant fand ich dieses kurze Video über die Madonna:

(Fast) alles gleich geblieben (#0016)

St. Salvator, Salvatorgäßchen 2, 86720 Nördlingen

Mein Besuch am 28. Juli 2021

Die erneuerten Kirchenfenster von St. Salvator

Meine eigene Kindheitskirche! Hier wurde ich getauft, habe ich gebeichtet und Kommunion gefeiert, diese Kirche hat mein eigenes Kirchenbild geprägt durch Hunderte von Sonntagsbesuchen, gemeinsam mit meinen Eltern.

Wenn ich mich heute St. Salvator nähere, erlebe ich außen vieles verändert; es gibt einen einladenden Vorplatz mit Baum und Rundbank, wo in meiner Kindheit nur Autos standen; eine neue Rampe erlaubt auch Kinderwägen und Rollstühlen das Betreten der Kirche. Aber im Inneren finde ich auf den ersten Blick die Kirche fast unverändert vor, als sei die Zeit stehen geblieben. Das hohe gotische Kirchenschiff strebt noch immer wie seit Jahrhunderten zum Himmel, innen wirkt die Kirche viel weiträumiger als von außen, wo sie sich eher unauffällig in das mittelalterliche Stadtbild der Fachwerk-Kleinstadt einfügt. Nicht einmal einen Turm hat sie, nur einen Dachreiter, was mich als Kind geradezu gekränkt hat.

Die Zeit ist aber nicht stehen geblieben. Vor zehn Jahren wurde die Kirche komplett saniert, dabei drei Fenster im Chor erneuert und mit modernem Farbspiel versehen, welche die Kirche in warmes Licht tauchen. Die Deckenbögen im Chorraum sind jetzt farbig bemalt, die Wände weißer als ich sie in Erinnerung hatte.

Seit Jahrhunderten unverändert, wie auch das, was dahinter warte – Das Kirchenportal von St. Salvator

Aber sonst erinnert mich die Kirche vor allem an die Beharrlichkeit der Zeit: Die Schriften liegen noch im gleichen Schriftenstand wie vor fünfzig Jahren, es riecht noch wie in meiner Kindheit, und wahrscheinlich knarzen auch die Holzstufen zur Empore noch immer so wie damals, aber die Tür dorthin ist jetzt abgeschlossen – das ist neu.  Und dass die Kirche ihre Gründung im 14. Jahrhundert einem sogenannten „Hostienwunder“ zu verdanken haben soll, hatte ich bestimmt im Heimatkundeunterricht gelernt, aber längst vergessen. Das Wunder bestand darin, dass in einem brennenden Haus alles Weltliche vernichtet wurde, aber die Hostie für einen dort Sterbenden alle Verwüstungen des Feuers unbeschädigt überstanden haben soll. Auch wenn man Probleme hat, solche Geschichten zu glauben, ist diese doch eine schöne Parabel für Beständigkeit im Wandel.

St. Salvator bei Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/St._Salvator_(N%C3%B6rdlingen)

 

 

Die Tonleiter des Glücks – Kultur und Provinz (29. Juli 2021)

