Die sinnliche Seite der Zeit

Christian Marclays Videokunstwerk „The Clock“ in Stuttgart

„Sehen Sie nur“, sagt die blondgeföhnte, hochseriöse Dame im Verkauf für sehr, sehr teure Uhren zum solventen Kunden (natürlich ein Mann). „Sehen Sie nur: Die Akkuratesse der Mechanik, wie in jedem Innehalten des Zeigers die Möglichkeit von Stillstand steckt, und wie jedes Mal die gleiche Entscheidung getroffen wird: Weiter, immer weiter, es gibt keinen Weg zurück!“ Sie macht eine kunstvolle Pause, beider Blicke ruhen auf dem winzigen Uhrwerk hinter gewölbtem Glas, und der Kunde nippt am Sekt. „Und welche Eleganz in dieser Unerbittlichkeit liegt“, haucht sie ihm dann in die bereits von Gier geweiteten Ohren, „welche Schönheit und welche Traurigkeit …“

Mit dieser Szene beginnt die zweite Folge der großartigen Fernsehserie „Die Affäre Cum Ex“, die es derzeit ganz frisch in der ZDF-Mediathek abzurufen gilt. Der junge Mann ist zu Geld gekommen und will es standesgemäß in einer edlen Uhr anlegen. „Da wären wir bei 43.800 Euro,“ ergänzt die Dame im Kostüm eher beiläufig, „plus Mehrwertsteuer“, und der Banker blickt auf, aber verbietet sich jedes Zucken angesichts dieser Zahl. Seine ganze Aufmerksamkeit gilt dem kleinen mechanischen Wunder.

Die Zeit vergeht, und wir alle schauen zu: „The Clock“ von Christian Marclay (Foto: Kunstmuseum Stuttgart)

Nichts tickt mehr, aufziehen ist out

Die sinnliche Erfahrung eines Uhrwerks muss nicht so teuer sein. Für nicht einmal fünfzig Euro ist ein Bausatz aus 166 Holz- und wenigen Metallteilen zu haben, mit dem auch ein ungeübter Bastler sich seine eigene Uhr zusammenstecken kann. Wer es macht, verbringt ein paar Stunden mit Heraus- und Zusammendrücken der vorgestanzten Zahnräder und Halterungen, mit Messen und Ausrichten, und erlebt dann staunend, wie sein Werk heranwächst. Und: Wie das zunächst tote Material nach einigem Balancieren und Justieren zu magischem Leben erwacht. Die Holzuhr, eben noch ein Stapel flacher Sperrholzbrettchen, tickt tatsächlich, die Zahnräder greifen ineinander, die Unruhe zappelt, das Pendel bewegt sich hin und her, wie von Zauberhand angetrieben (wenn auch in Wahrheit von einer aufgezogenen Feder). Weiter, immer weiter, es gibt keinen Weg zurück!, erzählt dann auch das laute Ticken dieser Uhr, beinahe selbst geschaffen, fast wie aus dem Nichts, und nun ein Symbol für das immer Verheißungsvolle des Kommenden, das ewig Verlorene des Vergangenen.

Seit sich die Digitalisierung auch unserer Zeit bemächtigt hat, ist die hier beschriebene sinnliche Seite des Alltagsgegenstandes „Uhr“ weitgehend verlorengegangen. Da tickt normalerweise nichts mehr, und aufziehen, dagegenklopfen, am Ohr horchen muss man auch nicht mehr. Die Uhrzeit wird schnöde in Zahlen angezeigt, sekundengenau zumeist, und wer die Uhr mit Sonnenenergie betreibt, braucht sich nicht einmal Gedanken um das Ermüden von Batterie oder Akku machen.

„The Clock“ – ein kommerziell erfolgreiches Kunstwerk

Alle diese Gedanken begleiten den Kulturflaneur, wenn er sich dem sensationellen Video-Kunstwerk „The Clock“ nähert. Noch bis 25. Mai ist es erstmals in Deutschland zu erleben – im Kunstmuseum Stuttgart, wegen eines Jubiläums noch dazu bei freiem Eintritt. Der US-amerikanisch-schweizerische Videokünstler Christian Marclay hat es zusammen mit vielen anderen geschaffen, es gibt weltweit davon nur sechs Kopien. Jede konnte Marclay für rund 500.000 US-Dollar verkaufen, vor allem an Museen. „The Clock“ ist damit vermutlich das bisher kommerziell erfolgreichste Werk der Videokunst. Streamen kann man es nicht, weil es eben kein Film ist, sondern ein Kunstwerk, für das Marclay im Jahr 2011 den Goldenen Löwen der Biennale von Venedig gewann.

Zu sehen ist der Ablauf von genau 24 Stunden, also 1440 Minuten. Um „The Clock“ zu erstellen, wurden Zigtausende von Film- und Fernsehsequenzen gesichtet und nach Szenen durchsucht, in denen Uhren zu sehen sind oder von der Uhrzeit die Rede ist. Rund zwölftausend Filmschnipsel haben es schließlich in das Werk geschafft. Sie sind nicht sinnlos nacheinander gereiht, sondern so, dass sie durchaus so etwas wie eine Ahnung von kurzen Handlungen ergeben. Beispiel: Eine Frau springt aus dem Bett und geht durch eine Tür – Schnitt – eine ganz andere Frau aus einem ganz anderen Film kommt aus einer anderen Tür heraus, nimmt ein Baby in die Hand – Schnitt – Großaufnahme eines weinenden Babys auf dem Arm einer Krankenschwester – diese blickt auf die Uhr im Flur: 11.55 Uhr.

Das Werk über die Zeit ist selbst eine Uhr

„The Clock“ darf nur so synchronisiert gezeigt werden, dass während des Filmes die echte Zeit vergeht – oder auch angezeigt wird, je nachdem, wie man es betrachten möchte. Wenn es also 11.55 Uhr ist, so wird eine Filmszene gezeigt (manchmal auch mehrere), in der es ebenfalls genau fünf vor zwölf Uhr ist: Irgendwo, auf der Uhr an der Wand, auf einer Armbanduhr oder im Gespräch der Filmhandlung. Die Sequenzen bilden nebenbei oft den Tagesablauf ab: Vormittags wird meist gearbeitet, mittags viel gegessen, abends treffen sich Freunde in der Bar, nachts wird geschlafen. So geht das jede Minute, ohne Unterbrechung, 24 Stunden lang. Das Werk über das Vergehen der Zeit ist selbst eine Uhr.

Etwa zwanzig bequeme Sofas stehen im abgedunkelten Raum des Stuttgarter Kunstmuseums. Besuchende können sich hineinsaugen lassen in dieses einzigartige Monumentalwerk der Videokunst. Filmen und Fotografieren ist streng verboten. Minute um Minute vergeht, Stunde um Stunde blickt man gebannt auf die Zeit. Vom 17. auf den 18. Mai könnte man das sogar die ganze Nacht hindurch tun, denn dann hat das Museum aus diesem Anlass rund um die Uhr geöffnet.

„The Clock“ macht süchtig. Lümmelnd auf dem Sofa zieht die Zeit vorbei, sinnlich, vielfältig, tiefsinnig und albern. Beim Schauen auf dieses Räderwerk der Bilder bleibt keine Zeit zum Nachdenken, nur zum Mitspüren. Ist der Moment gelebt, schon ist er verloren. „Welche Schönheit in dieser Erkenntnis liegt!“ Ja, und auch: welch tröstende Traurigkeit. Ein großes, buntes, stumm machendes Erlebnis aus gut verbrachter Zeit.

Mehr zu „The Clock“ im Kunstmuseum Stuttgart finden Sie hier.

Die Fernsehserie „Die Affäre Cum-Ex“ finden Sie in der ZDF-Mediathek.

Weitere Texte als #Kulturflaneur finden Sie hier.

 

Tag 8: Lust und Last des Gedenkens

Tag 8 (21. März 2025)

Von Spechtsbrunn nach Heinersdorf

Viele Dörfer liegen nah an der früheren Grenze. Vierzig Jahre lang waren sie die Leidtragenden der Weltpolitik. Die Entscheidung des „Ostblocks“, die Grenze strikt abzuriegeln, bedeutete für sie, wenn sie auf DDR-Gebiet lagen: Im besten Fall Zutritt nur mit Sondergenehmigung, noch mehr Überwachung als sonst – und im schlechtesten: zwangsweise Umsiedlung.

