Ich hasse Parkbank-Bilder – Ein offener Brief

Fotokritik zur Rentendebatte

Liebe deutsche Medien,

immer wieder tauchen sie auf, diese Bilder – in der Süddeutschen ist eines davon besonders beliebt, in der Tagesschau auch. Man kann auch eine Google-Suche nach diesem Bild starten und findet es dann auch auf den Seiten des Handelsblattes, der Frankfurter Rundschau und vielen weiteren Medien. (Das hier beschriebene Foto stammt von einem Berufsfotografen der Deutschen Presseagentur. Ich bilde es hier nicht ab, um keine Urheberrechtsprobleme zu bekommen. Sie finden es bestimmt schnell, wenn Sie danach suchen, z.B. hier.)

Genussvoller Müßiggang – sieht so das Alter aus? Foto: beauty_of_nature auf Pixabay

Was ist zu sehen: Ältere Menschen sitzen auf Parkbänken. Fotografiert sind sie meist von hinten, Gesichter sind keine zu erkennen, so erspart sich der Fotografierende die Zustimmung der Abgebildeten. „Hier ein Schnappschuss aus dem schönen Leben“, textet beispielsweise die Süddeutsche Zeitung (in ihrer Ausgabe vom 24. November 2025) unter ein solches Bild. Entstanden ist dieses Bild angeblich im Kurpark von Bad Kreuznach. Untätige Grauköpfe hocken nebeneinander im warmen Frühlingslicht. Die empfindlichen Häupter der glücklichen  Rentner, vom schütteren Haar oft nur noch unzureichend beschützt, sind unter Hütchen oder Mützchen verborgen, die praktische Funktionsjacke schmiegt sich um die Schultern.

Welches Alter soll das abbilden?

Ich hasse solche Bilder.

Es geht – natürlich – um die Reformfähigkeit der Deutschen beim Thema Rente. Wie illustriert man ein abstraktes Thema zwischen „Haltelinie“ und „Generationenvertrag“? Offensichtlich so: Idyllischer Müßiggang pur ist angesagt für diese Generation der Parkbankbesiedler, während die Jüngeren sich einen abschuften müssen dafür, dass die Genießer unterm Strohhut ihre Rente bekommen.

„Welche Gesellschaft soll das abbilden?“, hat im April 2019 der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer es zu kommentieren für richtig gehalten, als die Deutsche Bahn ein buntes, modernes, multikulturell geprägtes Publikum abbildete. Dafür ist er zu Recht scharf kritisiert worden.

„Was für ein Alter soll das abbilden?“, frage ich mich nun, wenn ich solche Bilder sehe. Glaubt da ernsthaft eine Redaktionsgeneration, sie zeige damit irgendetwas Realistisches, etwas Typisches vom Leben in der Rente?

Parkbank und Blick aufs Meer – ein typisches Bild von der Rente? Foto: Gaspard Delaruelle auf Pixabay

Um es gleich klarzustellen:

Erstens: Es gibt diese von Wohlstand und Gesundheit verwöhnten Grauköpfe wirklich. Aber sie sind nicht typisch für Alltag und Lebensschicksal der Älteren.

Zweitens: Ich verstehe gut, dass jüngere Menschen (auch in Bildredaktionen) sich fragen, wie das weitergehen soll mit der Rentenfinanzierung in Deutschland. Wenn immer weniger Arbeitende für immer mehr Ruheständler aufkommen sollen, kann das auf Dauer nicht gutgehen. Die Lücke, die daraus entsteht, kostet den Bundeshaushalt schon heute rund ein Drittel seiner ganzen Einnahmen. Wir brauchen Änderungen bei der Rente, und auf der Suche nach Gerechtigkeit wird es nötig sein, auch die Älteren selbst in die Pflicht zu nehmen. Ich bin dafür.

Ein krasses Zerrbild der vorgerückten Jahre

Aber, liebe Medien, alles das berechtigt Euch nicht, mit neidauslösenden Fotos von Wohlstandsrentnern auf Parkbänken ein krasses Zerrbild der Realität in den vorgerückten Jahren zu zeichnen. Rentner sind die aktivste Gruppe unter den Ehrenamtlichen, die engagieren sich in tausendfacher Form, beaufsichtigen Kinder, besuchen einsame Kranke, halten Vereine am Leben, geben Essen aus und begleiten Geflüchtete aufs Amt. Etwa ein Drittel aller Seniorinnen und Senioren sind in diesem Sinne engagiert (lt. Deutsche Fernsehlotterie). Viele Kleinkind-Familien mit Doppelverdiener-Struktur würden überhaupt nicht funktionieren, wenn nicht Großeltern in die Kinderbetreuung fest eingeplant wären.

Fast ein Fünftel der Älteren in Deutschland ist armutsgefährdet – bei Frauen mehr als bei Männern. Gleichzeitig sind viele davon die Kränksten und Einsamsten in unserer Wohlstandsgesellschaft. Sie sitzen im Regelfall nicht strohhutbeschirmt in Bad Kreuznach auf der Parkbank, sondern eher im Stadtpark um die Ecke. Nicht wenige dort sind froh darüber, diese nächste Parkbank aus eigener Kraft erreicht zu haben.

Wo bleibt die Vielfalt auf den Rentner-Fotos?

Also, liebe Medien: Lasst diese idyllischen Parkbank-Fotos weg! Sie zeichnen ein diskriminierendes Zerrbild von Rentenempfängern. Sie unterstellen eine entspannte Wohlstandssituation, die es oft nicht gibt – und spalten damit die Gesellschaft in ihrem Denken.

Das gilt übrigens noch dazu auch im missglückten Palmer´schen Sinne: Immer mehr Menschen mit Migrationsbiografie haben in Deutschland ein Leben lang gearbeitet – und beziehen jetzt hier im Alter ganz zu Recht eine Rente. Wo findet sich diese Vielfalt auf den Bildern von Rentnern, die Ihr verwendet?

Liebe Medien, ich hasse diese Bilder. Sie sind oft genug gedruckt worden. Sucht Euch ein besseres, ein realistischeres Bild vom Alter.

Ein bitterer Gruß

Andreas Vogt

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Berta Levi und das Kino von Haigerloch

Eine wahre Geschichte in Deutschland

Es könnte ein Film sein über ein jüdisches Leben in Deutschland, erzählt wie so viele „nach einer wahren Geschichte“: Auf dem Land wächst eine junge Frau auf, eingebettet in einer großen Familie mit ihren Konflikten, Freuden und Leiden. Mit Nachbarn, mit denen sie ihre Religion teilt, wie es schon ihre Eltern getan haben und auch ihre Großeltern. Mit Gewohnheiten und Veränderungen, mit Abneigungen und Sehnsüchten, mit bangen Erwartungen und bitteren Enttäuschungen. Vielleicht hofft sie auf die Liebe ihres Lebens, aber sie bleibt ihr versagt. Also macht sie sich auf den Weg in die Großstadt, verdient ihren Lebensunterhalt dreißig Jahre lang mit Arbeit. Und dann, als sie schon alt ist, als ihr ganzes Leben schon fast hinter ihr liegt, dann …

Berta Levi – Kennkartendoppel von 1938/39, Foto: Stadtarchiv München

Ob Berta Levi wohl jemals in einem Kino gewesen ist? Gewiss nicht in Haigerloch, denn als Berta dort lebte, gab es noch keine Kinos. In der Synagoge war sie dagegen bestimmt häufig, in der schönen kleinen Synagoge ihres Heimatortes. Berta Levi wurde am 22. Februar 1863 in Haigerloch geboren. Das Städtchen liegt am Rand der Schwäbischen Alb auf hügeligem Grund, hat heute 10.000 Einwohner, Fachwerkhäuser und ein Schloss, das erwartungsgemäß malerisch über den Dächern des Ortes thront.

Der lange und der kurze Teil jüdischer Geschichte in Haigerloch

Nur jüdisches Leben findet sich dort nicht mehr. In Haigerloch bestand über mehrere hundert Jahre eine beachtliche jüdische Gemeinde, die einen eigenen Stadtteil besiedelte und verwaltete, das „Haag“. Der lange Teil der Geschichte der Juden in Haigerloch seit dem 14. Jahrhundert ist eine Erzählung über ihren geduldigen Kampf um eine Gleichstellung bürgerlicher und religiöser Rechte, immerhin unter vergleichsweise günstigen Bedingungen. Die Verfassung und nachfolgende Gesetze des württembergischen Hoheitsgebiets der Fürsten von Hohenzollern-Sigmaringen garantierte spätestens seit 1838 die Religionsfreiheit und weitgehende bürgerliche Rechte auch für Juden. Zu diesem Zeitpunkt stellten sie 32 Prozent der damaligen Gesamtbevölkerung des Städtchens.

Hundert Jahre später zerstörten auch in Haigerloch Nazi-Schläger das Innere der Synagoge und schlugen Fenster der jüdischen Wohnhäuser im Haag ein, nochmal vier Jahre später wurden diejenigen, die nicht geflohen waren, in den Tod deportiert. Das ist der kurze Teil ihrer Geschichte.

Als Berta Haigerloch verließ, war noch alles in Ordnung

Berta Levi wurde also in eine intakte jüdische Gemeinschaft hineingeboren; noch dazu in eine große Familie. Die Archive zählen 15 Geschwister, allerdings sind einige davon schon früh verstorben. Ihr Vater war Viehhändler. Die Synagoge von Haigerloch bildete zusammen mit der Mikwe (dem jüdischen Ritualbad) den Mittelpunkt des jüdischen Gemeindelebens. Die Juden hatten einen eigenen Friedhof, nur wenige Schritte von der Synagoge entfernt. Den Friedhof gibt es noch, und wer heute durch das Haag spaziert, wo noch viele der Häuser stehen, die einmal im jüdischen Besitz waren, vermutet dort damals wie heute ein friedliches Dasein hinter den kleinen Fenstern und alten Mauern.

