Ein gewaltiges Bauwerk, halb so groß wie der Petersdom, thront über dem kleinen Städtchen Weingarten: Basilika St. Martin.
Stolz thront diese Kirche am Hang, prächtig und riesig. Wenn man sie betritt, überwölbt das (derzeit zum Teil eingerüstete) Innere den Besucher in himmelstrebender Höhe, überschüttet ihn mit geschwungenem Barock, macht ihn klein und winzig in diesem übergroßen Kirchenbau.
Woher kommt meine Freude am Kirchenbesuch? Vielleicht auch daher: Im Herbst 1951 besuchten meine Eltern auf einer ihrer ersten Reisen nach dem Neuanfang als Flüchtlinge auch diese Kirche. Das war vier Jahre nach der Rückkehr meines Vaters aus der Kriegsgefangenschaft. Ich weiß das, weil meine Mutter darüber ein Tagebuch geführt hat. Ich zitiere daher einfach einmal ihre Ausführungen von damals:
„Ziel war die größte Barockkirche Deutschlands, riesenhaft auf einem Berg gebaut. Baumeister ein gewisser Herr Moosbrugger, Gemälde von Asam. Die Kirche ist dreischiffig, hat eine Kuppel und erinnert ein bisschen an den Petersdom. Sie soll vom italienischen Barock beeinflusst sein, was man auch merkt. … Reizend ist das holzgeschnitzte Chorgestühl, wunderschön die Orgelgliederung, bemerkenswert die Fensteranordnung.“
Die mit der Anordnung der Orgel abgestimmte Fenstergliederung bewunderte schon meine Mutter vor 70 Jahren.
Was würde ich heute, 70 Jahre später, nach meinem Besuch ergänzen wollen? Vielleicht die schlichte Information, dass der Baumeister tatsächlich anstrebte, die Kirche orientiert an den hälftigen Ausmaßen des Petersdoms zu errichten. Herausgekommen ist ein fast übermütiges Bauwerk, dem aus heutiger Sicht die Demut einer Kirche fehlt, die nicht durch Pracht einschüchtern, sondern durch Großmut für sich werben muss.
Für meine kirchenliebenden Eltern habe ich in dieser Basilika zwei Kerzen entzündet, und bin dann durch die nette Innenstadt von Weingarten geschlendert.
Diese Geschichte beginnt im antiken Rom, heiß war es dort und der Staub machte durstig. Sie wird erzählen von vierfachem Mord, florierendem Leichentourismus im Mittelalter, sie wird Station machen bei den Rosenplantagen in Kenia und schließlich an einem Münchner Blumenstand enden. Kann das gelingen? Lesen Sie selbst!
Cratons Verzweiflung war so groß, …
Craton war ein berühmter Mann in Rom. Als Redner verdiente er sein Geld mit Debatten-Auftritten, mit feurigen Reden und klarer Sprache, mit schneidigem Argument und geschliffener Zunge. Menschen kamen zu ihm und bezahlten dafür, von ihm unterrichtet zu werden, wenn sie wirkungsvoll sprechen wollten. Ja, Craton war von den Göttern verwöhnt, aber er war trotzdem verzweifelt. Denn sein einziger Sohn war krank.
Und was für eine merkwürdige Krankheit der hatte; noch nie hatte Craton so etwas gesehen. Tagelang konnte er sich völlig normal verhalten. Dann half das Kind seiner Mutter bei der Pflege der Ziegen im Hof, fegte den Staub der Straße von den Eingangsstufen der Villa. Packte seine Sachen zusammen in den Beutel, wenn es zur Scola ging, lernte fleißig.
Und dann plötzlich war er wie besessen, als hätten die bösen Götter Macht über ihn ergriffen. Dann fiel er zu Boden, zitterte und schäumte aus dem Mund, krampfte und spuckte, die Zähne klapperten schaurig aufeinander, alle seine Glieder zuckten. Das Inferno der Besinnungslosigkeit dauerte eine Weile, nichts half gegen dieses elende Spektakel, kein Kraut und kein Zureden. Schließlich, eine Ewigkeit später, zog sich sein Sohn jedes Mal am Boden erschöpft zusammen, lagerte und weinte, sein schmächtiger Körper gezeichnet mit Schrammen und Wunden, die sich das Kind im teuflischen Taumel selbst beigebracht hatte; im Schlagen und Zucken gegen die Wände, gegen die Tische und Stühle, wenn man sie nicht schnell genug aus dem Weg geräumt hatte.