Es waren nicht diese Dörfler, sondern die rebellischen Bürger der großen Städte, die das ganze System ins Wanken und schließlich am 9. November 1989 zum Einsturz brachten. Und plötzlich klopfte die Weltgeschichte an die Mauer auch in diesen Dörfern.

Erinnerungsort für den „Kleintettauer Zipfel“ – informativ und einladend. Im Hintergrund eines der Häuser, die stehen geblieben sind und 1976 im Zuge eines Gebietstauschs nach Bayern zurück-eingemeindet wurden.

Mein Weg am Vortag hatte in Kleintettau geendet, ein Dorf, das ich über einen Radweg, vorbei an friedlich grasenden Hochlandrindern erreichte, der insgesamt viermal die heutige Landesgrenze zwischen Bayern und Thüringen durchschneidet. Zu DDR-Zeiten gab es ihn nicht, hier war Sperrgebiet. Kleintettau liegt eigentlich in Bayern, aber drei Höfe des Ortes waren durch die Weltgeschichte auf DDR-Grund geraten. Wie ein Dorn ragt auch heute ein Stück Thüringen nach Bayern hinein. Die Bewohner dieser Häuser waren daher vermutlich die einzigen DDR-Bürger, die über bundesdeutsche Pässe verfügten. Dem SED-Staat erschien es unangemessen, diesen Menschen beibringen zu wollen, dass das restliche Dorf in Bayern nicht weiterhin ihre Heimat sein sollte. Ein Glücksfall, denn andernorts in ähnlicher Konstellation – etwa in Mödlareuth – konnte ich bereits andere Entscheidungen besichtigen. Man hätte die drei Häuser auch mit Gewalt aussiedeln können. Davor schreckte die DDR-Führung zurück; im Zuge eines Gebietstausches kamen die Menschen schließlich 1976 in den Westen. Eine gut gepflegter Erinnerungsort, informativ und einladend, erzählt nun diese glückliche Geschichte.

Der Mauer-Rest im Hintergrund ist original und steht unter Denkmalschutz. Die Gedenksteine davor sind kaum lesbar, und der Autoverkehr rauscht vorbei, als wäre es nie anders gewesen: Gedenken in Heinersdorf, wo einmal die Welt zu Ende war.

Heute dagegen endet mein Weg in Heinersdorf. Von thüringischer Seite her kommend begrüßt mich am Ende eines Radweges durch traumhaft schöne Natur entlang der Tettau die abgrundtief hässliche Ruine eines früheren Wohnheims für Grenzsoldaten. Heute dient es als Areal für Airsoft-Spiele. Offenbar haben dabei alte Autoreifen eine wichtige Bedeutung, denn solche liegen zu Tausenden auf dem Gelände. Das lang gezogene Straßendorf, das zur thüringischen Stadt Sonneberg gehört, hat dann viel herausgeputzte Privatheit zu bieten, nette Vorgärten und sauber renovierte Einfamilienhäuser. Für den öffentlichen Raum fehlt aber das Engagement: Kaum eine Parkbank, wenig öffentliches Grün, und die frühere Gaststätte ist schon von außen ein ausgesuchter Hort der Trostlosigkeit. Kein Wunder, dass sie niemand mehr betreiben möchte. Einst endete der Ort an der Mauer, kein Weg ging weiter dort, wo jetzt die neue Straße liegt, auf der die Autos vorbeisausen, von Bayern nach Thüringen und umgekehrt, als wäre es nie anders gewesen. Reste der Mauer stehen noch, auch hier angelegt als Erinnerungsort mit verwitterten Gedenksteinen. Hier gab es keinen DDR-Grenzübergang, aber nach den Ereignissen in Berlin wurde einer geschaffen. Die provisorische Bretterbude steht noch, sie staubt und bröckelt als „Gedenkstätte“ vor sich hin. Das Gedenken, so scheint mir, ist hier zur Last geworden.

Distanz: 17,7 Kilometer, 24.500 Schritte

Begegnungen mit Wanderern: keine. Ein paar Radfahrer auf dem letzten Stück.

Jäger-Hochsitze am Weg: 15

Alle Texte aus meinem Wandertagebuch #Grenzerfahrung finden Sie hier.

Im Text sind Weiterleitungen zum besonderen Schicksal der Dörfer Kleintettau und Heinersdorf verlinkt, und speziell zu meinem Text über Mödlareuth (Tag 2).

Tag 7: Fast ganz allein im Haus des Volkes

Größer als die Kirche: Das Bauhaus-Ensemble „Haus des Volkes“ dominiert das Stadtbild des Grenzortes Probstzella. Das Gebäude und seine Geschichte sind eine Sensation. Aber den Ort kennen alle nur wegen seines Schicksals als Grenzbahnhof.

Tag 7 (20. März 2025)

Von Probstzella nach Kleintettau

Mein Weg führt weiter Richtung Westen, über die rauschende Loquitz auf der gegenüberliegenden Seite den Hügel hinauf auf dem Kolonnenweg. Bald habe ich eine aussichtsreiche Höhe erreicht, um meinen Blick zurück auf Probstzella zu richten. Millionen Menschen haben schlechte Erinnerungen an den Ort, der für Reisende nur aus dem Grenzbahnhof zu bestehen schien. Zwischen 1949 und 1989 mussten dort alle Züge von und nach Berlin aus dem Süden der Bundesrepublik anhalten, hunderttausende Leibesvisitationen, Gepäckkontrollen, Schikanen und Erniedrigungen wurden hier durchlitten, manche haben auch Gewalt erfahren.

Vor allem aber sind mit Probstzella Erinnerungen an Ängste verbunden. Über den DDR-Grenzbahnhof ist viel geschrieben worden, und heute erinnert ein kleines Museum im Bahnhof an seine Geschichte. Das eigentliche Gebäude, ein hässlicher Betonbau, das damals der wahre Ort von Willkür auf deutschem Boden war, wurde bald nach dem Mauerfall abgerissen; bis zuletzt haben historisch Bewusste (u.a. auch die heutige Bundestags-Vizepräsidentin Göring-Eckardt) erfolglos dagegen gekämpft.

Einen Vorteil hat dieser Eingriff in die historische Substanz immerhin. Die Sicht auf den ganzen Ort ist jetzt frei, wenn der Wanderer vom gegenüberliegenden Hügel hinüberblickt auf das Städtchen. Aus der Entfernung wird das Grauen klein und das Malerische groß. Und so ist zu sehen, dass das größte Gebäude dieser Stadt nicht die Kirche ist – wie sonst so oft – sondern ein mächtiger Bau mit dem Namen „Haus des Volkes“ direkt gegenüber dem alten Bahnhof.

„Oh Gott, sozialistische Propaganda“, mag nun mancher ausrufen, wenn er diesen Namen hört – und liegt damit meilenweit daneben. Dieses gewaltige Haus, das heute wieder mehrere Säle, eine Bowlingbahn, ein Kino, einen Billardraum, Tagungsräume, eine Sauna und ein Hotel beherbergt, zu dem ein Park gehört mit Musikpavillon, Kneippbecken und Seerosenteich – dieser Bau heißt so, weil schon im Jahr 1925 sein Erbauer es so wollte.

Franz Itting war in Probstzella zu Geld gekommen, weil er die neu aufkommende Elektrizität herstellte und verkaufte. Itting war ein schwerreicher Industrieller – und ein überzeugter Sozialdemokrat. Itting wollte ein sozialer Vorbildunternehmer sein. Er ließ für seine Arbeiter Wohnungen bauen, schloss für sie Lebensversicherungen ab, führte die 40-Stunden-Woche ein. Und er ließ für die Stadt, mit deren Elektrifizierung er so reich geworden war, ein gewaltiges Gebäude errichten im damals aktuellen Bauhaus-Stil – zur Förderung der kulturellen und gesellschaftlichen Gemeinschaft –, und nannte es „Haus des Volkes“. Schon den Nazis war Itting als Person und die offene Idee seines „Haus des Volkes“ suspekt. Er wurde drangsaliert, zeitweise ins Konzentrationslager gesperrt, und sein großes Haus durfte auch nicht mehr dem Volk gewidmet sein. Itting überlebte den Terror, aber dann kamen die kommunistischen Ideologen an die Macht– und auch ihnen konnte er es nicht Recht machen. Sie misstrauten seinem Reichtum, enteigneten den Sozialdemokraten und brachten ihn schließlich dazu, sein Leben und einen kleines Teil seines Besitzes wenige Kilometer entfernt auf die bayerische Seite der Grenze nach Königsstadt zu retten, als das noch möglich war.