Mit 33 Jahren verließ Berta Levi diesen idyllischen Ort, als sie 1896 nach München zog. Eine Ehe ging Berta niemals ein, anders als ihre ältere Schwester Mathilde, die da bereits dort lebte, verheiratet mit dem Kaufmann Moritz Camnitzer. Möglicherweise war es diese Verbindung, die Berta (und zwei Jahre später auch ihren jüngeren Bruder Max) veranlassten, sich in München auf die Suche nach Arbeit zu machen. Als Hausangestellte stand sie dann fast dreißig Jahre im Dienst jüdischer Bankiers und Geschäftsleute in München. Ende 1925 war Schluss damit. Ihre Schwester Mathilde war gestorben und sie zog, inzwischen 62 Jahre alt, in den Haushalt ihres Schwagers.

Es gab Kinos in München, und auch genügend Synagogen

Ob sie in diesen Jahren einmal in einem Münchner Kino gewesen ist? Schon gut möglich. Die ersten Kinos wurden in München bald nach 1900 eröffnet. Berta Levi wird in den Haushalten ihrer Herrschaften sich um die Kinder, um die Küche, um die Wäsche und um die Gäste gekümmert haben. Aber sie wird auch freie Tage gehabt haben, vielleicht verliebt gewesen sein, Träume geträumt haben. Bestimmt war sie mal im Kino. War sie religiös praktizierend? Wir wissen es nicht. Wenn sie es war, so gab es genügend Synagogen in München. Vielleicht war sie dort.

Vermutlich ist sie in dieser Zeit auch besuchsweise zurückgekehrt nach Haigerloch. Die Reise aus dem prächtigen München in die schwäbische Provinz war mühsam, aber möglich. Dann wird sie dort an den Feierlichkeiten in der Synagoge teilgenommen haben, die erst 1930 nochmals neu renoviert worden war. Wenn es so war, dann hat sie mitgefeiert bei den großen Festen der Gemeinde, mit ihrer Familie, mit ihren Geschwistern, mit den Nachbarn und Freunden im Haag.

Hörte Berta das Klirren der Scheiben?

Knapp siebzig Jahre alt war Berta Levi, als 1933 Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt wurde, und die jubelnden braunen Horden durch Berlin und auch durch München zogen. Fünf Jahre später fackelte der Nazi-Mob nicht nur in München und an tausend anderen Orten in Deutschland die Synagogen ab, ermordete und schikanierte Juden und plünderte jüdische Geschäfte. Unwahrscheinlich, dass Berta da an ihrem Geburtsort Haigerloch weilte. Sie wird in München gewesen sein. Blickte sie, die alte Dame, damals aus ihrem Fenster, während unten der braune Schlägertrupp vorbeizog? Hörte sie das Klirren der Scheiben, das Schreien der Verängstigten und Bedrängten, schrie sie mit, oder schüttelte sie nur entsetzt den  Kopf? Und wann und wie wird sie davon erfahren haben, dass in dieser Nacht auch in ihrer Heimat-Synagoge in Haigerloch alles kurz und klein geschlagen worden war?

Vier Jahre später, im März 1942 siedelte Berta in ein jüdisches Altenheim in München um. Ob es freiwillig war, wissen wir nicht. War sie krank, bedurfte sie der Hilfe? Was hat sie, nun fast achtzig Jahre alt, noch wahrgenommen vom tödlichen Grauen um sie herum? Im Altenheim war es nur ein kurzer Aufenthalt, denn schon im Juni zwängte man sie in überfüllte Waggons und karrte sie gewaltsam mit Tausenden anderen in das Konzentrationslager Theresienstadt. Dort starb Berta Levi am 11.11.1942 an „Altersschwäche“.

In Haigerloch war das Grauen eingezogen

In Haigerloch war da das friedliche Leben längst vorbei, das Grauen eingezogen. Juden aus den umliegenden Städten wurden nach Haigerloch zwangsweise umgesiedelt und dann von dort in vier Bahntransporten in die Vernichtungslager deportiert. Der letzte Zug verließ Haigerloch am 19. August 1942, also noch zu Lebzeiten von Berta.

Danach lebten keine Juden mehr in Haigerloch. Die Deutschen suchten sich die wertvollsten Stücke aus dem zurückgeblieben Hausrat heraus, und bemühten sich, die leerstehenden Häuser im Haag zugesprochen zu erhalten. Die ausgeplünderte Synagoge erwarb die Stadt Haigerloch bereits 1940 unter repressiven Umständen zu einem Spottpreis. Sie versprach im Kaufvertrag, als Gegenleistung „nach erfolgter Auswanderung der jüdischen Einwohner den Juden-Friedhof in Schutz und Instandhaltung“ zu nehmen. Noch während die drangsalierte jüdische Bevölkerung im Haag lebte, begann die Stadt damit, die ehemalige Synagoge in eine Turnhalle umzubauen. Das Vorhaben konnte nicht zu Ende geführt werden, da kriegsbedingt die Materialien bald fehlten.

Die Kanne steht auf dem jüdischen Friedhof von Haigerloch für die Gräber der weitverzweigten Familie Levi.

Das Gebäude diente in den letzten Kriegsmonaten als Lagerhalle. Ab 1968 war die Synagoge ein Supermarkt, danach eine Lagerfläche für Textilien. Es dauerte bis 1999, mehr als sechzig Jahre nach ihrer Plünderung, bis die Stadt Haigerloch sich ihrer historischen Verantwortung für die Synagoge bewusst wurde. Unter tätiger Mithilfe eines aktiven Kreises örtlicher Unterstützer kaufte sie das Gebäude zurück. Heute wird die ehemalige Synagoge als Museum betrieben, das sehr eindrücklich die Spuren jüdischen Lebens in Haigerloch aufbereitet hat. Endet so diese wahre Geschichte?

Nein, so endet die Geschichte nicht

Nein, die Schlusspointe fehlt. Deshalb endet sie so: Der Krieg ist zu Ende, Berta Levi ermordet wie Millionen Juden. Die Israelitische Kultusgemeinde verlangt die Rückgabe der Synagoge, und nach einigem juristischem Hin und Her geschieht es auch so. Aber es gibt keine Juden mehr, die in Haigerloch eine Synagoge benötigen würden. So verkaufen die jüdischen Sachwalter neun Jahre nach dem Tod von Berta Levi das Gotteshaus ihrer Kindheit an einen Privatmann. Der richtet dort ein Kino ein und betreibt es zehn Jahre lang.

Zu unglaubwürdig? Nein. Erzählt nach einer wahren Geschichte in Deutschland.

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Zweibrückenstr. 8 in München – hier hat Bert Levi 20 Jahre lang gewohnt. (Foto von der Aktion „Rückkehr der Namen“

Berta Levi ist eine von 1000 jüdischen Persönlichkeiten, an die am 11. April 2024 im Rahmen der Aktion „Die Rückkehr der Namen“ des Bayerischen Rundfunks erinnert wurde. Ich hatte für Berta Levi im Rahmen dieser Aktion eine Patenschaft übernommen. Ihre Lebensdaten finden Sie hier, mehr Informationen zu der Aktion des BR in München hier

Durch Bert Levi bin ich auf das zerstörte jüdische Leben in Haigerloch aufmerksam geworden. Viele Informationen für diese „wahre Geschichte“ habe ich der Website des Gesprächskreises der ehemaligen Synagoge Haigerloch dem Buch „Erinnerungen an die Haigerlocher Juden – Ein Mosaik“ von Utz Jeggle (Hrsg.) entnommen. 

Die ehemalige Synagoge Haigerloch ist als Museum ganzjährig am Samstag und Sonntag, im Sommer auch am Donnerstag Nachmittag  geöffnet. Die Dauerausstellung ist eine eindrückliche Spurensammlung, zusammengestellt vom Stuttgarter Haus der Geschichte Baden-Württemberg. 

Die ehemalige Synagoge Haigerloch heute: Ein eindrucksvolles kleines Museum sichert die Spuren jüdischen Lebens an diesem Ort.

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Das Böse, das Banale und die Lüge

Warum es nötig ist, um die Wahrheit zu ringen

„Fakten und Meinung sind zu unterscheiden,“ sagt Winfried Kretschmann, Ministerpräsident von Baden-Württemberg in einem Interview, denn „Meinungsfreiheit, ohne dass die Tatsachen stimmen, ist eine Farce.“

Also mitten hinein in die Arena der Meinungsfreiheit. Montagabend, öffentlich-rechtliches Fernsehen in Deutschland: Die ARD hat einhundert mehr oder weniger zufällig ausgewählte Menschen eingeladen, über aktuelle Fragen zu diskutieren. Diesmal geht es um das Pro und Contra zu einer Wiedereinführung der Wehrpflicht.

„Die Medien sind nicht dazu da, zu informieren.“

Ein junger Mann kommt zu Wort: „Die gleichen Leute kontrollieren Europa, Russland, USA, und die wollen, dass Krieg ist, um uns Angst zu machen. Der Krieg ist nur Show, um uns Angst zu machen.“ Tagesschau-Moderator Ingo Zamperoni leitet die Sendung und fragt nach, woher diese Ansicht komme. „Wer seinen eigenen freien Willen nutzt,“ sagt Rufus Weiß, 19 Jahre, Student aus Euskirchen, „kann sich selbst informieren und nicht nur glauben, was die Medien sagen. Die Medien sind nicht dazu da, zu informieren.“

Ein Screenshot: In der ARD-Sendung „Die 100“ (am 6.10.2025 oder in der Mediathek) äußert sich ein junger Mann zur Rolle der Medien. Hat er eine Meinung oder benennt er Tatsachen?