… dass er Valentin um Hilfe bat, …
Craton hatte schon viel gesehen; er hatte Verletzte verbunden, er war bei Sterbenden gewesen, er hatte schreiende Mütter bei der Geburt erlebt – aber diese krampfende Not seines Sohnes, das war etwas anderes, etwas Dämonisches, Grauenvolles. Eine Strafe der Götter. Keiner der Weisen und der Druiden und keines der Kräuterweiber wusste Rat gegen diesen Teufel, der da herrschte und wütete in seinem Sohn.
Valentin Nr. 1: So soll der echte Valentin von Terni ausgesehen haben, auf den sich der Valentinstag von heute bezieht. (Rekonstruktion von Cicero Moraes – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=63640962)
Nur von einem Christen in Terni hatte Craton gehört, der Wunder wirken sollte in der Heilung kranker Kinder. Christen waren nicht wohlgelitten im Reich des Kaisers Aurelian, aber Craton wollte nichts unversucht lassen. Einige Tagesmärsche musste der Priester aus Terni zurücklegen durch Hitze und Staub, vorbei an den finster dreinschauenden Milizionären des Kaisers, immer in der Angst, verraten zu werden, aufzufallen, anzuecken.
Schließlich erreichte der Priester das stolze Rom und suchte die prächtige Villa des Craton auf. Es lebten schon viele dort, Frauen, Gäste, Schüler. Jeden Tag gab es im Atrium ein großes Mahl, es fehlte nicht an Essen und Wein.
… und der bezahlte mit seinem Leben.
Valentin hieß der fromme Mann aus der Fremde, und noch am ersten Abend machte er sich bekannt mit dem kranken Sohn, erlebte bald einen seiner schaurigen Anfälle, durchlitt mit ihm die Qualen der Krankheit, die wir heute Epilepsie nennen. Wir wissen nicht, welche Wundermittel der christliche Priester eingesetzt hat. Die Legende erzählt aber, dass ihm die Heilung von Cratons Sohn gelungen sei, und dass ihm das nicht nur die Bewunderung des glücklichen Vaters, sondern auch die seiner weiteren Gäste und Schüler eingebracht hat.
Für den frommen Valentin war diese Popularität allerdings tödlich. Zurück in Terni wurde er von der römischen Staatsmacht verhaftet, gefoltert und am 14. Februar 269 hingerichtet. Drei von Cratons Schülern ereilte das gleiche mörderische Schicksal, weil sie sich – beeindruckt von seiner Heilkunst und seinem Glauben – um seine christliche Bestattung gekümmert hatten.
Soweit das überlieferte Geschehen vor fast 1800 Jahren. Die Heilkunst des Valentin ist inzwischen in den Hintergrund getreten, denn dem gleichen Bischof von Terni wird auch nachgesagt, dass er Liebespaare christlich getraut habe und ihnen dabei Blumen geschenkt haben soll. Die Quellenlage für solche Wohltaten ist mindestens so dürftig wie die für die Geschichte von Craton und seinem Sohn.
Heute verehren wir mit Rosen aus Kenia …
Aber was soll´s: Seit etwa siebzig Jahren hält – ausgehend von den USA – die Legende vom heiligen Valentin, der Ehen stiftete und Blumen verschenkte, der Blumenindustrie dafür her, am 14. Februar einen Vermarktungstag für Geschenke der Liebe zu veranstalten.
Die meisten Rosen, die an diesem Tag in Deutschland verschenkt werden, kommen übrigens aus Kenia, fliegen also gut gekühlt übers Meer in unsere Blumenläden, zuvor geerntet von Menschen, deren archaische Lebensbedingungen an das alte Rom erinnern. Gewächshäuser, so groß wir Fußballfelder, entziehen der natürlichen Vegetation das rare Wasser, Pflanzenschutzmittel für die teuren Rosen verseuchen die einheimischen Böden. Egal, Rosen müssen her, Rosen für die Liebe, Rosen im Namen eines Bischofs.
Und wo ist der Bischof der Liebe abgeblieben? Nicht weniger als 15 Orte in Europa nehmen für sich in Anspruch, Reliquien des Heiligen Valentin zu beherbergen. Eine Kirche am Ort des tragischen Enthauptungsgeschehens in Rom ist dabei, aber auch der Stephansdom in Wien, Kirchen in Polen, Irland und Großbritannien. In der langen Liste steht auch die Kirche St. Michael in Krumbach, ziemlich in der Mitte zwischen Stuttgart und München, im bayerischen Schwaben. Zu sehen ist dort ein liegendes Skelett hinter barockem Glas; anlassbezogen, aber geschmacklich diskussionswürdig, geschmückt mit vielen Blumen, roten Herzen und einer roten Tuchbahn mit rosa Herzen, die vom Seitenaltar herabhängt.
… auch einen Valentin in Schwaben.
Valentin Nr. 2: Die Valentins-Reliquie in St. Michael in Krumbach (Schwaben) im valentinesken Blumen- und Herzchenschmuck.