Die junge Frau sitzt im Regionalzug. Der Schaffner pfeift, und der Zug setzt sich in Bewegung. Sie blickt aus dem Fenster und beginnt zu summen. Im Zug herrscht Unsicherheit. Was ist denn das für ein Verhalten? Kinder kichern, Erwachsene drehen sich um. Aber die Melodie steckt an und überwindet die anonyme Stille der zufälligen Fahrgemeinschaft. „Wir machen Musik“, nehmen die ersten das Summen auf – „da geht Euch der Hut hoch, da geht Euch der Bart ab!“ Bald gesellen sich immer mehr mutige Singende dazu. „Do – re – mi – -fa – so …“, der ganze Zug füllt sich mit der geträllerten Tonleiter. Als die singende Reisegesellschaft ankommt und aussteigt, gesellen sich Blechbläser dazu, die Rolltreppe im Bahnhof rollt plötzlich wie im Rhythmus des Ohrwurms, noch mehr Menschen schließen sich an, umstellen ein plötzlich auftauchendes Schlagzeug. Junges Volk nimmt Videos auf und verschickt Fotos, Bürovolk schwingt die Aktentaschen und Shopping-Aktive singen mit, es wird getanzt im Takt des Liedchens. Schließlich marschiert ein ganzer Spielmannszug herbei und trötet ohrenbetäubend das Lied von der Musik. Ein ganzer Bahnhof voller Klänge! Dann ist es vorbei – und die zufällig zusammengewürfelte Menge spürt das Glück des gemeinsam erlebten Moments, das Lächeln, das Aufatmen des Gelingens. Es wird geklatscht, und dann zerstreut sich die Musikgemeinde so unvermittelt, wie sie sich gefunden hatte.

Der Flashmob wurde 62000-mal geklickt

Was hier erlebt wurde, war jener Wimpernschlag, in dem wir den Ball im Tor liegen sehen; diese Sekunde, in der wir erkennen, dass ein sehnlich erwarteter Mensch aus dem Zug steigt. Oder eben jener Augenblick, in dem eine gemeinsam erlebte musikalische Anstrengung im Schlusston ausklingt und wir wissen, dass dieses eine Glück von Musik unwiederbringlich vorbei ist. Wir gehen wieder den Weg unseres Alltags, aber wir sind für eine wertvolle, schwebende Lebenssekunde verändert, beglückt, bereichert. Und wir wissen: Es könnte wieder so sein, wieder ein Tor fallen, wieder ein Mensch kommen, wieder Musik entstehen.

Man kann sich diese Szene in einem kurzen Film auf Youtube ansehen. Ganz so zufällig, wie es wirkt und klingt, entstand der Flashmob natürlich nicht. Es gehört viel Organisation und Mut dazu, so ein Ereignis zu ermöglichen und festzuhalten. Mehr als 62.000-mal wurde das das Filmchen schon angeklickt, Menschen haben vielleicht gelächelt, mitgesummt, und sind dann wieder zu ihrem Alltagsleben zurückgekehrt.

Das Glück der Musik ist täglich milliardenfach mitzuerleben auf dieser Welt, im Internet, im Konzertsaal, auf Festivals, in der Oper, in jedem Wohnzimmer. Warum also diese Zeilen über dieses eine Video?

Wie entsteht kulturelle Attraktivität im ländlichen Raum?

Schloss Kapfenburg bei Lauchheim, Ostalbkreis (Copyright Ralf Baumgarten, zur Verfügung gestellt durch die Stiftung Schloss Kapfenburg)

Der Anstoß für den Flashmob am Stuttgarter Hautbahnhof kam aus tiefster Provinz, wurde hineingetragen in das Zentrum einer Großstadt, die sich selbst als Kulturmetropole versteht, die Straßenmusiker und Bandkultur ihr Eigen nennt, stolz ist auf mehrere Orchester und eine zwar renovierungsbedürftige, aber geliebte und künstlerisch anerkannte Oper. Es fehlt nicht an Musik in Stuttgart. „Do-re-mi-fa-so …“ – die Idee zu einem Flashmob am Hauptbahnhof kam trotzdem von außen, nämlich aus dem äußersten Osten Baden-Württembergs, von der Kapfenburg. Das mittelalterliche Schlossgemäuer oberhalb des Ortes Lauchheim im Ostalbkreis hat schon Kreuzritter, Bauernkriege und Plünderungen erlebt, war nationalsozialistisches Schulungszentrum, beherbergte Vertriebene und amerikanische Soldaten. Seit zwanzig Jahren ist die Kapfenburg nun Musikschul-Akademie und Kulturzentrum, und hält in der Provinz, fernab von München, Stuttgart oder Nürnberg, die Kultur hoch. Die Burg ist Gastgeber für Musikerinnen und Musiker aller Art und aus aller Welt, kümmert sich um deren Gesundheit und sorgt für attraktive Konzerte.