Das „Haus des Volkes“ diente dann als Veranstaltungsraum und den Grenzsoldaten als Büro und Unterkunft. Und es hieß nun auch wieder so. Heute steht es unter Denkmalschutz, und mit bemerkenswerten Engagement versucht ein privater Betreiber, es als Hotel- und Veranstaltungsstätte in stabilem Leben zu erhalten. Keine einfache Aufgabe, angesichts des gewaltigen Raumprogramms und der äußeren Umstände: Der ICE fährt schon längst nicht mehr durch Probstzella, die nächste Autobahn ist weit. Wer dort übernachtet – wie ich -, erlebt viel Fläche, und wenig Menschen. Das sei in der Saison und an Wochenenden anders, versichert der Betreiber. Ich habe das „Haus des Volkes“ nicht ohne großen Respekt vor dieser Leistung wieder verlassen, und wurde bereichert um das Wissen über Franz Itting, diesen Visionär des Sozialen und Nachhaltigen, und über die Frauen und Männer, die als Architekten und Künstler dieses große Schloss für das Volk geschaffen haben.

Dann, einige Kilometer weiter, führt mein Weg zu einem Aussichtsturm, der „Thüringer Warte“. 1962 wurde sie errichtet, um in Zeiten des Kalten Krieges von bayerischer Seite einen freien Blick zu haben auf den abgesperrten Teil Deutschlands. Nun wartet die Warte inmitten dahinsterbender Fichtenwälder auf einen neuen Sinn. Auch diesen Turm hat die Baufirma von Franz Itting errichtet. Vielleicht konnte er dann von dort oben beobachten, was mit seinem „Haus des Volkes“ passiert, das so nah vor ihm lag, und für ihn doch unerreichbar war.

 

Distanz: 16,5 Kilometer, 24.000 Schritte

Begegnungen mit Wanderern: 1

Jäger-Hochsitze am Weg: 6

Alle Texte aus meinem Wandertagebuch #Grenzerfahrung finden Sie hier.

Im Text sind Weiterleitungen zum Grenzbahnhof-Museum Probstzella, zum Haus des Volkes und zu Franz Itting und zur Thüringer Warte verlinkt.

Tag 6: Deutsche Überraschungen im Niemandsland

Tag 6 (19. März 2025)

Von Ottendorf nach Probstzella

Der Weg entlang der innerdeutschen Teilung ist über weite Strecken absolutes Niemandsland. Die spektakuläre Einsamkeit, durch die ich mich bewege, ist geprägt durch Stille; meine Schritte machen hier das Ereignis. Damit scheuche ich den Greifvogel auf, der erschreckt davonfliegt, oder die Rehe, die hier seit Tagen keine Störung ihrer Ruhe mehr erfahren haben. Nun fliehen sie den Hang hinauf, hinein in den schützenden Wald, der allerdings krank und schütter ist.

In dieser Abgeschiedenheit wird jedes Geräusch zum Konzert. Der Gesang ferner Motorsägen, das Rauschen einer fernen Straße, oder das Rascheln der noch winterlich kahlen Zweige in einer aufkommenden Windböe, vom Städter zunächst als herannahendes Fahrzeug missdeutet. Aber nein, da kommt nichts, „in dürren Blättern säuselt der Wind, sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind,“ beschwichtigt der Vater in Goethes „Erlköng“.

Es ist keine Furcht, die mich begleitet. Längst schon lauern die Räuber nicht mehr im Wald, sondern eher in den Schluchten der Städte oder in der Arglosigkeit, mit der Menschen zum Opfer von Telefonbetrügern werden. Hier ist nichts zu befürchten, außer vielleicht das eigene Versagen, ein Beinbruch, eine Herzattacke. Immerhin: Meistens hat das Handy Netz, mit dem ich Hilfe rufen könnte, wenn es denn nötig wäre. Aber ob sie mich finden würden?

Ein Tor im Nichts: Mitten im Wald, uneinsehbar, gesichert durch den Todesstreifen, der hier eine Lücke hatte, diente die Agentenschleuse der DDR dazu, Spione in den Westen zu entlassen.

Dann plötzlich zwei Ereignisse am Weg, unmittelbar nebeneinander. Mitten im Gestrüpp ein offenes Tor neben dem Kolonnenweg. Ein letzter Rest des Sperrzauns, der hier einmal stand. Ein Loch in der Mauer, gewissermaßen. Eine Tafel erklärt: An dieser Stelle entließ der Arbeiter- und Bauernstaat seine Spione Richtung Westen, mitten in der Wildnis, uneinsehbar. Nur wenige Geheimnisträger wussten: Hier liegen keine Minen im Todesstreifen, hier ist die eine, geheime Lücke in den Selbstschussanlagen. Der Zaun ist längst weg, das Tor in den Westen rostet als historisches Monument vor sich hin.

Und wenige Meter weiter: Ein Plastikschild warnt vor Videoüberwachung. Wie bitte, hier? Tatsächlich, den Weg haben zwei Wildkameras im Visier. Wissenschaftliche Zwecke, Bestandserfassung gefährdeter Tierarten. Das „Kompetenzzentrum Wolf Bieber Luchs“ benennt Verantwortliche und Rechtsgrundlagen akribisch paragrafengenau und versichert, dass mein Bild, würde es denn auftauchen zwischen den Wölfen, Biebern und Luchsen, unverzüglich gelöscht würde. Ich bin keine gefährdete Tierart. Datenschutz im Niemandsland. Immer muss alles seine Richtigkeit haben in Deutschland, damals wie heute.

Alles muss seine Richtigkeit haben in Deutschland: Datenschutz im Niemandsland.

Distanz: 15,2 Kilometer, 21.300 Schritte

Begegnungen mit Wanderern: keine, aber vier freundliche Menschen, die mit dem Auto zum Grenzturm bei Probstzella herangefahren kamen.

Jäger-Hochsitze am Weg: 13

Alle Texte aus meinem Wandertagebuch #Grenzerfahrung finden Sie hier.

 

Das Richtige im Falschen – oder umgekehrt?

Mit Theodor Adorno auf der Suche nach einer Zweidrittelmehrheit

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Man dürfe sich nicht davon abhalten lassen, das Richtige zu tun, hat Friedrich Merz wenige Wochen vor der Wahl gesagt, und zwar auch dann, wenn die Falschen zustimmen. Damals ging es um schärfere Regeln für die Einreise von Asylsuchenden nach Deutschland, für die er die Zustimmung der Rechtsextremisten in Kauf nahm.

Es sei besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren, hat im Jahr 2017 Christian Lindner gesagt, als er begründete, warum die FDP die Rolle der Opposition wählte. Aber war das, was dann kam, nämlich eine Koalition aus Union und SPD wirklich falsch? Nach dem Ampel-Aus sehnt sich knapp die Hälfte der Deutschen genau wieder nach dieser Konstellation, finden sie richtig, während die dauerstreitende Scholz-Koalition mit Beteiligung der FDP die unbeliebteste Regierung in der Geschichte der Bundesrepublik war – also wohl falsch.

Nun aber macht nach der Wahl zumindest die Union eine Politik (nämlich viele neue Schulden), die sie noch vor wenigen Tagen als grundfalsch beschimpft hat. Dafür braucht sie die Zustimmung der SPD und der Grünen, die genau das im Wahlkampf gefordert hatten. Was genau ist nun richtig, und was ist falsch?