Sollte er das wirklich sein, der berühmte Liebesbote, der Namensgeber des Valentinstages? Beerdigt in der schwäbischen Provinz? Nein, meinte zum Missmut des Krumbacher Hotel- und Gaststättenvereins schon vor 15 Jahren Dr. Walter Plötzl, emeritierter Professor für Volkskunde gegenüber der „Augsburger Allgemeinen“. Zwar handele es sich bei der Krumbacher Reliquie ausweislich der mit der Leiche eingeführten Papiere tatsächlich um einen „Valentin“, aber ziemlich sicher nicht um den von Terni. „Das ist ein Katakombenheiliger“, winkte damals der Experte gelangweilt ab. Massenhaft wurden vor 500 Jahren antike Grabanlagen in Rom – die Katakomben – geöffnet und die dort verwahrten Knochen – viele davon vielleicht auch christliche Märtyrer – in die ganze damals bekannte Welt verbracht.
Der dritte wahre Valentin braucht keine Rosen
Die Spur der kenianischen Rosen zum Valentinstag führt auf der Suche nach einem wahren Valentin schließlich nach München. Februarsonne glänzt, die Glocken klingen, die Weißwürste dampfen im Sud. Der Markt erwacht. Die resolute Inhaberin des Blumenstandes am Viktualienmarkt – nennen wir sie „Resi“ – macht sich keine Gedanken über die Herkunft ihrer Rosen. „Vom Großmarkt“, antwortet sie lapidar auf entsprechende Fragen. Früh am Morgen war sie schon dort gewesen in den gekühlten Hallen am Stadtrand, hat sich eingedeckt für den Verkaufshype am Valentinstag.
Valentin Nr. 3: Dem wahren Karl Valentin hat München am Viktualienmarkt ein Denkmal gesetzt.
Die Frage nach dem Namensgeber dieses rosengeschwängerten Geschäftstages kann die Resi nicht wirklich aus der Ruhe bringen. „Was weiß ich, irgendein Heiliger halt“, ruft Sie pragmatisch-katholisch dem Besucher zu und bindet einen Rosenstrauß mehr. Und Recht hat sie, die Resi: Was soll sie einen echten Valentin suchen, da er doch um die Ecke steht? Wenige Schritte weiter plätschert das Brunnendenkmal für jenen dürren Mann, der in München als einziger wirklicher Valentin verehrt wird, und zwar das ganze Jahr über.
Karl Valentin, der unvergessliche Schauspieler, der viel mehr war als ein Komiker, sondern auch ein Philosoph, ein Dadaist, ein Vorreiter des surrealen Humors, dem in dieser Stadt nicht nur das Denkmal auf dem Viktualienmarkt, sondern sogar ein ganzes Museum gewidmet ist. Wer so einen Valentin hat – was soll er nach einem Heiligen suchen? „Ich bin kein direkter Rüpel“, meinte Karl Valentin über sich selbst, „aber die Brennnessel unter den Liebesblumen.“
Mehr über die Geschichte von Valentin, Bischofs von Terni, und seinen Tod im Jahr 269 hier:
Pfarrkirche St. Michael, Burgberg, 86381Krumbach (Schwaben)
Mein Besuch am 12. Februar 2022
St. Michael dominiert das Stadtbild von Krumbach.
Gelockt hat mich in diese Kirche die Geschichte des heiligen Valentin, des Namensgebers unseres „Valentinstages“. Unter den zahlreichen Gotteshäusern, die für sich in Anspruch nehmen, eine Valentins-Reliquie ihr Eigen zu nennen, zählt auch St. Michael.
Das stolze Gebäude steht am Rande der Krumbacher Altstadt oberhalb eines kleinen Flüsschens und beherrscht das Gewirr der einladenden Gassen des Städtchens, eine unbestrittene Dominante. Rokoko begrüßt den Besucher, der die Kirche betritt. Der Innenraum ist weitgehend in Weiß gehalten, Heiligenfiguren stehen im Kreis herum, prächtige Altäre ziehen den Blick an, keine Säule stört den Blick. Überall glänzt das Gold und strahlt der Marmor, und eine prächtige Deckenmalerei erzählt uns vom Teufel und dem göttlichen Plan zur Errettung der Welt.
Weiß, Gold und Rot – ein bunter, sinnlicher Innenraum, ….