Wie kulturelle Attraktivität entsteht im ländlichen Raum, das ist hier zu besichtigen. Sie entsteht nicht durch ständiges Jammern und Wehklagen, und auch nicht dadurch, sich mit eitlem Mittelmaß zufrieden zu geben. Sie entsteht, wenn engagierte Menschen ein Netzwerk knüpfen, mit größter Disziplin einen Betrieb am Laufen halten, dessen Professionalität es mit jedem großstädtischen Kulturbetrieb aufnehmen kann. Sie entsteht, wenn deshalb attraktive Künstler den Weg in die abgelegene Kapfenburg finden. Kultur auf dem Land kann wachsen, wenn politisch Verantwortliche den Mut haben, musikalische Experimente wie ein Konzert für hupende Autos oder den Guinness-Eintrag der Burg als größtes Saiteninstrument der Welt zu unterstützen, und alle Verantwortlichen dabei doch immer nach künstlerischer Ernsthaftigkeit suchen.

Hinter jedem Fenster wird geübt und gespielt

Wer durch die Innenhöfe hinaufsteigt auf die Kapfenburg, spürt genau das: Aus allen Räumen kommen Klänge der heiteren Ernsthaftigkeit, – do-re-mi-fa-so … – hinter jedem Fenster wird geübt und gespielt, gelacht und verzweifelt. Hier wurde ein vom Verfall bedrohtes Schloss nicht nur für ein Festival einmal im Jahr aufgehübscht, sondern wurde etabliert als begehrtes Ziel von Musikfreunden, Laienmusikern, Musikschülern und ihren Unterrichtenden das ganze Jahr über. Ein ständiger Flashmob! Wer einmal dort war, nimmt diese Klangwolken des musikalischen Glücks für immer mit – … la-se-do. Sie lassen uns davon träumen, auf einer Tonleiter in den Zug des Alltags zu steigen, und mit allen anderen ganz einfach Musik zu machen.

 

Der Film zum Flashmob am Stuttgarter Hauptbahnhof auf Youtube: https://www.youtube.com/watch?v=vtpRUfEge3U

Die Website der Musikakademie Schloss Kapfenburg: https://www.schloss-kapfenburg.de/

 

Schillers Taufkirche (#0015)

Stadtkirche Marbach, Niklastorstr. 5, 71672 Marbach a. N.

Mein Besuch am 25. Juli 2021

Eng geht es zu rund um die Stadtkirche von Marbach a. N.

Eng winden sich die Gässchen um die Kirche, es ist schwierig, genug Abstand zu gewinnen, um sie in ihrer Gänze erfassen zu können. Ein kleines Fachwerk-Türmchen für eine Wendeltreppe schmiegt sich an ihre verbaute Fassade, ein barocker Glockenturm thront auf ihrem Dach.

In diesem Kirchlein wurde am 11. November 1959 Friedrich Schiller getauft, der nur wenige Schritte entfernt geboren wurde. Der damals genutzte Taufstein ist noch heute in Gebrauch. Schiller wird ihm nicht mehr viel Beachtung geschenkt haben, da seine Familie schon bald von Marbach fort ziehen musste. Der rebellische Geist, der ihn bald in Konflikt mit dem württembergischen Herrscherhaus brachte, macht es eher unwahrscheinlich, dass Schiller als Erwachsener nochmals nach Marbach zurückkehrte. Und so steht der berühmte Taufstein ziemlich verloren in dieser sonst wie ausgeweidet wirkenden Kirche. Kein Altar ziert den Chor, die Orgel steht praktisch, aber nicht organisch, seitlich im Hauptschiff, und die Empore ist daher gähnend leer.