Von einem klugen, komplizierten Text …

Der deutsche Philosoph Theodor W. Adorno (1903 – 1969), Grafik von von Leandro Gonzalez de Leon via Wikimedia

Ein kluger, aber auch komplizierter Text dazu lässt sich im Internet abrufen. Es ist ein sprödes, engbuchstabiertes Dokument mit mehr als 150 Kapiteln, und der Abschnitt, um den es in der richtig/falsch-Frage geht, trägt die Ziffer 18. Er umfasst ziemlich genau eine Schreibmaschinenseite (wie man früher gesagt hätte, aber Schreibmaschinen gibt es nicht mehr). Der deutsche Philosoph und Soziologe Theodor Adorno hat ihn als Teil seines Werkes „Minimal Moralia“ verfasst. Die wenigsten kennen diesen Text, aber fast alle seinen letzten Satz: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“

Die 150 Überlegungen Adornos zur „kleinsten Ethik“ sind schwere Kost – und damit vielleicht gut geeignet als Symbol für die heutige Zeit. Geschrieben hat er sie im amerikanischen Exil, mit entsetztem, angewiderten Blick auf die moralischen und realen Verwüstungen, die Nazis und der Zweite Weltkriegs in seiner Heimat Europa angerichtet haben. Adorno beschreibt unter Ziffer 18 die Unmöglichkeit, unter diesen Umständen überhaupt zu wohnen – er sucht im übertragenen Sinne „Asyl für Obdachlose“. So ist der Text überschrieben und er trieft vor Pessimismus. Mit einfachen Worten könnte man die ungleich tiefgründigeren Überlegungen Adornos so zusammenfassen: Es ist unmöglich, mit gutem Gewissen zu wohnen. Die meisten Häuser seien ohnehin zerstört, und wer noch über eines verfügt, kann zwar das Grauen der Wirklichkeit mit kunstgewerblichen Schnörkeln zukleistern – aber dann lebt er eben im Falschen, und darin gibt es kein richtiges Leben.

… blieb nur der letzte Satz in Erinnerung

Das vollkommen trostlose Umfeld nach den Verbrechen und Verwüstungen des Weltkrieges ist nicht vergleichbar mit den heutigen Lebensumständen in Deutschland. Dennoch dominiert auch hierzulade jetzt Pessimismus. Viele Deutsche blicken skeptisch in die Zukunft. In einer Wahl haben die Parteien, die ein eher negatives Gesamtbild der deutschen Lage zeichneten, obsiegt gegenüber beispielsweise einer Kampagne, die auf dem Versprechen von „Zuversicht“ basierte. Auch in anderer Hinsicht ist der Text Adornos, der zum berühmten Zitat führt, symptomatisch für das Denken und Handeln dieser Tage: Er ist so kompliziert, sperrig, widrig, wie das kaum entwirrbare Geflecht aus Wirtschaftskrise, Kriegssorgen, Geldnöten und den Unflätigkeiten im Oval Office – wer will sich damit schon beschäftigen? Und so bleibt eben nur der letzte Satz in Erinnerung – jenseits des Zusammenhangs, in einem jederzeit anwendbaren Sinne. Theodor Adorno wollte ganz sicher keinen Kalenderspruch schaffen, als er niederschrieb: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“.

Kann nach wenigen Tagen richtig sein, was vorher falsch war?

Auch diese Zeilen hier sind eine solche ungefragte Aneignung der sechs Worte Adornos. Gibt es „richtige Politik“ durch eine „falsche Regierung“? Gestritten wird ja nun in der politischen Mitte des Landes weniger darum, ob es richtig ist, Milliardenschulden aufzunehmen, um Rüstung einzukaufen und Brücken, die Bahn und die Schulen zu sanieren. Gestritten wird vor allem über den Positionswechsel der Union, die nun auf einmal als richtige Politik das machen möchte, was sie vor wenigen Tagen noch als falsch bezeichnet hatte, und zwar nun mit Hilfe derer, die es immer schon richtig gefunden hätten.

Und umgekehrt: Wie glaubwürdig würde eine grüne Partei handeln, wenn sie nun ihre notwendigen Dienste für eine Politik verweigern würde, die sie im Wahlkampf als richtig versprochen hatte? Die Grünen wurden für dieses Versprechen beschimpft und dezidiert nicht gewählt – sollen nun aber für die notwendige Zweidrittel-Mehrheit sorgen.

Die fachlichen Fragen zu „richtig“ oder „falsch“ in diesem Zusammenhang seien hier einmal nur erwähnt, nicht erörtert. Wie wirken weitere Schulden volkswirtschaftlich? Ist die sprunghaft steigende Schuldenlast verantwortbar für nachfolgende Generationen? Aber auch: Dürfen wir unseren Staat wehrlos ausliefern der Aggression des Nachbarn?  Sind bröckelnde Brücken, Schlaglöcher und marode Gleise nicht auch eine Schuld, die wir unseren Kindern und Enkeln aufladen würden?

Oder war eben das Falsche schon immer richtig?

Für Friedrich Merz war die politische Position von SPD und Grünen solange falsch, solange er noch keine Regierung bilden musste. Nun aber findet er sie offenbar teilweise richtig. Für die Grünen ist Friedrich Merz definitiv der falsche Kanzler, aber seine Politik ist (jedenfalls in der Schuldenfrage) auch für sie grundsätzlich richtig. Deshalb werden sie ihr wohl am Ende zur nötigen Zweidrittelmehrheit verhelfen.

Es scheint gerade so, als gäbe es vielleicht doch das Richtige im Falschen, vor allem, wenn die Falschen es für richtig halten.

 

Alles über Theodor Adorno finden Sie hier. 

Weitere Texte als #Politikflaneur finden Sie hier. 

 

 

 

In der großen Schule des Zuhörens

Mit zehntausend Anderen bei Ludovico Einaudi

Einer spielt – tausende hören zu. Ludovico Einaudi in der ausverkauften Stuttgarter Schleyerhalle.

Die Herausforderung des Zuhörens wird immer größer. Nicht nur, weil es immer mehr zu hören gibt, sondern auch, weil – genau deshalb – die allgemeine Bereitschaft zum Zuhören sinkt. Die Aufmerksamkeitsspannen reduzieren sich, gesellschaftlich wie individuell, und wir trainieren unser Gehirn immer mehr darauf, nach kürzester Zeit umzuschalten auf den nächsten Kanal. Wir zappen uns durch das Denken und Hören. Dabei kommt das Zuhören unter die Räder, also das pure Hinhören, nicht mitreden, nicht überlegen, was dagegenspricht, nicht an die abgelaufene Parkuhr denken oder an die nächste U-Bahn, die man noch erreichen könnte – sondern einfach: Zuhören.

Nun gibt es besondere Nischen des Zuhörens: Wer beispielsweise in ein klassisches Konzert geht, richtet sich aufs Zuhören ein. Dennoch ist auch dort das geräuschlose Zuhören schwerer als erwartet: Da kommt ein Hustenreiz hoch, dort muss ausgerechnet an den leisen Stellen doch schnell raschelnd ein Bonbon herausgekramt werden, hier fällt plumpsend das Programmheft herunter. Und jedes dieser störenden Geräusche lenkt wieder zig andere Zuhörende vom Zuhören ab, aktiviert Spiegelneuronen und Erinnerungen: Muss ich vielleicht auch gleich husten?

Dass es unter Menschen einfach einmal Stille gibt, um zuzuhören, ist ein nicht selbstverständlicher Glücksfall.

Wo so viele zusammenkommen, wird es rascheln und krächzen

Im mächtigen, allseits herbeieilenden Menschenstrom nähert sich auch der Kulturflaneur der großen Veranstaltungshalle, die für ein Konzert mehr als Zehntausend seinesgleichen aufnimmt. Wo so viele zusammenkommen, wird es unvermeidlich rascheln und rauschen, zappeln und krächzen, tuscheln und husten. Sie alle haben viel Geld bezahlt, um dabei sein zu können, wenn der fast siebzigjährige italienische Komponist und Pianist Ludovico Einaudi eines seiner eher seltenen Live-Konzerte gibt. Mächtige Lautsprecher drohen links und rechts von der Bühne, und beruhigen auch: Sie werden die Töne des Künstlers so verstärken, dass es auf ein einzelnes Räuspern gewiss nicht ankommen wird.