Die Kirche wurde in der Mitte des 18. Jahrhunderts neu errichtet, wobei Mauerreste von Vorgängerbauten, insbesondere der Turm, einbezogen wurden, aber auf ein einheitliches barockes Bild von außen wie im Inneren geachtet wurde. Ich neige eher der Ästhetik der strengen Gotik zu, die Fülle von bunten Bibeldarstellungen, plastischen Engelen und frommen Figuren treibt mich stets in eine Abwehrhaltung gegen allzu viel missionarischem Eifer beim Kirchenbesuch. Das ist natürlich ungerecht. Und die ganz große Kunst in diesem Stil, wie sie zum Beispiel in der weiter südlich am Alpenrand gelegenen Wieskirche zu besichtigen ist, hat das Krumbacher Gotteshaus leider nicht zu bieten.
… und dazu ein eigener Altar für Valentin, den Märtyrer, zum Valentinstag passend geschmückt.
Dafür einen Valentin (wenn auch nicht den vom Valentinstag). Das Skelett lagert hinter Glas im linken Seitenaltar, beschriftet als „Valentin, Märtyrer“. Geschmückt war er zwei Tage vor dem „Valentinstag“ mit vielen bunten Blumen und roten Herzen. Nun ja. Ruhe er in Frieden.
Eine gute Zusammenfassung der Baugeschichte von St. Michael findet sich auf der Website der Pfarrgemeinde: http://www.st-michael-krumbach.de/
Stuttgart Hauptbahnhof – bitte alles aussteigen! Willkommen in der ersten Station unserer Reise zum Hass. Gebaut wird viel rund um den nun schon ziemlich heruntergekommenen Kopfbahnhof. Dreißig Jahren wurde diskutiert und gestritten, endlose Debatten und ein quälendes Hin und Her hat es gegeben. Die Politik von damals setzte schließlich den Baubeschluss für eine unterirdische Durchgangsstation durch. Sie säte Gewalt und erntete: Hass.
Jahrhunderte alte Baumriesen mussten für die Baugrube weichen, und so gab es an der Baustelle des Bahnhofs schaurige Bilder. Fast schien es so, als würden aus dem zusammengesunkenen Grün der tödlich verletzten Bäume immer mehr und immer neues hässliches Gewächs sprießen: Immer mehr staatliche Gewalt, immer wieder Prügelszenen, noch mehr schwer verletzte Demonstrierende.
Wohin soll´s gehen? Bild vom Hass gesucht
Auf zur nächsten Station! Stöbern wir, kaum hundert Meter vom Ort des hass-auslösenden Baugeschehens entfernt, durch die (auch digital verfügbaren) Bestände der stolzen Stuttgarter Staatsgalerie. Voll ist dieses Haus von Bildern, von Gemälden, die Emotionen zeigen, von Liebe und Mord erzählen. Nach dem Hass müssen wir lange suchen in den stillen Hallen des Museums.
„Hass oder Eifersucht“ von Jean Audran von 1727 nach Charles LeBrun, aus den digitalen Beständen der Staatsgalerie Stuttgart
Schließlich dreht uns doch ein junger Mann den Kopf entgegen, heftig nach rechts gewendet, seine tiefliegenden Augen blicken aus den Höhlen zornig hervor, sein starrer Blick fixiert voller Wachsamkeit und Ablehnung irgendetwas jenseits des Betrachters. „Hass oder Eifersucht“ nennt sich das Bild. Der französische Maler Charles LeBrun hatte sich vor mehr als 300 Jahren daran gemacht, in einem dicken Buch alle menschlichen Emotionen aufzuschreiben, zu definieren und mustergültige Zeichnungen über ihre Ausdrucksformen anzufertigen – eine Gebrauchsanleitung für das Malen von Emotionen.
Für unser heutiges Empfinden ist der hassende Jüngling aus der Staatsgalerie allerdings zu schön geraten. Denn Hass ist hässlich. Er sei eine „leidenschaftliche Abneigung“, schreibt Wikipedia, und diese beschränke sich nicht darauf, den Gehassten nur nicht zu mögen, sondern will ihm auch aktiv schaden. Ganz offensichtlich werden wir ohne Hass geboren. Ein Kind hasst nicht, vielleicht wird es zornig oder wütend. Auch eines Kindes Trotz, seine nervige Bockigkeit und hartnäckige Widerspenstigkeit – all dies erleben wir nicht als Hass. Irgendetwas muss also passieren zwischen dieser Zeit der Unschuld und dem Hass auf Andersdenkende, Andersgläubige, Anders-Lebende, auf „die da oben“.
Nächster Halt: Belohnung! Wer hasst, fühlt sich gut!