Diese Kirche hat manches mitgemacht, und es nimmt kein Ende. Beim Stadtbrand war sie 1693 ausgebrannt, wurde dann wieder aufgebaut. Seither hat sie den Aufstieg Württembergs zum Königreich, die Revolution 1918, den Nationalsozialismus er- und überlebt. Im Oktober 2020 wurde ihre Haupteingangstür zum Ziel eines Brandanschlages eines Marbachers, der sich selbst der „Reichsbürger“-Szene zuordnet.

Die Orgel neben dem Altar ist sicher praktisch, aber is sie da auch schön? Und links daneben die Taufurkunde von Friedrich Schiller

Ich hatte bereits in der mächtigen Stiftskirche von Herrenberg beklagt, dass manche Kirchen ihrer Seele beraubt werden. So geht es mir auch hier: Dieses alte Gemäuer hätte so viel zu erzählen, viel mehr als der Taufstein eines berühmten Marbachers. Aber sie erzählt leider wenig.

Über Friedrich Schiller in Marbach und seinen Streit mit dem württembergischen Herrscherhaus mehr bei Wikipedia:  https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Schiller

 

Außen Barock, innen ganz in Weiß (#0014)

Kirche zur Heiligsten Dreieinigkeit, Marktplatz, 71634 Ludwigsburg

Mein Besuch am 22. Juli 2021

Der modernisierte Innenraum der Dreieinigkeitskirche in Ludwigsburg

Ganz in Weiß begrüßt den Besucher das 2006 grundlegend modernisierte Innere der katholischen Dreieinigkeitskirche am Marktplatz von Ludwigsburg. Dies ist eine Überraschung, denn außen trägt das Gebäude das barocke Kleid, das man in der Garnisionsstadt vor dem Barockschloss erwartet. Die Kirche ist das etwas bescheidenere Pendant der viel größeren evangelischen Stadtkirche am gleichen Platz genau gegenüber. Zusammen mit den anderen barocken Fassaden bilden die beiden Kirchen die einladende Kulisse für diesen südlich anmutenden, weiten Platz. Die Machtverhältnisse zwischen den christlichen Konfessionen in Württemberg sind damit klar nach außen dokumentiert. Im Inneren aber hat die kleinere katholische Kirche viel Mut bewiesen. Eine strenge Holzgliederung hat das Kirchenschiff neu unterteilt und damit eine flexible Nutzung ermöglicht. Ein paar wenige historische Bezüge und Kunstwerke sind erhalten geblieben, aber es dominiert das Zeitlos-moderne.

Vielleicht drücken Ludwigsburgs Katholiken damit genau das aus, was ihre Geschichte prägt: Beharrungswille und Veränderungsbereitschaft. Von den Gnaden der jeweils regierenden Herzöge und Könige und deren politischen Überlegungen zu wechselnden Konfessionsbekenntnissen abhängig, durften Katholiken in Ludwigsburg mal ihren Glauben ausüben – mal nicht. Da ist es vielleicht ein stiller Triumph, dass jetzt sogar die prächtige barocke (aber nicht beheizbare und daher im Winter geschlossene) Schlosskirche zu dieser kleinen katholischen Kirchengemeinde zählt.

Ich hatte das Glück, bei meinem Besuch am Markttag sogar eine ehrenamtlich tätige Kirchenaufseherin in dem innen modernen Kirchlein anzutreffen, die mir trefflich Auskunft über Baugeschichte und historische Hintergründe geben konnte. Wie schön, dass sich Menschen für einen einladenden Sozialraum Kirche engagieren!