Und doch wird der Abend – neben dem musikalischen Eindruck – vor allem eine Schule darüber, dass auch in den zappeligen Zeiten, die wir durchleben, das pure Zuhören möglich ist. Da kommen sehr viele Menschen zusammen, zahlen viel Geld, um zuzuhören – nicht mitzutanzen, nicht mitzusingen, nicht zu schunkeln oder zu lachen, nicht zuzustimmen oder zu widersprechen, nicht zu pöbeln oder zu jubeln. Sie kommen nicht wegen einer spektakulären Bühnenshow, und keine Handylichter werden geschwenkt werden. Sie kommen, um sich überwältigen zu lassen durch einfaches Zuhören.

Der Meister geizt mit den Worten. Die Musik soll sprechen.

Ludovico Einaudi – Foto bereitgestellt von Konzertagentur Karsten Jahnke

Einaudi geizt mit den Worten. Keine fünf ganzen Sätze fallen; er begrüßt nach zwanzig Minuten die Zuhörenden, er bedankt sich zwischendurch höflich und stellt später seine Musikerinnen und Musiker vor. Mehr nicht. Die Musik soll hier sprechen, und das Publikum soll zuhören. Eher meditativ sind anfangs die Klänge, basieren auf leisen Akkorden. Einaudi verzaubert sie, variiert sie mit häufigen Wiederholungen, bis sie sich steigern in gewaltiger Wucht und einmünden in ein Stampfen und Toben, das die ganze Halle in Schwingung versetzt. In solchen Momenten gibt der Meister am Klavier den Einpeitscher, und die ihn begleitenden Streicher, das Schlagwerk, das Akkordeon – sie alle gleichen dann den Sklaven in römischen Galeeren, die auf ihre Stühle wie gefesselt im Rhythmus durch die Töne rudern, bis ein Mehr an Wucht nicht mehr möglich scheint, bis der pulsierende Takt sich ausgelebt hat. Ein Handwink von Einaudi gibt das Signal zum abrupten Schluss. Dann entlädt sich auch die Anspannung der Zuhörenden, die vom Spektakel der Töne überwältigt, ihr Glück kaum fassen können, nun endlich klatschen zu dürfen.

„Neoklassik“ nennt sich diese Musik

„Neoklassik“ nennt sich diese Art von Musik, minimalistisch, auf die eingängige Wirkung bedacht – und daher unter Musikfreunden nicht unumstritten. Aber was ist schon unumstritten? Immerhin beweist der Abend: Es geht also noch, das Zuhören. Es ist möglich, und zwar nicht nur für eine kleine, gesittete, vielleicht auch so gebildete wie eingebildete Minderheit, die sich Zeit und Raum nimmt, zuzuhören – in edlen Konzerthallen, in prunkvollen Opernhäusern oder in kleinen Zirkeln im Literaturhaus.

Es geht auch in der großen Masse, wenn Tausende zusammenkommen. Es geht ohne Worte, einfach nur für die Töne. Es geht, Menschen dazu zu bringen, zuzuhören. Es muss eben das ein Glück begründen, was es zu hören gibt.

 

Ludovico Einaudi ist zur Zeit auf Tournee. Einige Konzerte in Deutschland gibt es noch im März und im Juni. 

Weitere Eindrücke als #Kulturflaneur fin den Sie hier. 

 

 

 

Der Winterdemokrat im Wahlkampf

Wie man die fröstelnde Demokratie wärmen kann – Ein Erfahrungsbericht

Es ist kalt in Deutschland, und die Demokratie friert. Ein US-Vizepräsident kommt von draußen herein, pöbelt herum und hat noch dazu die Tür offengelassen, durch die jetzt die Schneeflocken stöbern. Eine Frau mit Perlenkette, die sich „Kanzlerkandidatin“ nennt, wird von ihm empfangen und verbreitet ungestört ihre gefühlskalten Botschaften in immergleichen Fernsehformaten. Es ist zum Frösteln.

Vor der Wahl steht der Wahlkampf. Dieses Jahr hatten die Engagierten der politischen Parteien mit der Kälte zu kämpfen. Es war kalt in Deutschland, und die Demokratie muss frieren. Bild von Vilius Kukanauskas auf Pixabay

Als der Winterdemokrat morgens am Samstag, eine Woche vor der Wahl, aus dem Bett schlüpft und durch das Fenster blickt, rieseln Schneeflocken vom Himmel. Nicht große, nasse Flocken, sondern winzig kleine Kristalle, Pünktchen nur, die die kalte Luft in gleichmäßigen Linien durchschneiden. Er blickt auf das Thermometer, das am Fensterrahmen angebracht ist: null Grad.

Üble Bilder von andersdenkender Gewalt

Gestern noch war die Kälte im Fernsehen zu sehen: Üble Bilder von zerstörten Wahlplakaten, zertrümmerte Informationsstände, Parteibüros, die geschützt werden müssen vor andersdenkender Gewalt. Wie schön wäre es, ins warme Bett zurückzukehren, statt sich solchen Gefahren auszusetzen?

Aber der Winterdemokrat zieht sich an, freiwillig, aus Überzeugung, ohne eigenen Gewinn. Wie schon am letzten Samstag holt er die wärmste Hose aus dem Schrank, sucht den dicksten Pullover heraus, Anorak drüber, Schal um den Hals. Schnell etwas frühstücken. Dann die Mütze mit dem Parteilogo auf die Ohren, und Handschuhe steckt er auch ein. Es ist kalt in Deutschland, und es gilt, die Demokratie zu wärmen.

Nach zehn Minuten bereit dafür, dass die Demokratie nicht erfriert

Die Wochenendstadt erwacht, während der Winterdemokrat seinen Stand aufbaut. Das Klapptjschchen fixiert, einen Sonnenschirm als Blickfang, denn gegen die Sonne bedarf es keines Schutzes, wenn die Schneekristalle rieseln. Ein paar Prospekte, ordentlich drapiert, ein paar Bonbons, Stifte, die vom letzten Wahlkampf übriggeblieben sind. Wird niemandem auffallen. Keine zehn Minuten braucht der Winterdemokrat, um sich bereit zu machen dafür, dass die Demokratie nicht erfriert.

Und keine drei Minuten vergehen, bis der erste Wähler mit Anorak und Mütze von sich aus unter den winterlich umgedeuteten Sonnenschirm tritt: „Euch wähl ich nicht“, bruddelt der alte Mann durch die dampfende Atemluft. „Das ist doch ohnehin alles Betrug, die Politiker machen doch sowieso alle, was sie wollen.“ Ein wenig Übung hat der Winterdemokrat inzwischen im Umgang mit solchen Gästen. Humor hilft, hat er gelernt. „Ich?“, grinst er den Alten an, „ich habe Sie noch nicht betrogen.“ Wie auch, weder hat er ein Amt, noch eine Funktion, die das ermöglichen würde. Er steht hier doch einfach, weil die Demokratie nicht erfrieren darf in diesen frostigen Zeiten. „Ja, Sie nicht“, räumt der Alte ein, „aber die anderen alle.“ Nun, von der eigenen Partei überzeugen wird man diesen Wähler nicht. „Wenigstens wählen gehen, bitte!“ fordert der Winterdemokrat auf, und der Alte nickt. „Mach ich.“

Wer die Demokratie wärmen will, muss sich mit wenig zufrieden geben

Immerhin. Wer die Demokratie wärmen möchte, muss sich mit wenig zufriedengeben. Und darf nicht warten, bis er gefragt wird. Er muss aktiv werden. „Bitteschön, für die Bundestagswahl!“ Viele nehmen den angebotenen Faltprospekt der örtlichen Kandidatin, manche nicht. „Hab´schon gewählt!“, triumphieren die Briefwähler, und der Winterdemokrat fühlt einen schwachen Wärmeschwall. Wenigstens das.

„Nein, von Euch sicher nicht“, weisen Andersdenkende das Angebot brüsk zurück. Manche nehmen wortlos den Flyer und der Winterdemokrat blickt ihnen hinterher: Landet er gleich im nächsten Papierkorb? Nein, er landet in der Einkaufstausche. Zufrieden.