Wieder sind es nur wenige Schritte zur nächsten Reisestation. Von der edlen Bilderwelt der Staatsgalerie wechseln wir in das Untergeschoss des Hauses der Geschichte Baden-Württemberg. Dort beschäftigt sich (noch bis 24. 7. 2022) eine Ausstellung mit dem Hass. Wer hinabsteigt in den fensterlosen Keller des Museums findet fein säuberlich alle gesellschaftlichen Facetten dieser Emotion abgebildet: den Hass, der Kriege auslöst; den Hass, der Frauen tötet; den Hass, der Genozide antreibt, der den Mob entfesselt. Was allenfalls angedeutet wird in dieser Ausstellung ist die psychologische Herleitung – warum hassen wir?
Hass in allen gesellschaftlichen Facetten – im Keller des Hauses der Geschichte Baden-Württemberg. Foto: Daniel Stauch, bereitgestellt vom Haus der Geschichte Baden-Württemberg
„Ganze Völker erklären sich selbst für wertvoller, andere für minderwertig“, stellt Christian Stöcker in einem klugen Essay im „Spiegel“ fest: Das Herabschauen auf andere belohnt uns, und es macht uns süchtig auf immer mehr Belohnung, es tröstet uns über eigene Defizite hinweg. „Am Ende,“ meint Christian Stöcker, „so paradox das klingt, hassen Menschen andere Menschen – Juden, Schwarze, Ausländer, wen auch immer – um sich selbst besser zu fühlen. Verachtung als Methode der Selbstwertsteigerung.“
Ein Anschluss zum Verpassen: Der digitale Schnellzug zum Hass
Millionenfach geklickte und mit einem Herzchen geadelte Schadenfreude-Videos, „Daumen hoch“ für verbale Unflätigkeiten oder ekelhafte Hasspostings führen uns täglich vor Augen, wie sehr das stimmt. Die digitale Welt kann ein Schnellzug zum Hass sein. In den dunklen Ecken der Netzwerke türmt sich der Hass zu stinkenden Abfallbergen der Kommunikation, toxisch, im schlimmsten Fall tödlich. Und in den Dachkammern anonymer Einsamkeit fühlen sich manche großartig dabei, herabsetzende Hasstiraden per Tastendruck und Mausklick in die ganze Welt hinauszuposaunen.
Fahrscheinkontrolle!
Wenigstens gibt es Gegenbewegungen. Die Politik hat die Netzwerkbetreiber verpflichtet, Hass-Botschaften schnell zu entfernen und will bei der Polizei die Kapazitäten dafür schaffen, damit Verfasser strafbarer Inhalte auch tatsächlich bestraft werden. Gerade hat die Bundestagsabgeordnete Renate Künast dazu ein wichtiges Grundsatzurteil des Verfassungsgerichts erwirkt – auch als Person des öffentlichen Lebens muss sie nicht jede Form von Beleidigung hinnehmen.
Auch jeder Nutzer des Netzes kann selbst aktiv werden gegen Hass: Einmal länger überlegen, was man da schreibt. Sich nicht auf einlassen auf die Rattenlogik: Je schärfer dahingerotzt, desto mehr Belohnungs-Herzchen oder Daumen-rauf-Bildchen, desto besser fühlt man sich. Hasspostings konsequent melden, damit sie gelöscht und verfolgt werden können; unangemessener Sprache aktiv entgegentreten. Wir sind nicht machtlos gegen den Hass.
Bitte nachlösen: Hass ist überwindbar
Die Reise führt uns zurück zum alten, noch in Betrieb befindlichen Stuttgarter Bahnhof. Wir stolpern nun, mehr als zehn Jahre nach der Eskalation des Hasses, durch ein Gewirr von Baugruben, mäandern herum auf provisorischen Wegen und Übergängen, zwängen uns hindurch zwischen klapprige Bauzäune und vorbei am röhrenden Gewühl der Bagger und Betonpumpen. Denn der neue Bahnhof wächst, viele seiner künftigen Lichtaugen schielen bereits, noch blind ohne ihre Glasabdeckung, aber gut erkennbar, in den Stuttgarter Winterhimmel.
Hass kann überwunden werden – eine Szene von der Baustelle am Stuttgarter Hauptbahnhof, Januar 2022
Nach der Eskalation gab es eine öffentliche Schlichtung, dann eine Volksabstimmung, schließlich eine behutsame Rückkehr zur sachlichen Debatte. Noch immer wird gestritten und geklagt. Mit manchem haben die Kritiker Recht behalten; so wird der Untergrundbahnhof ein Vielfaches dessen kosten, was einmal geplant war. Verschwunden sind aber die hasserfüllten Parolen, abgekratzt die Aufkleber der Ablehnung. Es gibt schließlich auch wichtigeres als ein paar Gleise unter schwäbischer Wohlstandsbebauung.
Einsteigen bitte!