Was davon ist Meinung, was ist Tatsachenbehauptung? Lohnt es sich, auf Basis dieser Aussage überhaupt eine Diskussion zu führen? Na sicher, würde Kretschmann sagen, denn jeder engagierte Bürger müsse um die Wahrheit der Tatsachen kämpfen. Man darf offenkundigen Unsinn nicht einfach stehen lassen, nur weil es bequemer ist. Im täglichen Diskurs gehe es aber auch darum, sich die Bereitschaft zu erhalten, „die eigene Meinung durch Wahrnehmung der Tatsachen zu verändern.“

„Denken ist gefährlich“

Kretschmann orientiert sich an Hannah Arendt und hat vor kurzem ein Buch über die deutsch-amerikanische Schriftstellerin und Philosophin veröffentlicht. „Der Sinn von Politik ist Freiheit“ heißt es. Auch in einem Dokumentarfilm, der derzeit in den Kinos zu sehen ist, können Interessierte diese kluge Frau kennenlernen. Aber Vorsicht: „Denken ist gefährlich“ heißt der Film, und meint es genauso.

Hannah Arendt erlebte Totalitarismus – und hat sich theoretisch damit auseinandergesetzt. Im Dokumentarfilm „Denken ist gefährlich“ kann man diese kluge Frau und das, was sie umgetrieben hat, näher kennenlernen. Foto: Progress Filmverleih

Hannah Arendt hat sich intensiv mit totalitaristischen Staatsstrukturen auseinandergesetzt. Vor allem aber hat sie die Prägung des Begriffs von der „Banalität des Bösen“ berühmt gemacht. Sie fasste damit ihre Eindrücke nach Beobachtung des Eichmann-Prozesses im Jahr 1961 in Jerusalem zusammen. Das Böse, so ihre These, verkörperten in Nazi-Deutschland weniger die mörderischen Funktionäre. Das Böse lag viel mehr in der Banalität der nicht hinterfragten Pflichterfüllung und dem Mitläufertum durch Millionen Helfer, Handlanger, Weg-Seher und Nicht-Wahrhaben-Woller.

Dafür ist Arendt damals heftig kritisiert worden. Mit heutigem, größerem Abstand erscheint manches an dieser Kritik berechtigt, Die Dimension des einzigartigen Verbrechens, dem systematischen Judenmord, verbietet jede Verbindung zum Wort „banal“. Das gilt auch heute, wenn die Gesellschaft gegen Rassismus und Antisemitismus kämpft. Das tötende Böse ist niemals banal.

Das banale Böse steckt in uns allen

Trotzdem ist Hannah Arendt eine moderne, wichtige Analyse gelungen: Das Böse ist eben nicht nur irgendein großes mörderisches Monster, ein Tyrann, ein individueller Schlächter oder Missetäter – das Böse ist, jedenfalls im gesellschaftlichen Zusammenhang – immer auch das Böse in der Masse derjenigen, die es zulassen. Und das Böse steht im Bund mit der Lüge. Hätten die Täter von damals die Tatsachen verteidigt, statt der Propaganda hinterherzulaufen, dann hätte sich die Katastrophe des Genozids niemals ereignen können.

Das banale Böse steckt also in uns allen. Es verlockt uns, nicht selbst zu denken, obwohl wir es gefahrlos dürften, sondern dummen Sprüchen hinterherzujagen. Es lässt uns bequeme Ressentiments pflegen, statt sie zu hinterfragen. Es hält uns aus feigem Eigennutz von Zivilcourage ab. Es sitzt in uns, wenn wir uns von Neuem, von Fremdem bedroht fühlen, statt notwendige Veränderungen zu erkennen und zu gestalten. Es macht uns zum Handlanger, wenn wir die Institutionen (Justiz, Medien, Achtung vor der Rechtsordnung) nicht schützen, die dem Bösen wirksam in den Arm fallen könnten. Das Böse in uns hat immer dann die Kontrolle übernommen, wenn wir uns nicht mehr engagieren, um wenigstens Konsens über die Tatsachen herzustellen.

Das banale Böse in uns tut weh, wenn wir es entdecken. Es ist in den Zwischenrufen zu hören im Plenarsaal des Deutschen Bundestages, rechtes Drittel, vom Rednerpult gesehen. Oder in der Häme zu lesen, die – viel zu oft unter dem billigen Schutzmantel der Anonymität – im Netz verbreitet wird. Oder es ist zu finden in abstrusen Behauptungen vor laufender Fernsehkamera.

Kopfschütteln, wegwischen, weiterzappen, Schulter zucken? Hannah Arendt wäre das nicht genug.

 

 

Im Text finden Sie Links zur Sendung „Die 100“ in der ARD, zum Kretschmann-Interview und zu weiteren Informationen über den Film „Denken ist gefährlich“.

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Das Schicksal des weitgereisten Tauchrohrs

„Made in China“ – ein Bestell-Erlebnis, und was es erzählt

„Made in China“ steht auf der Schachtel. Das Leben des kleinen Stückes Plastik hat also irgendwo in weiter Ferne begonnen, irgendwann in den letzten Monaten oder Jahren, zwischen Tausenden wohlgeformter Artgenossen. Es ist ein Migrant und hat wie Millionen andere den mühsamen Weg gefunden bis nach Deutschland. Und nun?

Das gesuchte Teil ist ein ziemlich schlichter Gefährte des Alltags. Der Einsatz besteht aus einem weißen Plastikrohr im Durchmesser von sieben und der Höhe von sechs Zentimetern.

Dies ist eine Geschichte von einer Irrfahrt zwischen Sinn und Sinnlosigkeit. Von Hoffnungen und ungewisser Zukunft. Sie beginnt damit, dass eine Dusche geputzt wurde. Die Dusche hat einen Abfluss, und die unangenehme Tätigkeit, diesen Abfluss zu reinigen, hatte die Frau des Hauses übernommen. Tapfer befreite sie den herausnehmbaren, und noch namenlosen Einsatz von eklig nassen Haarbüscheln und undefinierbarem Schlamm. Auch nach gründlicher Reinigung stellte sie fest, dass dieser Einsatz selbst schon arg in die Jahre gekommen war. Aufgeraut von unermüdlichen Filteranstrengungen gegen Hautschuppen, Schweiß und Haare war er reichlich angegriffen und unansehnlich geworden. Gesucht: Ersatz für den Einsatz.

Gesucht: Ersatz für den Einsatz

Das gesuchte Teil ist ein ziemlich schlichter Gefährte des Alltags. Der Einsatz besteht aus einem weißen Plastikrohr im Durchmesser von sieben und der Höhe von sechs Zentimetern. Ein Bügelchen in seinem Inneren sorgt dafür, dass man ihn leicht herausnehmen kann, und ein schwarzer Gummiring dichtet ihn nach oben ab. Die Sanitärabteilung des Baumarktes kennt das kleine Plastikrohr aber leider nicht. Zwischen zig anderen rätselhaften Plastikeinsätzen ist der fragliche in seinen Maßen nicht aufzufinden. Immerhin, das gesucht Objekt erlangt hier seinen Namen. „Tauchrohr“, nennt sich ein solcher Gegenstand, analysiert der Fachmann hinter dem Tresen das unansehnlich gewordene Altobjekt in der Hand des Kaufwilligen. Aber leider nicht im Sortiment, sorry.

„Jetzt schnell abholen!“

Mit dem bisher im Wortschatz des Suchenden unbekannten Begriff „Tauchrohr“ erbringt eine Recherche im allwissenden Netz schnell hoffnungsfrohe Ergebnisse: Ja, sogar die bevorzugte Online-Plattform bietet das kleine Tauchrohr ohne Versandkosten für die schnelle Lieferung am übernächsten Tag an. Preis: 8.99 Euro. Nun ja, geschätzter Herstellungswert in China vielleicht fünf Cent – aber was soll man machen? Geklickt, bestellt, bezahlt, bestätigt.

Planmäßig taucht in der Verfolgungsapp des großen Versenders auch noch am gleichen Abend die Nachricht auf, dass sich das Tauchrohr auf den Weg gemacht hätte. Beruhigt packt der Käufer seine Koffer, denn am dritten Tag nach der angekündigten Lieferung des Tauchrohrs steht eine längere Reise an. Aber das Tauchrohr verirrt sich auf seinem Weg, in der App stockt der Sendefortschritt. Einen Tag lang tut sich nichts, dann noch einer, und noch einer; die Plattform entschuldigt sich bereits automatisiert und nutzlos für Verzögerung. Und just an dem Tag, da der Käufer frohgemut im Auto sitzt, weit fort und unterwegs in die Ferne, meldet die App: „Sendung liegt in der Packstation. Jetzt schnell abholen!“

Daran ist nicht zu denken. Die Fähre ruft, das Meer rauscht, die Wolken ziehen, die Sonne scheint, und das Tauchrohr schmachtet wartend in seinem Metallkäfig. Nicht schlimm, denkt sich der Käufer: Nicht abgeholt, geht also zurück, wird erstattet, dann neuer Kauf. Die heimische Dusche hat ohnehin auch Urlaub.

Bestellt, abgeholt und eingebaut

Zwei Tage vor Erreichen der Heimat meldet die App: „Zu lange nicht abgeholt! Sendung geht zurück.“ Der Urlauber kehrt heim, sichtet die spärliche Post, sortiert die Wäsche, lüftet die Koffer – und bestellt schließlich das Tauchrohr erneut, damit es endlich voranschreiten möge mit der Hygiene in der Dusche. Das neue Tauchrohr kommt wie versprochen noch am nächsten Tag an. Abgeholt, ausgepackt, eingebaut.