Nach der ersten Stunde zieht die Kälte durch die Schuhsohlen

Nur wenige wollen wirklich sprechen. Meistens dominieren gesittet vorgetragene Vorurteile: „Ihr schmeißt doch nur das Geld für Eure Privilegien heraus!“ Oder: „Ihr wollt doch sowieso nur, dass alles noch schlimmer wird.“ Oder rätselhafte Logiken: „Ich bin voll Eurer Meinung da, und da, und da auch, aber ich wähle trotzdem anders.“ Warum? „Weil ich Euch eben nicht mag, auch wenn ich oft Eurer Meinung bin.“ Immer wieder auch freundliche Zustimmung: „Euch wähl ich sowieso“, ein Lächeln, und dann „Danke, dass Ihr Euch engagiert“.

Die meisten Gespräche wärmen, aber nach der ersten Stunde zieht die Kälte im Land durch die dicken Schuhsolen. Flyer verteilen mit Handschuhen ist nicht einfach, also besser in Kauf nehmen, dass die Finger frösteln. Da kommt vom Marktstand gegenüber eine Frau herüber. „Mei,“, ruft sie, „Ihr seid ja wirklich tapfer bei der Kälte! Mögt Ihr einen Kaffee zum Aufwärmen?“ Und tatsächlich, sie bringt zwei Becher des warmen Gebräus herüber. „Das seid´s Ihr mir Wert, auch wenn ich Euch nicht wählen werd´.“

Ablehnung, ja. Zustimmung, auch

Durch den Pappbecher wärmt der Kaffee für ein paar Gespräche mehr. Nach zwei Stunden ist Schluss. Schneefall hat wieder eingesetzt. Die Passanten suchen Schutz vor der Kälte im noch schnelleren Vorbeihetzen. Der Winterdemokrat packt den Infostand zusammen. Zu viele Flyer bestellt für einen kurzen kalten Wahlkampf. Immerhin: Nichts zu spüren von der Endzeitstimmung, die mit Eiseskälte durch die Medien peitscht. Nicht die Spur von Gewalt an diesem kalten Vormittag, auch nicht verbal. Andere Meinungen, ja. Ablehnung, ja. Zustimmung, auch.

Es mag der Demokratie eiskalt sein im Land. Aber man kann sie wärmen.

 

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Trump, Merz und der Fosbury Flop

Fortschritt und Disruption: Was Politik vom Hochsprung lernen kann

Der amerikanische Hochspringer Dick Fosbury galt als talentierter Athlet, war eher ein Einzelgänger, trainingsfaul und verkopft. Er interessierte sich sehr für Physik und spürte bei jedem Sprung dem kurzen Moment des Gefühls von Schwerelosigkeit nach. Von seinen Trainern ließ er sich nur wenig sagen. Dann aber, am 20. Oktober 1968 in Mexiko führte er der ganzen Welt vor, was er im Hochsprung unter Fortschritt verstand – und gewann damit die Goldmedaille der Olympischen Spiele. Der Fosbury Flop war geboren, eine Disruption, eine radikale Veränderung der Sprungtechnik, nicht mehr mit dem Bauch oder den Beinen über die Latte, sondern flach liegend mit dem Rücken. Anfangs wurde gelacht, aber innerhalb weniger Monate setzte sich die neue Technik weltweit durch.

Im Liegen über die Latte fliegen: Mit einer disruptiven Veränderung hat 1968 Dick Fosbury mit seinem Olympiasieg den Hochsprung verändert. Es war eine radikale Disruption. Funktioniert das auch in der Politik? Bild von OpenClipart-Vectors auf Pixabay

So also kann Fortschritt funktionieren: Das Alte betrachten, nachdenken, es schrittweise verbessern – oder auch mit einem radikalen Eingriff, einer grundlegend neuen Vorgehensweise, die das Alte über Bord wirft. „Fortschrittskoalition“ hatte sich in ihren Anfangsstunden jene deutsche Regierung der „Ampel“-Parteien genannt. „Mehr Fortschritt wagen“, so war der Koalitionsvertrag überschrieben. Gemeinsam wolle man „die Dinge vorantreiben und damit auch ein ermutigendes Signal in die Gesellschaft hinein setzen: dass Zusammenhalt und Fortschritt auch bei unterschiedlichen Sichtweisen gelingen können“. Wer möchte, kann sich auf YouTube noch heute die Bilder von den ersten Tagen dieser Regierung ansehen: Ein Minister auf dem Fahrrad, die Ernennungsurkunde auf den Gepäckträger gespannt, eine Außenministerin, die mit dem Zug von Paris nach Brüssel fährt und ein Kanzler Scholz, der sich (im gleichen Film) Hoffnung auf kooperatives Zusammenwirken in den nächsten Jahren des gemeinsamen Regierens macht.

Fortschritt als Leitmotiv: Nicht alles anders, vieles besser

Das ist ja nun gründlich danebengegangen. Was ist misslungen? Es könnte sich lohnen, dem Fortschritt als Leitmotiv nachzuforschen, verspricht er doch immerhin eines: Es soll vorwärts gehen, der Zukunft zugewandt, das Bessere suchen, nicht das Vergangene wiederherstellen. Vor drei Jahren wollte die in Deutschland regierende „Ampel“ den Fortschritt stückchenweise erreichen, nicht „alles anders, sondern vieles besser machen“ (wie Altkanzler Schröder einmal nach der Ära Kohl sagte).

Solche Geduld ist offensichtlich aus der Mode geraten. Die Bilder aus den USA, die den frisch wieder im Amt befindlichen Donald Trump zeigen, wie er stapelweise „Executive Orders“ unterscheibt, haben auch hierzulande Eindruck hinterlassen. Endlich soll Schluss sein mit dem mühsamen Palaver, vorbeisein soll das langweilige Warten auf „echte“ Veränderungen. Stattdessen: Disruption. Trump macht es vor: Ein radikaler Eingriff, eine Unterschrift, eine Anweisung, zack – und die Sache ist geändert.

„Am ersten Tag meiner Amtszeit“, sagt nun also Friedrich Merz, „werde ich anweisen, dass an den Grenzen alle Versuche illegaler Einreisen ausnahmslos abgewiesen werden.“ Es soll sich also endlich etwas ändern, wenn der neue Kanzler im Amt ist, und zwar von einem Tag auf den anderen.

Eine Unterschrift und zack, die Sache ist geändert?

Allerdings ist zu erwarten, dass sich erstmal gar nichts ändert. Illegale Einreisen nach Deutschland sind schon jetzt verboten. Wer an der Grenze Asyl beantragt, reist nicht illegal ein, sondern nutzt europäisches und deutsches Recht. Gewiss kann man den Umgang damit verändern, vielleicht sogar mit Polizeigewalt das Überschreiten der Grenze verhindern. Abgesehen davon, was das bei Deutschlands Nachbarn auslöst – was genau soll geschehen, wenn der illegal Einreisende eine Wanderung ein paar hundert Meter nach links oder rechts des offiziellen Grenzübergangs macht? Zäune? Wasserwerfer? Schusswaffen?

Mit den so spektakulär unterschiebenen Orders des amerikanischen Präsidenten verhält es sich ähnlich. Zwischen der Unterschrift vor Fernsehkameras und der Umsetzung liegen lange Wege, rechtliche Hindernisse, Prozesse und föderale Widerstände. Es fühlt sich an wie eine Disruption, aber es ist keine wirkliche Veränderung, sondern eine effekthascherische Showeinlage.

Disruptionen gegen den Fortschritt

Dick Fosbury wollte den Fortschritt. Er erdachte den nach ihm benannten Flop, weil er höher springen wollte als die Konkurrenz mit ihrer althergebrachten Technik. Die Trumps und Musks – und in ihrem Gefolge die deutschen Konservativen, wollen nicht den Fortschritt. Ihre Disruptionen sollen uns dorthin zurückführen, wo wir herkommen: Wiedereinführung der Kernkraft (ohne Klärung der Frage des Atommülls), das neue Wahlrecht rückgängig machen (also wieder einen XXL-Bundestag zulassen), zurück zu Diesel und Benzin (also Abschied von den Klimazielen), das sogenannte „Heizungsgesetz“ aufheben (obwohl sogar die betroffenen Lobbyorganisationen dies kritisch sehen). Die Rechtsradikalen wollen gar die „Windmühlen der Schande“ absägen, die FDP mehr Milei (Kettensäge) und Musk (Hitlergruß) wagen. Sollen das die Veränderungen sein, die uns in die Zukunft führen?