Zum Abschluss unserer Gefühlsreise wartet ein französischer Schnellzug abfahrbereit am Bahnsteig. Hinaus in die Welt geht es, Richtung Westen, ein knappes Stündchen nur. Unsere Urgroßväter hielten noch vor 100 Jahren in waffenstarrem Hass-Überschwang die „Wacht am Rhein“. Heute gleitet der Zug zwischen Kehl und Straßburg ohne Halt hinweg über den breiten Strom, hinein in das schöne Nachbarland, ohne Passkontrolle, ohne Geldumtausch. Was für eine wunderbare Belohnung!
St. Lambertus, St. Lambertus-Kirchplatz 20, 48317 Drensteinfurt-Walstedde
Mein Besuch am 5. Februar 2022
Ein Kirchplatz, der zum Verweilen einlädt, eine Glocke, die den Schlaf unterbricht: St. Lambertus in Walstedde
Diese Kirche hat mich aufgeweckt, im wörtlichen Sinne. Als Gast im unmittelbar daneben gelegenen Hotel schreckte ich um 6.15 Uhr beim Schlag der Glocke aus dem morgendlichen Schlaf und hatte auch sofort verstanden, warum das Hotel freundlicherweise Ohrstöpsel auf den Nachttisch der sonst so wunderbar ruhig gelegenen Herberge platziert hatte. Aber die Schallschutzfenster ermöglichten dann ebenfalls die Fortsetzung des Schlummers bis in den hellen Morgen.
Alles in Weiß: Der Innenraum von St. Lambertus
St. Lambertus ist ein kleines Kirchlein, im Zentrum eines harmonischen Kirchplatzes, der anmutig und einladend gestaltet ist. Viel Grün und lockere Bebauung umgibt diesen Ort. Die Harmonie findet seine Entsprechung auch im Inneren der Kirche, die außen wie innen weitgehend in Weiß gehalten ist. Der Kirchenbau zeigt sich im Stil der Renaissance, ein mächtiger Bogen am Eingang lässt nach meinem Eindruck jedoch auf ältere Vorgängerbauten schließen. Schmale weiße Säulen stützen die Empore, die eine zierliche Orgel von 1876 trägt. Ein wuchtiges Kreuz dominiert den Altarraum, uralt soll es sein, angeblich von 1150. Ich kann das weder beurteilen, noch hat es mich sehr beeindruckt. Mehr berührt hat mich die Tafel mit kleinen Kreuzen für die in der Gemeinde Verstorbenen, an die dort für ein Jahr nur mit dem Vornamen erinnert wird. Danach wird das kleine Kreuzchen den Angehörigen übergeben. Eine schöne Idee des Gedenkens!
Gedenken an die Verstorbenen der Gemeinde – ein Jahr lang.
Ach ja, und die Glocken. Die älteste, die „Marienglocke“, soll bereits von 1500 stammen. War sie es, die mich geweckt hat?
Stiftskirche St. Georg, Holzmarkt 1, 72070 Tübingen
Mein Besuch am 14. Januar 2021
Das Lichtspiel der modernen Fenster von Emil Kiess im Langschiff der Tübinger Stiftskirche
Wenn die Sonne seitlich herein scheint, dann werfen die modernen Fenster buntes Licht auf das alte Gemäuer. Was für ein schönes, intimes Licht! Diese Fenster stammen aus dem Jahr 1964 und wurden vom württembergischen Maler Emil Kiess gestaltet. Sie zählen damit zu den modernsten Elementen dieser Kirche, die sonst seit dem Ende des 15. Jahrhunderts in der heutigen Gestalt und Höhe das Tübinger Stadtbild bestimmt.
Die dreischiffige Kirche ist weit und groß und lädt mit sanftem Licht zum Verweilen ein, auch zum Stöbern nach Überraschungen, etwa den Schnitzereien im Chorgestühl. Dieses Gestühl stammt aus den Gründungsjahren der Kirche, hat alle Unbill der Zeiten überlebt, stehen jetzt allerdings reichlich randständig links und rechts vom Altarbereich. Da Gestühl hätte ein en besseren Platz verdient, zumal in diesen Holzbänken die weltberühmte Tübinger Universität gegründet wurde. Beeindruckt hat mich auch die Schnitzkunst an der Kanzel aus dem Beginn des 16. Jahrhunderts, wo sich vermutlich der Holzbildhauer selbst als höchst sympathisches „Tübinger Kanzelmännchen“ verewigt hat.
Der Künstler höchstselbst? Das Tübinger Kanzelmännchen stammt vom Anfang des 16. Jahrhunderts.
Bei meinem Besuch war der Chorraum verschlossen. Er enthält zahlreiche württembergische Fürstengräber und wird geschmückt von den berühmtesten Glasfenstern dieser schönen Kirche, die angeblich bereits Goethe begeisterten. Geschaffen wurden sie von Peter Hemmel von Andlau noch vor 1500. Und das Licht leuchtet bis heute hindurch auf die Stille der Gräber. Der Besucher kann es sich bewusst machen, dann fasst er nach einem kleinen Zipfel der Ewigkeit.