Am darauffolgenden Morgen meldet die App erneut eine Sendung in der Abholstation. Stirnrunzelnd wird das Fach geöffnet, und was liegt dort? Das nicht abgeholte Tauchrohr, säuberlich als „nicht abgeholt, zurück“ etikettiert – aber irrtümlich nicht an den Versender zurückgesendet, sondern erneut dem Besteller zugestellt.

Zwei Tauchrohre braucht die Dusche nicht. Also rasch einmal den doppelten Kauf online storniert. Pling, die Elektronik quittiert den Rücksendewunsch und meldet Sekunden später den Erhalt des Erstattungs-QR-Codes. Ein paar Schritte nur sind es zum nächsten Paketshop, Code  gescannt, piep, schon wird die Erstattung des überflüssigen Tauchrohr-Kaufs auf dem Konto bestätigt.

„Was passiert nun damit?“, fragt der Kunde. „Das schicken wir zurück“, versichert der nette Mensch im Paketshop und greift zu einer Versandtasche. Die Verkaufsplattform versichert, dass sie von solchen Retouren so wenig wie möglich vernichtet. Eine zweite Chance für das kleine Tauchrohr.

Ergeht es nur dem Tauchrohr so?

Und doch, was ist das für ein bitteres Schicksal! Von weit her im muffigen Container über die Weltmeere der Globalisierung geschaukelt, dann hinein in das riesige, langweilige Lagerregal. Endlich wird das Plastikteil benötigt, könnte einen Nutzen stiften! Also rein in den Umschlag und los quer durchs schöne Deutschland. Bestellt, aber nicht abgeholt, durchleidet das Tauchrohr zehn Tage in einem dunklen, sonnen-überhitzten Schließfach. Nutzlos rollt es im Lieferauto einmal zurück ins Verteilzentrum, und wieder zurück in die Packstation. Dann endlich erbarmt sich jemand, das Plastikrohr trifft am Bestimmungsort ein – aber nun ist es überflüssig. Also wieder zurück ins Lagerregal, wenn die Allmacht der Plattform es zulässt. Immerhin, es ist eine neue Hoffnung auf Sinn, besser als der kalte Wurf in die Abfalltonne.

Ergeht es nur dem kleinen Plastik-Tauchrohr so, das nun einmal Pech hatte? Nicht ausgeschlossen, grübelt der Käufer, dass sich hierzulande auch Menschen ganz ähnlich fühlen: Herumgeschubst, hin- und her sortiert und immer in der Sorge, aussortiert zu werden. Sicher ist nur, die Menschen fühlen – und das kleine Tauchrohr nicht.

 

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Über den Umgang der Versandplattformen mit Retouren informiert das Netz, z.B. hier. Ob man es glauben kann?

 

Die Frau am Strand im roten Kleid

Eine Spätsommergeschichte

(1)

Es war schon fast September, und die salzige Luft wärmte mit der Erinnerung an den gerade zu Ende gehenden Sommer. Eine sanfte Brise strich über den breiten Nordsee-Strand, die Sonne verwöhnte, sie brannte nicht mehr. Flirrende Wolkenschleier zogen über das Blau des Himmels und gaben dem Sonnenlicht die besondere Milde des Spätsommers. Er war glücklich, heftete seinen Blick aus dem Strandkorb heraus an den Horizont des Meeres, diese große Verheißung von Unendlichkeit.

„Die Frau war eine Ausnahmeerscheinung für diesen Ort, schlank und hochgewachsen, dort, wo doch alle anderen ihre körperlichen Schwächen kaum verbergen konnten.“ (Bild KI-generiert mit https://www.canva.com/)

Dann sah er sie zum ersten Mal. Es strich gerade eine sanfte Bö den Strand entlang, viel zu schwach, um Sand aufzuwirbeln, aber stark genug, dass sich der Wind in ihrem roten Kleid verfing. Die Frau war eine Ausnahmeerscheinung für diesen Ort, schlank und hochgewachsen, dort, wo doch alle anderen ihre körperlichen Schwächen kaum verbergen können. Wildes gelocktes Haar flatterte ihr um den Kopf, goldbraun vom Sonnenlicht gebadet, barfuß und ohne Handtasche stand sie da aufrecht an der Brandungskante. Das schwingende rote Sommerkleid reichte ihr weit über das Knie, und allein das unterschied sie radikal von allem, was sonst hier strandüblich war. Ausgeblichene T-Shirts, neonleuchtende Shorts, schlabberige Badehosen, zu knappe Bikinis prägten das Bild der ästhetischen Alltäglichkeiten. Und dazwischen diese elegante Erscheinung, wie im Traum – eine Männerfantasie. Eine Frau von Welt, so las er ihren Anblick aus der Ferne, im knallroten Kleid, die nicht an diesen deutschen Nordseestrand gehörte, sondern nach Cannes, oder vielleicht an den Lido von Venedig.

Dann verstand er, dass die Frau im roten Kleid in Beziehung zu zwei Buben stand, die im Wasser herumtobten. Über die endlos heranrollenden Brandungswellen sprangen sie, gaben sich unermüdlich dem ewigen Spiel der Elemente hin, stocherten im Sand herum, sammelten Muscheln auf und warfen sie wieder hinein in die Gischt. Dann wälzten sie sich selbst auf den Sand und ließen sich jauchzend überspülen, sprangen wieder auf und alles begann von vorne. Die Frau im roten Kleid beaufsichtigte dieses Treiben der Kinder. Sie war aufmerksam, gelegentlich griff sie mit Gesten ein, winkte die Kinder heran, wenn sie sich allzu weit herauswagten in die flach dahinspülenden Wellen, oder veranlasste sie zum Verlassen des Wassers, wenn es ihr genug erschien mit dem kindlichen Sommerspiel.

Aber sie selbst, die Elegante im roten Kleid, sie selbst ging nicht ins Wasser, allenfalls ihre Zehen ließ sie überspülen, und auch das eher selten. Er überlegte, mit welcher Farbe sie ihre Nägel wohl lackiert hatte, feuerrot, passend zum Kleid?

(2)

Er konnte die Augen nicht wenden von dieser Szene, am ersten Tag nicht und auch an den Tagen darauf nicht, an denen sich alles genauso wiederholte: Die gleiche blaue Strandmuschel wurde jeweils an der gleichen Stelle errichtet, sie diente ihr als Depot für Handtücher, Tasche, Handy (das sie aber niemals mit ans Wasser nahm). Die Knaben wälzten sich auch an diesen folgenden Tagen unermüdlich im Nass, und immer stand sie im sicheren Abstand daneben, nicht gefährdet von Gischt oder dem feuchten Sand, den die tobenden Kinder aufwirbeln könnten. Immer richtete die Elegante im roten Kleid den Blick auf die Kinder, ein Blick, von dem er vom Strandkorb aus meinte zu verstehen, dass er Fürsorge gleichermaßen ausdrückte wie auch Distanz.

War sie die Mutter dieser Knaben? Dafür fehlte ihm in der ganzen Szenerie der unbedingte Hauch von jederzeitiger Zärtlichkeit, den eine Mutter doch ausmacht. Die Frau im roten Kleid berührte die Knaben niemals ohne Grund, einfach nur aus Liebe; sie riskierte niemals, dass ihr rotes Kleid durchnässt werden könnte bei mütterlicher Annäherung. Sie fotografierte sie nicht und sie bot ihnen nichts zu trinken an und lüftete keine Plastikboxen mit vorgeschnittenen Obststücken. Auch das Verhalten der Kinder sprach gegen die Annahme, dass die Elegante ihre Mutter war. Die Knaben beschäftigten sich stets mit sich selbst, quengelten nicht an sie hin, soweit er das auf die Entfernung erkennen konnte, bezogen sie nicht ein in ihr Spiel, verlangten nichts, als wüssten sie, dass sie auch nichts von ihr zu erwarten hätten – außer Aufsicht und Eingriff im Notfall, der nicht eintrat.

Eine Nanny vielleicht? Ein Au-pair? Eine Tante? Oder doch eine Mutter? Es soll ja distanzierte Mütter geben, dachte er sich, vielleicht hasst sie das Meer und den Sand, erträgt das heranbrandende Wasser nur auf Distanz? Vielleicht zwingt sie sich aus Liebe zu den nasstobenden Knaben mit größter Disziplin dazu, dennoch hier zu stehen, so elegant im Sand im roten Kleid, statt trittsicher dort zu flanieren, wo sie sich zugehörig fühlte: auf den Boulevards der Städte, in den Foyers der Theater, zwischen den Tischen edler Restaurants?

Er hatte für den Strandkorb Bücher dabei, aber er konnte nicht lesen. Das Meer berauschte ihn, und mehr noch lenkte ihn der Blick zu ihr ab. Er erwog, sich der Frau im roten Kleid wie zufällig zu nähern, ihre Gesichtszüge mit einem Seitenblick zu erfassen, ihr Alter abzuschätzen. Ihr Geheimnis zu lüften! Wie gerne hätte er sie gefragt, ob diese sich geduldig immerfort im Nassen wälzenden Knaben die ihren sind? Und ob sie mehrere solche roten Kleider besäße, ob vielleicht ihr ganzer Kleiderschrank nur eine Ansammlung roter Kleider wäre, da sie nun doch schon am dritten Tag in immergleicher rotstrahlender Eleganz hier erschienen war?