Die konservative Seite der Politik argumentiert nicht mehr erhaltend und entwickelnd, wie es ihre Aufgabe im politischen Diskurs wäre, sondern radikalverändernd rückwärtsgewandt.  Und sie hat sich verliebt in die neue Ästhetik der Schein-Disruption: Nicht lange diskutieren, lieber schnelles Ändern – oder es wenigstens so aussehen lassen. Der Soziologe Armin Nassehi hat in einem Interview in der Süddeutschen Zeitung dies als „Disruptive Kontinuität“ bezeichnet. Man müsse im politischen Wettbewerb heute mehr Kausalität zwischen Handlung und Wirkung vorspielen, als fachlich haltbar ist.

Der Fortschritt will erarbeitet sein, mühsam, Stück für Stück

Will heißen: Erfolgreich sind im Zeitalter der Sozialen Medien solche Politiker, die dem Volk erzählen: Nach der Wahl mache ich erstens, zweitens, drittens – und dann ist alles wieder so wie vorher: Keine Mordüberfälle mehr, die Arbeitsplätze alle sicher, die Wohnungen billig und die Bahn pünktlich. Und nach Amtsantritt machen sie erstens, zweitens, drittens, unterzeichnen wirkungslose Absichtserklärungen und Anweisungen von fraglichem rechtlichen Bestand – aber bestens sichtbar für die Kameras, millionenfach geteilt hinein in das zufriedene Wahlvolk. Nichts wird sich dadurch ändern: Der nächste Anschlag durch einen psychisch Kranken wird uns ereilen, die Konjunktur erholt sich nicht von heute auf morgen, die Miete bleibt gleich hoch, und der lästige Personenschaden auf den Gleisen sorgt noch immer für Verspätungen.

Und ein paar Jahre später dann das gleiche Spiel. Bis wir es gelernt haben, dass wir wohl die Geduld werden aufbringen müssen, uns den Fortschritt zu erarbeiten, mühsam, Stück für Stück. Dick Fosburys Sprung war eine Disruption – aber vorher hat er jahrelang dafür trainiert.

 

 

Eine gute Zusammenfassung der Geschichte von Dick Fosbury, die ich auch als Informationsgrundlage für meinen Textes genommen habe, findet sich in der Neuen Züricher Zeitung vom 14.4.2020, der online gebührenfrei verfügbar ist.

 

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Friedrich, der Zaubergeselle

Die Geschichte vom Zauberlehrling – und die bösen Besen von heute

Friedrich ist kein Zauberlehrling, er ist ein alter Zaubergeselle. Schon seit vielen Jahren. Nun will er die Meisterprüfung ablegen – endlich. Der alte Geselle hat viel mehr Erfahrung als jeder andere Lehrling im Berliner Zauberbetrieb, und gerade deshalb darf ihm nicht passieren, was man einem Lehrling vielleicht noch verzeihen könnte.

Der Zaubergeselle – bald ein Meister? Foto: CDU/Tobias Koch (www.tobiaskoch.net)

Die Geschichte vom Zauberlehrling ist eine wunderbare Parabel von Meisterschaft und Dilettantismus, vom Unterschied zwischen Schläue und Klugheit. Johann Wolfgang von Goethe hat sie im Jahr 1797 in einer Ballade erzählt: Ein Zaubermeister ist außer Haus gegangen, und sein Lehrling hat keine Lust, das Wasser, das er benötigt – wofür auch immer -, selbst vom Fluss zum Haus herauf zu schleppen. Also befielt er mit dem abgehorchten Zauberspruch des Meisters dem Besen, ihm das Wasser zu holen. Und die Sache funktioniert: Eimer um Eimer wuchtet der Besen heran, bald ist es mehr als genug – und da erst fällt dem Lehrling auf: Er kannte zwar das Wort, das den Besen in Bewegung setzt, nicht aber jenes, das ihn wieder davon abbringt.

Der Zauberlehrling hatte das Ende nicht bedacht

Die Wasser ergießen sich bereits über das ganze Haus, und in seiner Verzweiflung greift der Lehrling zur Axt, will den Besen zerschlagen und spaltet ihn in zwei Teile. Dieser brutale Eingriff aber macht alles nur noch schlimmer. Nun hat sich der Besen verdoppelt und zwei seiner Art schleppen immer noch mehr Wasser herbei. Dann endlich, in allerhöchster Not, erscheint der Meister. Wenige, aber richtige, Worte von ihm genügen, um dem Spuk ein Ende zu bereiten. Der Lehrling bleibt bedröppelt zurück, die Grenzen seines Könnens waren ihm höchstpersönlich vorgeführt worden. Er war schlau gewesen – aber nicht klug. Sein größter Fehler: Er hatte das Ende nicht bedacht.

Friedrich bringt vieles dafür mit, was ihn zum Meister gereichen könnte: Er hat Erfahrung und Anstand, er scheut keine Verantwortung, er ist mutig, redegewandt. Er begegnet Mitmenschen und auch Andersdenkenden meistens mit Respekt – vielleicht weniger in seinen manchmal scharfzüngig gewählten Worten, aber immerhin dann, wenn er ihnen unmittelbar gegenübersteht. Friedrich ist oft ein wenig steif und altmodisch, aber er ist rechtschaffen. Und er war glaubwürdig. Mit überzeugendem Tremolo hatte er selbst es verlangt: Niemals dürfe ihm oder sonst wem der Besen zu Hilfe kommen, niemals würde er es zulassen, dass der Besen darüber entscheiden könne, ob eine Sache obsiegt oder nicht.

Ein Hologramm wollte er aufscheinen lassen

Es sah also ganz danach aus, als habe er sich nun endlich die Würde für den Meistertitel erarbeitet. Dann aber kam jener Moment des unüberlegten und ungeduldigen Übermuts, in dem Friedrich den kurzfristigen Erfolg haben, ein fadenscheiniges Symbol von Handlungsstärke in die Welt setzen wollte. Ein Hologramm wollte er aufscheinen lassen von angeblich notwendiger Veränderung.

Dafür ließ Friedrich zu, dass der Besen ihm das Wasser reichte. Er tat, wie ihm geheißen, er spaltete sich gleich mehrfach auf und holte Stimmen herein. Während Friedrich noch zufrieden das Ergebnis seines durchscheinenden Werkes betrachtete, hörte der Besen nicht mehr auf ihn. Am Rednerpult des hohen Hauses verhöhnte der Besen seinen unüberlegten Kommandeur: Da säße der Geselle jetzt mit schlotternden Knien, spottete er, da wäre es doch besser, wenn er sich gleich der neuen Herrschaft der Besen anschließen würde, falls er dazu noch die Kraft habe.

Das Richtige mag er gewollt haben, aber was hat er verloren?

„Die ich rief, die Geister, werd´ ich nun nicht mehr los“, klagt bei Goethe der unbedachte Zauberlehrling. Auch Friedrich, der Zaubergeselle, klagt: Er habe doch mit dieser scheußlichen Besenschar nichts zu tun, die sich feixend in die Arme fielen, nachdem er ihre Hilfe zugelassen hatte. Man solle ihm doch bitte glauben, fleht er nun: Er habe nur das Richtige gewollt, da müsse doch jedes Mittel Recht sein?!

Das Richtige mag er gewollt haben, aber seinen wichtigsten Kredit hat er dabei verloren – die Glaubwürdigkeit, das Vertrauen in sein Wort. „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, selbst wenn er die Wahrheit spricht“, reimt der Volksmund. Der Zaubergeselle ist eben kein Meister, er hat das Ende nicht bedacht.

Bald ist Meisterprüfung

So tanzen nun die Besen durch das weite Land und durch das hohe Haus. Wer wird sie nun wieder zurück kommandieren können in die Ecke? Die weise Meisterin ist fort. Sie ist schon im Ruhestand. Auf ihren Ruf aus der Ferne hören die Besen schon lange nicht mehr. Und der Zaubergeselle selbst will sich von der Meisterin ohnehin schon lange nichts mehr sagen lassen.

Bald ist Meisterprüfung. Besteht der Zaubergeselle?