Das einzige Windrad von Stuttgart dreht sich auf dem „Grünen Heiner“.
Man kann die Kraft hören. Das Geräusch des Rotors, ein tiefes Brummen und gleichzeitig ein pulsierendes Sirren, begleitet den Wanderer schon, wenn er noch unten am Hügel steht. Es ist der Wind, der den Rotor antreibt, unablässig, immer im Kreis herum, Drehung um Drehung, Minute um Minute, Stunde um Stunde. Dann, ein paar Schritte des Aufstiegs später, auf dem Gipfel des kleinen Hügels, knappe hundert Meter über der Landschaft, dominiert das schneidende Geräusch der Kraftentfaltung. Strom entsteht nicht lautlos in der Steckdose, Strom entsteht hier. Der Rotor teilt die Luft, emotionslos, gleichmäßig, ohne Unterlass, ohne Aufregung, ohne Taktung, ohne begleitenden Eingriff des Menschen. Allein und stolz und kraftstrotzend steht es im Wind, das einzige Windrad von Stuttgart auf dem „Grünen Heiner“.
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Robert Habeck, Minister für Wirtschaft und Klimaschutz (Foto: BMWK)
Es drehte sich auch an jenem Vormittag Mitte Januar 2022, an dem im holzgetäfelten Saal der Bundespressekonferenz in Berlin der neue Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz Gast der Hauptstadtpresse war. Eben hatte er ihnen dargelegt, wie groß die Lücke an grüner Energie ist, die es zu schließen gilt, wenn die weltweit vereinbarten CO-2-Einsparziele erreicht werden sollen. Grafiken und Tabellen hatte er den gierig klickenden und surrenden Kameras entgegengehalten. Ohne einen radikalen, schnellen, energischen Ausbau der Windenergie sei das nicht zu schaffen. Nun war der Minister gefragt worden, wie er mit der Gefahr umgehen würde, persönlich zu scheitern, falls er seine selbst gesteckten Ziele nicht erreichen sollte. Robert Habeck musste kurz nachdenken. „Hölderlin hat mal gesagt“, setzte er schließlich an, und zitierte dann den schwäbischen Dichter: „Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“
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500 Kilometer südlich: Die Wintersonne scheint in den Museumsraum. Kahles Geäst streckt sich vor den Fenstern, lautlos friedlich fließt der Neckar vorbei. Dickes Panzerglas schützt ein unersetzliches Original. Eigentlich gehört es hinter die gesicherte Archivtüren der württembergischen Landesbibliothek in Stuttgart. Jetzt aber wurde es aus dem Archiv geholt – für eine Sonderausstellung im Hölderlin-Turm in Tübingen. Sanftes Licht schont die in sauberer Handschrift gesetzten Zeilen des Dichters: „Nah ist / Und schwer zu fassen der Gott. / Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch.“
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Der Hölderlin-„Turm“ in Tübingen, davor ein Denkmal für Friedrich Hölderlin von Ivo Beuker
Kalt und eisig ist es in diesen Wintertagen zwischen den Fachwerkgassen der hügeligen Tübinger Altstadt. Dort hat der Dichter Friedrich Hölderlin die zweite Hälfte seines Lebens verbracht (von 1806 bis zu seinem Tod 1843), nicht gerade eingesperrt, aber doch wegen des Verdachts auf behandlungsbedürftigen Wahnsinn in seinen Freiheitsrechten stark eingeschränkt. Genutzt wurde dafür ein „Turm“, der mehr ein einladender Runderker ist mit Panoramablick auf das vorbeieilende Flüsschen. Das von Habeck zitierte Gedicht hat Hölderlin dort nicht geschrieben, es war schon fertig, als der oftmals unglückliche Dichter gegen seinen Willen gewaltsam in die Universitätsklinik Tübingen eingewiesen wurde. Seine heute bewunderte anspruchsvolle Ausdrucksform in Gedichten wurde zu seinem Unglück, wurde sie doch als Teil seiner Krankheit gedeutet. Hölderlin war seiner Zeit um ein Vielfaches voraus, er quälte sich selbst und seine Mitmenschen damit. Seine Verse sprengten die damaligen Gewohnheiten, sie reichten deutlich über das übliche romantische Reimen hinaus, und frühzeitig hinein in das, was wir heute modere Lyrik nennen. Laut stampfend und trommelnd soll er durch seine turmähnlichen Gemächer getrampelt sein, um so den Rhythmus seiner Gedichte am ganzen Körper zu spüren. Es war sicher kein leichtes Leben mit Hölderlin, und viele, die ihm nahestanden, erkannten darin gleichermaßen das über seine Zeit hinausreichende Genie, wie auch die schwer verständlichen Wallungen eines erregten Geistes.