Sein Anstand verbot ihm solche plumpe Annäherung, und so blieb er im Strandkorb. Immer wieder blickte er zu ihr hinüber, verfolgte ihre eleganten Bewegungen, auch dann, als sie schließlich das Gestänge der Standmuschel zusammenklappte, die verstreuten Schaufeln und Eimer der Kinder sorgsam hineinsortierte in ein Wägelchen, ohne selbst auch nur ein Stäubchen Sand aufzuwirbeln. Sie beorderte die nassen Knaben zu sich und wies sie an, sich anzuziehen. Es nahte der Abend, und die Sonne würde bald ins Meer eintauchen. Etwas stärker aufkommender Wind fuhr der Eleganten in das rote Kleid, setzte es in wirbelnde Bewegung, so dass sie, wie einst Marilyn Monroe, es bändigte mit der rechten Hand, während sie mit der linken das Wägelchen durch den Sand zerrte.

Lachte sie dabei? Er konnte es nicht sehen, nur den Knaben blickte er hinterher, die ihr willig folgten.

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Am vierten Tag, da kam sie nicht mehr. Er war enttäuscht und rätselte, wie er mit der Leere umgehen sollte, die sie hinterlassen hatte. Es fehlte dem breiten Horizont des Meeres ihre elegante Erscheinung als Vertikale. Es fehlte dem Grau des Sandes und dem blassen Blau des Himmels das Rot ihres Kleides. Er wanderte an der Brandungskante entlang, stets den Blick auf den Strand gerichtet – war da irgendwo, vielleicht an neuer Stelle, die blaue Strandmuschel? Stand da vielleicht doch irgendwo die Frau im roten Kleid? Aber sie blieb verschwunden, ihr Aufenthalt am Meer mochte vorüber sein, ihr Auftrag zur Beaufsichtigung dieser Knaben beendet. Nun war alles wie immer.

Dann waren auch seine Tage am Strand vorbei. Er reiste zurück in den herbstlichen Alltag der großen Stadt. Am ersten Morgen zuhause griff er nach der Zeitung. „Mein besonderes Urlaubserlebnis“ war die Seite überschrieben. Die Redaktion der Zeitung hatte Leserinnen und Leser aufgefordert, ungewöhnliche Erlebnisse aus den zu Ende gegangenen Urlaubstagen zu schildern. Ein Foto fiel ihm auf: Eine schöne junge Frau kam da zu Worte, mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht, umrahmt von wild lebendiger, brauner Lockenpracht. Die Mutter zweier Kinder berichtete von ihren viel zu kurzen Urlaubstagen am Nordseestrand. So glücklich seien die Kinder gewesen beim fröhlichen Spiel im Wasser. Sie hätte ihnen stundenlang dabei zusehen können. Aber es habe da einen Typ im Strandkorb gegeben, mit ausgeleiertem grünen T-Shirt, der sie und ihre Kinder unablässig gemustert habe. Auf den hätte sie gerne verzichtet.

 

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Das schnelle Ende der Finnlandisierung

Über den „Helsinki-Effekt“ und was sich seither verändert hat

Prächtig weiß schimmert der Marmor an der Fassade im Sonnenlicht und steht damit in Verbindung zum prunkvollen Baustil, der die finnische Hauptstadt Helsinki auch sonst neoklassizistisch prägt. Die Rede ist hier von der Finlandia-Halle. Sie wurde Anfang der 70er Jahre eröffnet, als Konzert- und Kongresshaus, und jede und jeder politisch Interessierte kennt sie. Weltgeschichte wurde dort geschrieben, eine Art Friedensschluss als Ende des „Kalten Krieges“ zwischen Ost und West, dreißig Jahre nach der Weltkriegskatastrophe.

Die Finlandia-Halle in Helsinki: Vor 50 Jahren wurde hier Weltgeschichte geschrieben – aber die damals Beteiligten glaubten, es bliebe alles beim Alten. Foto: gemeinfrei von Thermos  https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=738580

Europa war geteilt. Bis auf kleinere Konflikte hatte es seit Kriegsende keine direkten militärischen Konfrontationen der Weltmächte in Europa gegeben. Das Konzept „Abschreckung“ kam an seine Grenzen, denn es verlangte einen hohen Preis. USA und Sowjetunion ächzten unter den enormen Kosten der gegenseitigen Hochrüstung. Dieses gemeinsame Interesse führte zur Lösung: „Entspannung“ hieß nun das Motto. Denn schließlich wollte niemand neue Kriege führen in Europa.

Viele dachten: Alles geht so weiter wie zuvor

So verständigten sich nach einem mehrjährigen, sehr zähen Verhandlungsprozess 33 europäische Staaten dies- und jenseits des „Eisernen Vorhangs“ zusammen mit den USA und Kanada auf eine Schlussakte der „Konferenz zur Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (KSZE). Dort festgehalten: Keine gewaltsame Verschiebung von Grenzen, Streit friedlich beilegen, Wahrung der Menschenrechte. Das völkerrechtlich unverbindliche Papier wurde in genau dieser Halle unterschrieben. Das war am 1. August 1975. Damals meinten allerdings nahezu alle Beteiligten, vor allem auf der West-Seite, dass Aufwand und langfristiger Nutzen dieses diplomatischen Kraftaktes in keinem vernünftigen Verhältnis zueinander stünden. Es würde ohnehin alles so weitergehen wie zuvor.

Aber das war ein Irrtum.

Fünfzig Jahre ist das nun her. Die Geschichte der Konferenz hat der finnische Filmemacher Arthur Franck im Dokumentarfilm „Der Helsinki-Effekt“ auf äußerst unterhaltsame Weise nachgezeichnet – und dabei einige Lehren für das Heute entdeckt. Der Film ist vor allem ein Appell an die Kraft von Diplomatie, die freilich Geduld, Höflichkeit, Respekt und Verständnis für das Gegenüber erfordert – allesamt Tugenden, die im internet-getriebenen, erhitzten Dauerdiskurs der Gegenwart unter die Räder geraten sind. Vielleicht ist der seither eingetretene Ansehensverlust von Außenpolitik auch darin begründet, dass genau diese Primärtugenden nichts mehr gelten? Alle schauen nur noch auf sich, und ein US-Präsident, der genau diese Unkultur zum Prinzip erhoben hat, verordnet seinem Land folgerichtig den Austritt aus der UNESCO. Was interessiert einen Amerikaner das Welterbe andernorts?

Auch vor fünfzig Jahren wurde gespottet – aber höflich

Wie anders muten da die Bilder aus den 70er Jahren an. Auch da wurde gespottet über die jahrelangen Diskussionen um ein Papier, das im wesentlich beschrieb, was ohnehin alle für unstrittig hielten. Immerhin geschah es weitgehend höflich. In der historischen Rückschau war die KSZE-Schlussakte von Helsinki allerdings nicht irgendein belangloses Papier. Es war der Ausgangspunkt des Umsturzes im Osten, der Befreiungsbewegungen in den osteuropäischen Ländern, von Solidarnosc und auch der friedlichen deutschen Einigung. Die Möglichkeit dazu wurde auf Druck der westdeutschen Regierung unter Helmut Schmidt ausdrücklich in den Text aufgenommen. Die Option zur friedlichen und gemeinsamen Lösung der „deutschen Frage“ war die vom Westen erwünschte Ausnahme des sonst von der Sowjetunion besonders nachdrücklich eingeforderten Prinzips der Unverrückbarkeit von Grenzen.

Beste Stimmung zwischen den Atommächten: Im KSZE-Prozess achtete man noch darauf, sich mit Respekt und Höflichkeit zu begegnen (Gerald Ford und Leonid Breschnew in Helsinki) Foto: bereitgestellt von rise and shine cinema

Die KSZE-Schlussakte ist daher auch eine Dokument des Bruchs zwischen der von Wladimir Putin sonst so hoch gehaltenen Traditionslinie zwischen der untergegangenen Sowjetunion und dem heutigen Russland.

Finnland suchte sein Glück siebzig Jahre lang in der Neutralität, …

Glaubt man dem Film, dann wäre die ganze Konferenz nie zustande gekommen ohne die vermittelnde Rolle des damaligen finnischen Präsidenten Urho Kekkonen. Finnland ist in seiner Geschichte mehrfach nach Russland einverleibt worden, wusste sich aber seit dem 20. Jahrhundert auch zu wehren. Und blieb standhaft auf die eigenen Grenzen bedacht, als Hitler die finnischen Nationalisten für seinen Kampf gegen Stalin einspannen wollte.

Nach dem 2. Weltkrieg fanden die 5,5 Millionen Finnen ihre politische Rolle in der Neutralität zwischen den Blöcken. Kulturell gehörte das Land dem Westen an, war demokratisch und weltoffen. Aber es versuchte, durch maximale Zurückhaltung den großen Nachbarn im Osten keinen auch noch so kleinen Anlass zu geben, die 1344 Kilometer lange Grenze zum kleinen Finnland erneut zu überschreiten. Dieses Prinzip der Zurückhaltung wurde damals „Finnlandisierung“ genannt – fast ein Schimpfwort für lasche Politik. Kein Staat Europas wollte so neutral sein wie Finnland, so zurückhaltend gegenüber der sowjetischen Unterdrückungspolitik vor der eigenen Haustür. Kein Land war so restriktiv im Umgang mit Geflüchteten von dort, die man einfach zurückschickte, um die eigene Neutralität nicht zu gefährden. Auch deshalb engagierte sich Urho Kekkonen für den KSZE-Prozess und schloss ihn mit der Vertragsunterzeichnung in Helsinki erfolgreich ab. Ein diplomatischer Triumph für das kleine Finnland.