 

Den vollständigen Text der Ballade „Der Zauberlehrling“ von J.W.Goethe finden Sie z.B bei Wikipedia. 

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Die Staudamm-Hymne als Naturerlebnis

Über das Minimal-Music-Oratorium „Itaipu“ von Philipp Glass

Zwanzig Riesenturbinen (der Bus dient dem Größenvergleich) werden am Staudamm „Itaipu“ mit den Wassermassen des Rio Parana angetrieben, verwandeln die Kräfte der Natur in Energie für die Menschen. Wie lässt sich dieses Werk in Musik ausdrücken? (Foto: Wutzofant via Wikipedia)

Irgendwo aus dem Nichts kommt der Ton, der hier das Wasser ist, ein Rinnsal nur. Am Anfang aller Wucht stehen die unendlichen Tiefen von Raum und Zeit. Dann sind aufwachsend tastende Stimmen zu hören. Ein gemischter Chor raunt in fremder Sprache, bedeutungsschwanger und düster klingende Botschaften, und der Zuhörer ahnt ihre Tragweite, von der doch nichts zu verstehen ist. Es zwitschert in den Holzbläsern und brummt in den Bässen, und schon bald wuchten sich Metall und Schlagwerk zu wachsender Dominanz auf, die Wasser werden mehr und schwellen an, werden zum Strom – und spätestens dann hat den Zuhörer diese Musik irgendwo zwischen Herz und Hirn und Ohr gepackt, hat ihn gefangen genommen – oder es wird ihr nicht mehr gelingen in den gut 30 Minuten, die noch folgen.

Meditative Eintönigkeit erzeugt Spannung

Die Rede ist von Minimal Music, einem Genre der Klassik, das mit meditativer Eintönigkeit akustische Spannungen erzeugt, denen sich der Willige kaum entziehen kann oder möchte. Er lässt sich gefangen nehmen von diesem Wunder der stetig wiederholten und doch variierten Töne, die vorbeiziehen wie ein Band von Klängen, genau so lange, bis es langweilig zu werden droht. Und genau dann kommt eine Disruption daher, öffnet sich das Klangbild in einer neuen Überraschung.

Philipp Glass (hier in einer animierten Darstellung von Alvarezroure, CC BY-SA 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0>, via Wikimedia Commons).

Einer der ganz großen Gestalter dieser Musikrichtung ist der heute 87jährige US-Komponist Philipp Glass. Ein großes Werk hat er geschaffen, so minimalistisch im Ton, so mächtig in seiner Wirkung auf die Musikgeschichte. In seinem Stil ist Glass-Musik sofort erkennbar. Klavier- und Violinkonzerte sind Teile seines Schaffens, Filmmusik, Opern, und auch Sinfonien für großes Orchester. Ein solches wird benötigt für das – vermutlich wegen des erheblichen Aufwandes selten aufgeführte – Oratorium „Itaipu“ über einen – Achtung! – Staudamm. Jawohl, über einen Fluss und den Staudamm, der sich ihm in den Weg stellt.

Wer kennt nicht die in Noten gesetzten Gewitter von Vivaldi oder Beethoven?

Ob Musik Geschichten erzählen kann, Landschaften beschreiben, dabei vielleicht sogar politisch ist, darf umstritten bleiben. Es gibt Freunde der Musik, die genau das ablehnen. Davon unbeeindruckt beschreiben berühmte Werke der klassischen Musik Landschaften – jedem und jeder fällt Smetanas „Moldau“ ein. Und wer kennt nicht die in Noten gesetzten Gewitter von Antonio Vivaldi oder Ludwig van Beethoven? Mit Tönen kann man auch dem zweitlängsten Fluss Südamerikas, dem Rio Parana, folgen. Glass zeichnet symbolisch seinen Weg nach, beginnt an der eingangs bereits beschriebenen Quelle aus den Tiefen von Raum und Zeit, lässt das Gewässer musikalisch anwachsen, bis es sich zu einem gewaltigen See erweitert, dessen Fläche zweieinhalbmal so groß werden kann wie der Bodensee.

Nur dass die Wassermassen im süddeutschen Voralpenland auf natürlichem Wege die unter dem glatten Spiegel liegenden Abgründe füllen  – der Parana dagegen künstlich in seinem Streben Richtung Meer aufgehalten wird – mit Hilfe einer fast acht Kilometer langen Staumauer, die den Namen „Itaipu“ trägt, „Stein“ in der Sprache der Guarini, jenes Volkes, das hier siedelte. Zwischen 1973 und 1984 wurde der Damm errichtet und stemmt sich seither gegen die Wucht der Physik, ringt der Natur ihre Kraft ab. Glass hat dafür in geradezu enervierender Weise Töne gefunden – repetierend, beruhigend, erregend, abschwellend, sich dramatisch steigernd. Und schließlich werden auch in der Musik die Kräfte des Wassers hineingezwungen in den einzigen Ausweg, der ihnen bleibt. In das Mahlwerk der zwanzig riesenhaften Turbinen, die triumphierend das Ungestüme der Natur verwandelnd in Energie und pure Kraft. Dreiviertel des Strombedarfs des ganzen Staates Paraguay werden hier erneuerbar erzeugt, und immerhin 17 Prozent des Stromhungers Brasiliens gestillt.

Das Oratorium setzt ein Denkmal für die vertriebenen Guarini

Etwa 40.000 Ureinwohner mussten ihre Heimat verlassen, damit der gewaltige See entstehen konnte. Ihnen setzt Glass ein Denkmal mit seinem Oratorium „Itaipu“, denn es wird vom Chor in der Sprache der Guarini gesungen und es erzählt von ihrer Religion. Der Zuhörer bleibt ob des Textes und seiner Bedeutung ratlos zurück, selbst dann, wenn er eine ins Deutsche übersetzte Fassung vor sich liegen hat. Nichts in dieser Geschichte klingt an für unsere Welt, auch wenn es um eine Sintflut geht. Unverständlich fremd bleiben die Bilder und Gleichnisse, die hier ausgebreitet werden – und bald bleibt auch gar keine Aufmerksamkeit mehr übrig, um sich diesen Worten zu widmen. Die Töne, gerade auch die unverständlichen gesungenen, überströmen in anschwellender Kraft das Musikerlebnis, als könnte man die hier beschriebene Sintflut höchstpersönlich erleben.

Philipp Glass hat den Staudamm fünf Jahre nach seiner Fertigstellung selbst besucht und war fasziniert von der gewaltigen Kraft, mit der sich hier Beton und Stahl gegen die Natur stemmt, auch von der technischen Perfektion, mit deren Hilfe der ungestümen Natur Energie für den Menschen abgerungen wird. Ist dieses Werk politisch? Es würdigt die Sprache der verdrängten Menschen, es achtet ihren Glauben an die Überwindung einer Sintflut und setzt ihn in eine kluge Beziehung zur Einmischung des Modernen in ihre Heimat. Es ist eine musikalische Beschreibung, keine Kritik, eine Hymne für das überschwemmt Untergegangene, und ein Jubelgesang für die Kraft des Fortschritts.

Schließlich verrinnen die Töne wie das Wasser in der Weite

Dann, im vierten Satz, sind die Turbinen überwunden, und die geschundenen Wasser verlieren sich nach der Tortur der Energieerzeugung in der Weite des Meeres. Tropfen um Tropfen, Welle um Welle geht es hinaus, und auch der Chor hat nur noch ein breites, zigfach wiederholtes „Ahhh“ zu hauchen. So verrinnen die Töne wie das Wasser, das gerade noch durch die menschlichen Höllenmaschinen gezwungen worden war, mit seiner ganzen Kraft in der Größe der Schöpfung.

Dann ist es vorbei. Zurück bleibt ein noch nie gehörtes Naturerlebnis.

 

 

Das Oratorium „Itaipu“ in einem Konzertsaal zu erleben, ist ein seltenes Vergnügen. Ich hatte die Gelegenheit am 15. Januar 2025 bei einer Interpretation der Münchner Philharmoniker. Wer nicht abwarten möchte, findet das Werk auch hier in einer Aufnahme des Atlanta Symphony Orchestra mit Chor (Klick führt zu Youtube). 

Mehr über den Staudamm von Itaipu und über Philipp Glass jeweils bei Wikipedia.

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