Zur Website der Kirchengemeinde: www.hl-dreieinigkeit.de

 

Werther liebt und stalkt

Zur Oper „Werther“ von Jules Massenet

Zwei Menschen begegnen sich, und manchmal entsteht Liebe zwischen ihnen. „Ein Tropfen Liebe“, sagte der französische Literat Blaise Pascal, „ist mehr als ein Ozean Verstand“. Schaltet Liebe den Verstand aus? Sie sollte das Gefühl unbedingter Zusammenhörigkeit sein, des Hingezogen-Seins, das Gefühl von Leere und Sinnlosigkeit, wenn der oder die andere nicht da ist, vielleicht sogar für immer verloren ist. Liebe geht „über den Zweck oder den Nutzen einer zwischenmenschlichen Beziehung“ in der Regel hinaus, schreibt Wikipedia. Sie zeige sich üblicherweise „in tätiger Zuwendung zum anderen“. Das Gefühl der Liebe könne auch unabhängig davon entstehen, „ob es erwidert wird oder nicht“.

Ist gegen die Liebe also kein Kraut gewachsen, wie es der römische Dichter Ovid einst schrieb? Ist es noch Liebe, wenn sie für die Geliebte, die nicht lieben will oder darf, zum quälenden Übergriff wird? Rund 20.000 Stalking-Fälle werden jährlich in Deutschland aktenkundig, vermutlich gibt es viel mehr davon. Im Jahr 2007 handelte deshalb die deutsche Politik; im Strafgesetzbuch gibt es seither einen Paragrafen, der verbietet, einen verschmähenden Liebespartner „andauernd und wiederholt zu belästigen“, sich ihm also gegen seinen erklärten Willen zu nähern, ihm nachzustellen mit telefonisch oder persönlich oder schriftlich gestammelten Liebesschwüren, mit Drohungen, mit unerwünschtem Klingeln an der Haustür. Aktuell wird die Regelung auch auf alle Formen der viralen Nachstellungen erweitert. Der Schutz, den der Staat Betroffenen – in den weit überwiegenden Fällen sind es Frauen – gewährt, kann bis zur Bereitstellung einer neuen Identität reichen, um für den ungewünscht Liebenden unauffindbar zu werden.

Anna Sutter hätte leben können

Die Schicksalsgöttin vor dem Stuttgarter Opernhaus

Der Stuttgarter Opernsängerin Anna Sutter hätte 1910 ein solches Gesetz geholfen, vielleicht wäre sie dann älter als 39 Jahre geworden, jedenfalls wäre sie vermutlich nicht erschossen worden von ihrem verschmähten Liebhaber Alois Obryst, der sich anschließend selbst das Leben nahm. Anna Sutter hatte sich wiederholt die Nachstellungen ihres Liebhabers verbeten; genutzt hatte es ihr nichts. Heute erinnert ein Brunnendenkmal vor der Stuttgarter Oper an ihr trauriges Schicksal. Die dort dargestellte Schicksalsgöttin trägt angeblich ihre Gesichtszüge.

„Werther“ ist die Geschichte einer Rebellion, …

Um die Qualen verschmähter Liebe geht es auch im Briefroman „Die Leiden des jungen Werther“ von Johann Wolfgang von Goethe. Als im Jahr 1774 der Welthit des „Sturm und Drang“ (auch so eine problematische Kategorisierung, wenn man sie in Sachen Liebe mal aus der Sicht der möglichen Opfer betrachtet) veröffentlicht wurde, war das die spannend-mitreißende Schilderung eines verzweifelten Liebesabenteuers, aber vor allem ein rebellischer Stoff gegen das Establishment. Der Held macht alles, was damals nicht vorgesehen war. Werther verliebt sich in eine standesgemäß unpassende Frau und hadert mit deren Verlobungsversprechen an einen anderen. Schließlich ignoriert er es, stürzt in einen Liebeswahn und damit sich selbst und seine Angebetete ins Verderben. Er begeht Selbstmord, was aus damaliger kirchlicher Sicht eine Sünde darstellte. Besondere Wucht erwächst diesem Stoff unter anderem daraus, dass der liebende Held sich selbst umbringt, und nicht etwa seine Geliebte (oder beide, wie im Fall der unglücklich geliebten Anna Sutter – und Tausenden anderen Fällen, von denen zu hören und zu lesen wir uns gewöhnt haben). Werther lässt Charlotte zwar am Leben, als eine verzweifelte und an ihren Gefühlen zweifelnde Frau, gezeichnet für ihr Leben – wir würden heute sagen: traumatisiert.