… aber brauchte nur zwei Jahre, um sich neu zu orientieren

Was danach geschah, ist allerdings das Scheitern der Finnlandisierung. Die Neutralität der Finnen hatte sich erledigt, als Russland die Ukraine überfiel – unter Bruch aller Prinzipien, die in der Helsinki-Akte festgelegt waren. Mehr als siebzig Jahre hatte Finnland seine Neutralität gepflegt. Nach der russischen Aggression brauchte die finnische Gesellschaft nur zwei Jahre, um sich radikal umzuorientieren. Seit 2023 ist Finnland Mitglied der NATO.

Was also kann Europa von den Finnen lernen? Mit Diplomatie kann man viel erreichen – aber nicht die eigene Existenzsicherung in einer Welt, in der die Allermächtigsten auf Verträge pfeifen. Es gibt keine Neutralität gegenüber purer Gewalt.

 

Die KSZE-Schlussakte von Helsinki kann im Originaltext im Internet abgerufen werden. Wer nachlesen möchte, findet sie hier.

Der Film „Der Helsinki-Effekt“ wird vor allem in kleineren Programmkinos gezeigt. Am 5. August zeigt ihn der Sender arte. Trailer, Informationen zum Film und zu den Kinos finden Sie hier. 

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Helsinki war der Schlusspunkt einer Reise durch Polen und die baltischen Staaten. Texte von dieser Reise sind auch

 

Erwachsene, die sich wie Kinder verhalten

Kein Text über die Stromsteuer – sondern darüber, ob irgendwas „versprochen“ wurde

Dies ist kein Text über die Stromsteuer. Dies ist ein Text über die Frage, ob mündige Staatsbürger sich verhalten sollten wie Kleinkinder. „Versprochen ist versprochen – und wird nicht …“ – Es ist diese unterkomplexe, kindererziehende Alltagsweisheit, die zurzeit die Grundlage bildet für eine allseitige Empörung über die angeblich versprochene, nun aber nur teilweise in Aussicht gestellte Abschaffung der Stromsteuer. Der Spruch war schon immer weit entfernt von der Realität eines Erziehungsalltags – und er ist auch ungeeignet für die Komplexität eines Staatswesens.

„Du hast es aber versprochen!“ – Politik kann nichts „versprechen“, sondern Politik kündigt an, verwaltet und gestaltet. Bei einer Wahl urteilen wir darüber, ob das gelungen ist. Deshalb sollten sich mündige Wahlbürger/innen nicht verhalten wie beleidigte Kinder an der Eistruhe. Foto: Geralt via Pixabay

Ein fiktiver Blick zur Supermarktkasse: „Du hast es aber versprochen!“, protestiert lautstark die geschätzt Fünfjährige. „Ja, aber jetzt gibt’s halt hier kein Eis in der richtigen Größe, entgegnet die Mutter entnervt, „da kann ich auch nichts machen.“ Mit der rechten Hand packt sie den Einkauf für das Abendessen ein, mit der linken drückt sie das Handy zum Zahlen an den Automaten. „Du hast es aber versprochen!!“ wiederholt das Kind jetzt lautstärker.

Wenn überhaupt, können nur sich nur Unionswähler ärgern

Auf diesem Niveau befindet sich auch die Diskussion um die Stromsteuer. Was genau ist geschehen? Politiker der Unionsparteien haben im Wahlkampf dafür geworden, ihnen die Stimme zu geben – mit der Ankündigung, die Stromsteuer für alle abzuschaffen. Haben die Menschen sie deshalb gewählt? Vielleicht gibt es ein paar wenige. Die meisten aber hatten anderes im Sinn: Den Scholz loswerden, die Migranten rausschmeißen, endlich bessere Stimmung für der Wirtschaft. Egal warum – aber es waren ohnehin nur 28,6 Prozent der Wählerinnen und Wähler, die am 23. Februar für die Union und diese Aussicht in Sachen Stromsteuer gestimmt haben. Eine deutliche Minderheit also, und wenn man die Zahl der Stimmen für die Union auf die Gesamtbevölkerung bezieht, sind es noch weniger. Alle anderen, die gar nicht oder nicht Union gewählt haben, können sich schon deshalb nicht auf dieses „Versprechen“ berufen. Und die Unionswähler, die jetzt jammern, sollten sich ernsthaft fragen, ob sie tatsächlich wegen der Stromsteuer ihr Kreuz bei Merz oder Söder gemacht haben.

Ja, schön, hört man hier die laute Riege der larmoyanten Politikkundigen rufen, aber was ist mit dem Koalitionsvertrag? Da steht es doch auch drin, dass die Stromsteuer für alle abgeschafft werden soll. Ist das denn kein Versprechen?

Also zurück zur Supermarktkasse. Eine junge Familie kauft ein. „Aber ihr habt es versprochen!“, rufen die zwei Söhne im Schulalter, und zappeln an der Eistruhe herum. „Wir müssen aber sparen“, versucht der Vater seine Nachkommen zu besänftigen, „Gestern Abend haben wir gesagt, beim Einkaufen morgen gibt’s ein Eis. Aber dann kam heute die Mieterhöhung. Ist ohnehin schon so teuer.“ Aber die Kinder sind unerbittlich: „Aber wir wollen trotzdem jetzt ein Eis!“

Politik kann überhaupt nichts „versprechen“

Ein Koalitionsvertrag ist kein Versprechen an die Öffentlichkeit. Politik kann überhaupt nichts „versprechen“. Politik kann ankündigen, verwalten und gestalten. Ein Koalitionsvertrag ist eine politische Absichtserklärung der (in diesem Fall: drei) Partner, die gemeinsam regieren wollen. Er ist die Grundlage für die Kanzlerwahl. Der Wahlbürger kann die Verabredungen des Koalitionsvertrages freudig oder verärgert zur Kenntnis nehmen, einen Anspruch auf die Umsetzung aller Inhalte hat er nicht. Und die Vertragsparteien können sich – wie bei jedem Vertrag – jederzeit einvernehmlich darauf einigen, irgendetwas aus ihrem Vertrag anders zu regeln als es dort einmal festgelegt war.

Was der empörte Wahlbürger tun kann, ist: Die Partner des Vertrages bei der nächsten Wahl abstrafen. Aber was tut die veröffentlichte Meinung? Sie empört sich stellvertretend für das angeblich um einen Anspruch gebrachte Volk über den „Stromsteuer-Betrug“ (Welt-TV), über den „Stromsteuer-Wortbruch“ (Focus) über den „Bruch des Koalitionsvertrags“ (ZDF). Sie alle köcheln auf der Jagd nach Klicks, Einschaltquoten und Auflage auf dem Feuer der billigen Vereinfachung die trübe Suppe der Politikverdrossenheit.

Es gibt vielleicht gute Gründe für die Abschaffung der Stromsteuer. Aber nicht das ‚“gebrochene Versprechen“

Muss der mündige Wahlbürger auf dem geistigen Stand von Kleinkindern gehalten werden, unfähig oder unwillig, sich größeren Zusammenhängen zu stellen? Niemand muss die Entscheidung für oder gegen die Abschaffung der Stromsteuer gut finden. Es gibt vielleicht gute Gründe und nachvollziehbare Interessen, warum man sie einfordern, anstreben und durchsetzen kann.

Aber sich darauf zu berufen, dass ein „Versprechen“ gebrochen worden sei – das ist kindisch.

 

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Ein Justizmord, die Nazis und der Papst

Zur Geschichte des „Tag der Arbeit“ am 1. Mai

Vielleicht war es im Mai. Wir schreiben das Jahr 1872, ziemlich genau vor 150 Jahren. Vielleicht erlebte damals ein junger Mann noch ein letztes Mal in Deutschland einen Sonnentag auf dem Höhepunkt des Frühlings, einen Tag voll blühenden Flieders, ein Tag der blumenübersäten Wiesen.

Kein Mörder, sondern ein Justizopfer: August Spies aus Deutschland. Foto: Chicago Historical Society, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=755968

Dann verließ der junge Mann Deutschland. Er bestieg ein Schiff, bezog darin ein Massenlager, vermutlich tief unten im stickigen Bauch des Ozeanriesen. Seine Reise war eine Flucht vor der Armut und sie brachte ihn nach New York.

Der junge Mann war der im Hessischen geborene Försterssohn August Spies. Er war erst 17 Jahre alt, als sein Vater starb. Spies´ Familie geriet deshalb in tiefe Not. Sozialsysteme, wie wir sie heute kennen, gab es nicht. August war das älteste Kind und arbeitsfähig, also musste er gehen. Mutter und Geschwister blieben zunächst in Deutschland zurück; später holte er sie nach.

Ein Streik veränderte die Weltsicht von August Spies

Spies schlug sich durch in der neuen Welt. Er begann in New York eine Lehre als Möbeltischler, zog um nach Chicago und begann sich für die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse zu interessieren. Dann erlebte er als 22-jähriger etwas, das sein weiteres Denken und Handeln grundlegend prägen sollte. Würde man es in unser deutsches Heute übertragen, dann muss man sich diese Ereignisse aus dem Jahr 1877 in den USA etwa so vorstellen:

Den Mitarbeitenden der Deutschen Bahn, den Schaffnern und Lokführerinnen, den Stellwerkern und Rangierkräften, den Werkstattmitarbeitern und dem Reinigungspersonal – einfach allen – wird zum dritten Mal innerhalb eines Jahres mitgeteilt, dass ihre Gehälter gekürzt werden. Die wirtschaftliche Lage sei schlecht, heißt es zur Begründung, außerdem habe ein Krieg das Land ruiniert. Daraufhin treten die empörten Angestellten der Bahn an verschiedenen Orten in den Streik. Immer mehr Eisenbahnerinnen und Eisenbahner schließen sich landesweit an. Kaum noch ein Zug wird gewartet, die Gleise werden blockiert, keine Fahrkarten mehr verkauft, die Loks bleiben stehen. Der Vorstand der Bahn ruft den Staat zur Hilfe – und der schickt die Bereitschaftspolizei. Mit Knüppel und Schusswaffen kämpft der Staat die Arbeitnehmer nieder, diese reagieren mit Vandalismus: Gebäude werden niedergebrannt und Lokomotiven zerstört. Nach mehr als zwei Monaten Verwüstung und Gewalt gewinnt der Staat die Oberhand. Im ganzen Land hat der Kampf der Streikenden gegen die Polizeigewalt mehr als 100 Tote gefordert.

Der Große Eisenbahnstreik von 1877, die sozialen Ungerechtigkeiten, die ihn ausgelöst haben, und die Gewalt, mit der er beendet wurde, erschütterten die USA. August Spies machten die Ereignisse um die staatliche Niederschlagung des Streiks gegen die zunächst unbewaffneten Streikenden so wütend, dass er sich einer paramilitärischen Arbeiterorganisation anschloss. Später gründete er eine Arbeiterzeitung und wurde ihr Herausgeber und Chefredakteur.

Eine Bombe, ein Justizmord

Neun Jahre später, am 1. Mai 1886, stand August Spies in Chicago auf dem Haymarket und hielt eine flammende Rede. Er brandmarkte die Ungerechtigkeit der Arbeitsordnung. Er verlangte bessere Löhne und einen gesetzlichen Acht-Stunden-Arbeitstag für die Werktätigen. Wieder eskalierte die Situation durch Gewalteinsatz der staatlichen Milizen. Es folgten über mehrere Tage Großdemonstrationen, denen der Staat jeweils mit brutaler Gewalt begegnete. Im Zuge dieser Auseinandersetzungen wurden am 3. Mai sechs streikende Arbeiter erschossen, etliche weitere verletzt. Am 4. Mai explodierte auf dem Haymarket eine Bombe, deren Herkunft bis heute ungeklärt ist.

Das dadurch verursache Chaos nahm die Polizei zum Anlass, die Streikanführer zu verhaften. Acht Männer, darunter August Spies, wurden für die Bombe verantwortlich gemacht, als „Mörder“ angeklagt, zum Tode verurteilt und hingerichtet. August Spies starb im Herbst 1887 durch Erhängen. Sechs Jahre später rehabilitierte der Gouverneur von Illinois die Getöteten: Ein Zusammenhang ihrer gewerkschaftlichen Agitation mit der Bombe sei nicht nachweisbar.

Wofür werben eigentlich die Plakate seit Mitte April?

Diese Geschichte könnte im Kopf haben, wer sich an diesem Sonntag – geeignetes Wetter vorausgesetzt – im Biergarten ein kühles Bierchen bestellt. Auf dem Weg dorthin hat sich vielleicht sogar der eine oder andere gefragt, wofür die Plakate eigentlich werben, die der Deutsche Gewerkschaftsbund jedes Jahr ziemlich lieblos ab Mitte April an die Laternenmasten klemmt.

Wofür wird hier geworben? Aktuelles Plakat des DGB zur Maikundgebung vor den Werkstoren von BOSCH in Stuttgart-Feuerbach.

Der radikal-anarchistische Arbeiterführer August Spies, das deutschstämmige Opfer eines amerikanischen Justizmordes, zählt zu den Urvätern des 1. Mai als Feiertag. Die internationale Arbeiterbewegung erhob in Andenken an ihn und an den Kampf der Streikenden auf dem Chicagoer Haymarket erstmals den 1. Mai 1890 zum internationalen Kampftag der Werktätigen. Die damals Mächtigen beeindruckte das kaum. Erst mehr als 40 Jahre später waren es in Deutschland ausgerechnet die Nationalsozialisten, die diesen Schritt vollzogen und den 1. Mai zum arbeitsfreien „Tag der nationalen Arbeit“ erklärten. Ein Paradebeispiel für ideologische Aneignung: Am 1. Mai 1933 erlebten die deutschen Berufstätigen erstmals den Feiertag zu ihren Gunsten, aber am Tag darauf, am 2. Mai 1933, stürmten Nazi-Schergen die Häuser der deutschen Gewerkschaften, betrieben ihre nationalsozialistische „Gleichschaltung“ und verhafteten ihre Anführer.

Der 1. Mai: Eine ideologische Projektionsfläche

Nach dem Krieg erbte die junge Bundesrepublik Deutschland den weltlichen Mai-Feiertag. Oft strahlendes Frühsommerwetter, keine Maloche, und noch dazu kein Kirchenbesuch – der 1. Mai war der Lieblingsfeiertag der aufkommenden deutschen Freizeitgesellschaft. Immerhin, wer sich in den 60er und 70er Jahren gesellschaftlich engagierte, empfand es noch als edle Werktätigen-Pflicht, auf die gewerkschaftliche Maikundgebung zu gehen. Ein Großereignis war das, Zigtausende auf den Marktplätzen, die Radiosender übertrugen die Maikundgebungen aus verschiedenen Städten ihres Sendegebietes live in einer Konferenzschaltung wie am Samstagnachmittag die Bundesliga.

Abends dann, in der „Tagesschau“, da waren die Bilder aus Ostberlin und aus Moskau oder Peking zu sehen. Endlose Paraden defilierten vor den Tribünen, furchteinflößende Waffen rollten vorbei, fröhliche Erzieherinnen schwenkten gemeinsam mit den von ihnen beaufsichtigten Kindern im sozialistisch gradlinigen Gleichschritt die roten Fähnchen. In der kommunistischen Welt wurde der „Tag der Arbeit“ zu Schwerstarbeit für Paraden-Organisatoren und Ordensspangen-Festnäherinnen. Auf den Tribünen saßen alte Männer, die von der Situation der Werktätigen keine Ahnung hatten, sich aber als Vertreter der siegreichen Arbeiterklasse fühlten.

Neue Aufgaben für „Josef den Arbeiter“ aus der Weihnachtskrippe

In diesem ideologischen Getümmel rund um den „Tag der Arbeit“ wollte im Jahre 1955 ein anderer alter Mann nicht beiseite stehen. Der fast 80-jährige Papst Pius XII. erhob einen prominenten Zimmermann in den Status der „Arbeiters“ und machte damit den 1. Mai zu einem katholischen Gedenktag. Die Ehrung der Arbeit sollte nicht den atheistischen Systemen des Ostblocks allein überlassen bleiben. „Josef der Arbeiter“ heißt seither jener gütige, uneheliche Vater von Jesus, uns allen besser bekannt als der Mann neben dem Kindlein in der Weihnachtskrippe.

Prost! – Ein Hoch auf alle, die am 1. Mai arbeiten

August Spies hat sich das alles am 1. Mai 1886 bestimmt nicht so gedacht. Erreicht hat er einiges: Der 8-Stunden-Tag ist heute in den reichen Teilen der Welt die Regel. Und der arbeitsfreie Feiertag 1. Mai gilt in vielen Ländern für alle, die das Glück haben, den dafür passenden Beruf gewählt zu haben. Denn arbeitsfreier Feiertag für viele heißt besonders viel Arbeit für wenige, die auf unsere Sicherheit, unsere Gesundheit, unsere Mobilität achten – oder uns das Bier an den Biergartentisch schleppen.

Also lasst uns das Glas heben: Ein frisch gezapftes Maibock auf August Spies – und auf alle, die am 1. Mai arbeiten!

 

Zur Geschichte des 1. Mai siehe auch auf der Website des DGB: https://www.dgb.de/themen/++co++d199d80c-1291-11df-40df-00093d10fae2

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Ich werde Ihnen zuhören, Herr Merz

Ein offener Brief an den neuen Bundeskanzler

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,

gewählt habe ich Sie nicht, aber nun sind Sie trotzdem mein Bundeskanzler. Ja: „mein“ Kanzler. Denn ich habe mir vorgenommen, Ihnen mit dem Respekt zu begegnen, den das Amt, das Sie ausfüllen, verdient. Und erst recht habe ich Respekt vor der Größe der Aufgabe und Verantwortung, die nun auf Ihnen lastet. Ich danke Ihnen dafür, dass sie auch für mich diese Last tragen werden. Ich bin überzeugt, dass Sie „das Beste“ für mich wollen, auch wenn wir vielleicht streiten müssten, was genau „das Beste“ ist.

Friedrich Merz auf der Mission ins Kanzleramt – Foto: Sandro Halank, Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0

Ich bitte Sie um nichts, was nur meinen Interessen dient. Ich bin kein Lobbyist für mich selbst. Ich erwarte keine Steuersenkungen und keine Rentenerhöhungen und auch keine anderen Wohltaten zu meinem Vorteil. Ich wünsche mir von Ihnen das, was sich alle wünschen, die guten Willens sind: Sicherheit für dieses Land durch Besonnenheit und kluge Diplomatie, aber auch in angemessener Wehrhaftigkeit. Den Wohlstand erhalten, in dem der größte Teil meiner Mitmenschen, wie ich selbst auch, leben. Dabei dürfen wir nicht weiter die begrenzten, natürlichen Ressourcen vernichten. Dass die Kinder gerne in eine intakte Schule gehen, die Straßen nicht voller Schlaglöcher oder gesperrt sind wegen der maroden Brücken. Dass die Bahn pünktlicher wird. Dass wir uns auf eine integre Polizei und eine unabhängige Justiz verlassen können. Dass wir als Gesellschaft das Ziel der sozialen Gerechtigkeit nicht aus den Augen verlieren, dass wir stets im Blick behalten, wo Not ist und wie wir sie lindern können.

Das alles wünsche ich mir wie Millionen andere, und ich zweifle nicht daran, dass Sie, sehr geehrter Herr Merz, sich genau das vorgenommen haben.