… aber auch einer neurotischen Liebe

Werther in der Oper Stuttgart (dem Bild Arturo Chacón-Cruz) Foto: Philip Frowein

Jules Massenet hat diesen Stoff 1892 romantisierend mit manchmal schwülstiger, oft rauschhafter Musik durchtränkt und zu einer Oper gemacht. Von Goethes politischem Rebellionsgeist ist bei Massenet nichts mehr übrig. Hier ist das Stück eine wahnhaft-romantische Liebesgeschichte. Der 1856 geborene Sigmund Freud hatte zu Massenets Zeit gerade erst damit begonnen, sich mit Neurosen als Krankheiten zu beschäftigen und der Welt die Zusammenhänge zu eröffnen, die sich aus seelischen Störungen und dem Handeln des Menschen ergeben. Die Librettisten der Oper wussten davon nichts und stellten also die narzisstische Fixierung ihres Werther auf seine eigenen Interessen nicht in Frage. Selbst dann, wenn er sich im Interesse seiner Geliebten zurückzieht, ihr mit seinem Freitod droht und ihn schließlich vollzieht, sieht er sich selbst doch immer noch heldenhaft im Mittelpunkt des Geschehens. Werther fehlt jede Erkenntnis, die wir heute zum zivilisierten Kanon der Mitmenschlichkeit zählen: dass es gleichberechtigte, andere Interessen gibt, die man auszuhalten hat. Wenn ein wacher und sensibler Mensch heute von seinem Freund eine E-Mail erhalten würde, in der über dessen Sehnsucht nach einer Geliebten steht: „Weiß der Gott, wie einem das tut, so viele Liebenswürdigkeit vor einem herumkreuzen zu sehen und nicht zugreifen zu dürfen; und das Zugreifen ist doch der natürlichste Trieb der Menschheit“ (Originaltext Goethe, zitiert nach dem Programmheft) – dann würde hoffentlich sein Alarmsystem sofort anschlagen: Hier ist eine gefährliche, eine verachtende Grenze der Liebe erreicht.

Die Oper Stuttgart hat dieses besonders liebestolle Stück Musiktheater als letzte neue Inszenierung (von Felix Rothenhäusler) an das Ende der Spielzeit 2020/21 gesetzt. Herausgekommen ist große Kunst mit strenger Ästhetik, in der uns Musizierende, Singende, Regie und Bühnenbild in diesen gescheiterten Liebenstaumel hineinziehen.

Warum sollten wir uns das heute anhören?

Das Grab von Anna Sutter auf dem Stuttgarter Pragfriedhof

Warum sollten wir uns das heute ansehen und anhören? Vor allem zum Nachdenken über Gewalt in und wegen der Liebe, über Suizide und Morde, die im Namen der Liebe, in Wahrheit aber von untröstlicher Aussichtslosigkeit betrieben werden. Niemand müsste sich heute noch so quälen wie einst Charlotte und Werther. Anna Sutter und viele andere hätten nicht sterben müssen. Heute kennen wir das Kraut, das gegen solche krankhafte Liebe gewachsen ist.

 

Jules Massenets „Werther“ an der Oper Stuttgart ist wieder zu sehen ab 12. Juni 2022: https://www.staatsoper-stuttgart.de/spielplan/a-z/werther/

Das Schicksal der Stuttgarter Opernsängerin von Anna Sutter wurde zu ihrem 100. Todestag sehr gut aufbereitet bei RONDO: https://www.rondomagazin.de/artikel.php?artikel_id=1494

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