Ich möchte Sie zur Demut ermutigen

Aber ich möchte Sie zur Demut ermutigen. Ich möchte Sie darum bitten – und sei es nur für sich selbst und nicht öffentlich -, sich einzugestehen, dass es ein fraglicher Impuls war, als sie wenige Tage vor der Wahl Ihre Rhetorik gegen Geflüchtete mithilfe fraglicher Behauptungen verschärften („tägliche Gruppenvergewaltigungen“). Dass es unklug war, sich in dieser Sache von rechtsradikalen Demokratiefeinden unterstützen zu lassen. Dass Sie sich nun vornehmen, in Ihrem neuen Amt sich solche zuspitzende Impulsivität nicht mehr zu genehmigen.

Ich möchte Ihnen Mut zusprechen, den Verlockungen der scheinbar einfachen Wahrheiten entgegenzutreten. Politik ist kein Lieferdienst, daher muss sie nicht „endlich liefern“, wie derzeit alle von Ihnen fordern, sondern besonnen und entschlossen handeln. Ich brauche auch gar keinen „Politikwechsel“, sondern verlässliches, nachvollziehbares Regieren im Diskurs, aber ohne verletzenden Streit.

Sie sind Christ, wie ich.

Ganz gewiss werden Sie politische Entscheidungen treffen müssen, die ich inhaltlich kritisieren werde. Ich würde mir wünschen, dass Sie dann so viel an Bedächtigkeit zeigen, passende Worte der Abwägung finden, so dass ich Ihre Entscheidung vielleicht wenigsten verstehen, wenn auch nicht billigen kann.

Sie sind Christ, wie ich. Ich möchte Ihr Sprechen daran messen können. Wenn ich Ihnen künftig zuhören werde, dann hoffe ich auf Worte, die jederzeit dem Ideal einer unteilbaren Menschenwürde gerecht werden. Dem grundlegenden Verständnis für jeden Menschen in Not, egal welcher Rasse, Glaube oder Herkunft er sei. Der immerwährenden Achtung vor der Bewahrung unserer natürlichen Lebensgrundlagen.

Nach allem, was ich über Sie und von Ihnen gehört und gelesen habe, bin ich sicher, dass Sie in reflektierten Momenten genau so denken. Und ich verstehe durchaus, dass ich Ihr politisches Handeln nicht immer nur an diesem Maßstab werde messen dürfen. Denn Sie müssen nun die Interessen Deutschlands in einer Welt und Wirklichkeit vertreten, die sich nicht ausschließlich an den Grundwerten der UN-Charta oder unseres Grundgesetzes orientiert. Ich weiß das.

Aber Ihre Worte, sehr geehrter Herr Merz, – Ihre Worte sollten es sein. In diesem Sinne vertraue ich Ihnen. Vielleicht bin ich naiv, aber ich werde aufmerksam sein. Nehmen Sie sich in Acht. Ich werde Ihnen zuhören.

Ich wünsche Ihnen gutes Gelingen!

Ihr Andreas Vogt

aktualisiert am 6. Mai 2025

Weitere Texte als #Politikflaneur finden Sie hier – auch zwei weitere Texte über Friedrich Merz aus der Wahlkampf-Phase: Friedrich, der Zaubergeselle und Trump, Merz und der Fosbury-Flop

 

Tag 7: Fast ganz allein im Haus des Volkes

Größer als die Kirche: Das Bauhaus-Ensemble „Haus des Volkes“ dominiert das Stadtbild des Grenzortes Probstzella. Das Gebäude und seine Geschichte sind eine Sensation. Aber den Ort kennen alle nur wegen seines Schicksals als Grenzbahnhof.

Tag 7 (20. März 2025)

Von Probstzella nach Kleintettau

Mein Weg führt weiter Richtung Westen, über die rauschende Loquitz auf der gegenüberliegenden Seite den Hügel hinauf auf dem Kolonnenweg. Bald habe ich eine aussichtsreiche Höhe erreicht, um meinen Blick zurück auf Probstzella zu richten. Millionen Menschen haben schlechte Erinnerungen an den Ort, der für Reisende nur aus dem Grenzbahnhof zu bestehen schien. Zwischen 1949 und 1989 mussten dort alle Züge von und nach Berlin aus dem Süden der Bundesrepublik anhalten, hunderttausende Leibesvisitationen, Gepäckkontrollen, Schikanen und Erniedrigungen wurden hier durchlitten, manche haben auch Gewalt erfahren.

Vor allem aber sind mit Probstzella Erinnerungen an Ängste verbunden. Über den DDR-Grenzbahnhof ist viel geschrieben worden, und heute erinnert ein kleines Museum im Bahnhof an seine Geschichte. Das eigentliche Gebäude, ein hässlicher Betonbau, das damals der wahre Ort von Willkür auf deutschem Boden war, wurde bald nach dem Mauerfall abgerissen; bis zuletzt haben historisch Bewusste (u.a. auch die heutige Bundestags-Vizepräsidentin Göring-Eckardt) erfolglos dagegen gekämpft.

Einen Vorteil hat dieser Eingriff in die historische Substanz immerhin. Die Sicht auf den ganzen Ort ist jetzt frei, wenn der Wanderer vom gegenüberliegenden Hügel hinüberblickt auf das Städtchen. Aus der Entfernung wird das Grauen klein und das Malerische groß. Und so ist zu sehen, dass das größte Gebäude dieser Stadt nicht die Kirche ist – wie sonst so oft – sondern ein mächtiger Bau mit dem Namen „Haus des Volkes“ direkt gegenüber dem alten Bahnhof.

„Oh Gott, sozialistische Propaganda“, mag nun mancher ausrufen, wenn er diesen Namen hört – und liegt damit meilenweit daneben. Dieses gewaltige Haus, das heute wieder mehrere Säle, eine Bowlingbahn, ein Kino, einen Billardraum, Tagungsräume, eine Sauna und ein Hotel beherbergt, zu dem ein Park gehört mit Musikpavillon, Kneippbecken und Seerosenteich – dieser Bau heißt so, weil schon im Jahr 1925 sein Erbauer es so wollte.

Franz Itting war in Probstzella zu Geld gekommen, weil er die neu aufkommende Elektrizität herstellte und verkaufte. Itting war ein schwerreicher Industrieller – und ein überzeugter Sozialdemokrat. Itting wollte ein sozialer Vorbildunternehmer sein. Er ließ für seine Arbeiter Wohnungen bauen, schloss für sie Lebensversicherungen ab, führte die 40-Stunden-Woche ein. Und er ließ für die Stadt, mit deren Elektrifizierung er so reich geworden war, ein gewaltiges Gebäude errichten im damals aktuellen Bauhaus-Stil – zur Förderung der kulturellen und gesellschaftlichen Gemeinschaft –, und nannte es „Haus des Volkes“. Schon den Nazis war Itting als Person und die offene Idee seines „Haus des Volkes“ suspekt. Er wurde drangsaliert, zeitweise ins Konzentrationslager gesperrt, und sein großes Haus durfte auch nicht mehr dem Volk gewidmet sein. Itting überlebte den Terror, aber dann kamen die kommunistischen Ideologen an die Macht– und auch ihnen konnte er es nicht Recht machen. Sie misstrauten seinem Reichtum, enteigneten den Sozialdemokraten und brachten ihn schließlich dazu, sein Leben und einen kleines Teil seines Besitzes wenige Kilometer entfernt auf die bayerische Seite der Grenze nach Königsstadt zu retten, als das noch möglich war.

Das „Haus des Volkes“ diente dann als Veranstaltungsraum und den Grenzsoldaten als Büro und Unterkunft. Und es hieß nun auch wieder so. Heute steht es unter Denkmalschutz, und mit bemerkenswerten Engagement versucht ein privater Betreiber, es als Hotel- und Veranstaltungsstätte in stabilem Leben zu erhalten. Keine einfache Aufgabe, angesichts des gewaltigen Raumprogramms und der äußeren Umstände: Der ICE fährt schon längst nicht mehr durch Probstzella, die nächste Autobahn ist weit. Wer dort übernachtet – wie ich -, erlebt viel Fläche, und wenig Menschen. Das sei in der Saison und an Wochenenden anders, versichert der Betreiber. Ich habe das „Haus des Volkes“ nicht ohne großen Respekt vor dieser Leistung wieder verlassen, und wurde bereichert um das Wissen über Franz Itting, diesen Visionär des Sozialen und Nachhaltigen, und über die Frauen und Männer, die als Architekten und Künstler dieses große Schloss für das Volk geschaffen haben.

Dann, einige Kilometer weiter, führt mein Weg zu einem Aussichtsturm, der „Thüringer Warte“. 1962 wurde sie errichtet, um in Zeiten des Kalten Krieges von bayerischer Seite einen freien Blick zu haben auf den abgesperrten Teil Deutschlands. Nun wartet die Warte inmitten dahinsterbender Fichtenwälder auf einen neuen Sinn. Auch diesen Turm hat die Baufirma von Franz Itting errichtet. Vielleicht konnte er dann von dort oben beobachten, was mit seinem „Haus des Volkes“ passiert, das so nah vor ihm lag, und für ihn doch unerreichbar war.

 

Distanz: 16,5 Kilometer, 24.000 Schritte

Begegnungen mit Wanderern: 1

Jäger-Hochsitze am Weg: 6

Alle Texte aus meinem Wandertagebuch #Grenzerfahrung finden Sie hier.

Im Text sind Weiterleitungen zum Grenzbahnhof-Museum Probstzella, zum Haus des Volkes und zu Franz Itting und zur Thüringer Warte verlinkt.