In „Patmos“ geht es um das Göttliche
Die von Habeck zitierten Worte stehen fast ganz am Anfang eines viel längeren Gedichts mit dem Namen „Patmos“, das sich über insgesamt 250 Zeilen dahinzieht. Dabei geht es um nichts Geringeres als das Göttliche. Hölderlin sollte Pfarrer werden, quälte sich – der verwitweten Mutter gehorsam – durch ein theologisches Studium, weigerte sich dann aber, den Dienst der Kirche anzutreten.
Der Dichter, so schreibt Sandra Potsch vom Tübinger Museum Hölderlinturm in einem klugen Begleitheft zur Sonderausstellung für das Gedicht „Patmos“, sehe sich „inmitten einer gottverlassenen Welt, die dem in der Apokalypse prophezeiten Ende nahe scheint.“ Gleicht hier Robert Habeck dem schwäbischen Poeten? Woher könnte das Rettende denn kommen, für Hölderlin vor der Apokalypse, für Habeck vor der Klimakatastrophe? Die Lyrikerin Olga Martynova analysiert dazu an gleicher Stelle kühl: „Das erste, was in ´Patmos’ unmittelbar nach dem Versprechen des Rettenden passiert: Ein Genius entführt den Dichter und bringt ihn in sein Sehnsuchtsgriechenland.“
Wo liegt Habecks Sehnsuchtsland?
Wo liegt wohl das Sehnsuchtsland des Klimaministers? Wir verlassen an dieser Stelle den Hölderlin-Turm und ziehen weiter durch die schwäbischen Lande. Was für Hölderlin die Insel Patmos war, ein gedanklicher Sehnsuchtsort, das könnte das Schwabenland für den Politiker Habeck sein. Grün regiert und grün durchdrungen ist er wie kein anderer Landstrich unserer deutschen Heimat. Wo, wenn nicht hier, sollte das Rettende wachsen, der Wind wehen, der Habecks politische Windräder antreiben könnte?
Wer aber hinaufsteigt auf die Tübinger Hügel, ganz hoch, vorbei an den Villen der Universitätsprofessoren und den Palästen der Studentenverbindungen, wer dann hinausschaut ins weite Land der Badener und Schwaben, der sieht erstmal nichts von der rettenden Kraft der Windräder. Im bundesweiten Vergleich ist Baden-Württemberg weit abgeschlagen beim Ausbau der Windenergie. Nur 779 von fast 30.000 deutschen Land-Windrädern stehen zwischen Bodensee und dem Mannheimer Wasserturm – keines davon auf Tübinger Landen, und nur eines auf dem Grund der nahen Landeshauptstadt Stuttgart.
Einzeln und stolz ragt dieser Solitär in die grüne Hügellandschaft, grüßt hinüber zur nahen Autobahn. „Grüner Heiner“ heißt der Schuttberg, den die Urgroßeltern der Fridays-for-future-Generation aufgeschüttet hat aus den Ruinen der Gewaltherrschaft und des Krieges. Aufgetürmt haben sie den schwäbischen Nazischutt, die zerborstenen Hakenkreuze, die verbrannten Dachstühle, die ganze im Bombenhagel zerbröselte erste Hälfte dieses Jahrhunderts zu fast 400 Metern über Normal-Null. Dann wuchs im wörtlichen Sinne Gras drüber über das, was da angehäuft war, und es machte den „Heiner“ grün.
Das Windrad dreht sich seit 20 Jahren
Eine gute Sicht hat man von dort oben, und der Wind weht auch kräftig. So fanden sich 1999, zu einer Zeit, als das noch sehr außergewöhnlich war, naturbewegte Bürger in einer Initiative zusammen, gründeten eine eigene Firma und stellten gemeinsam und selbst finanziert ein Windrad zur Stromgewinnung auf diesen Hügel. Seit 20 Jahren dreht es sich dort und ist inzwischen ziemlich veraltet. Vor eineinhalb Jahren wurde in der auch damals schon tiefgrünen Schwabenmetropole ernsthaft diskutiert, ob das Windrad auf dem Grünen Heiner nicht ganz abgebaut werden sollte. Der Stuttgarter Energieversorger winkte noch 2019 müde ab: Man habe bereits mehrere moderne Windkraftanlagen im Portfolio, und sei daher an der alten Mühle am Stuttgarter Stadtrand „nicht interessiert“.
Immerhin: Das Rettende wächst
Doch siehe da: Kaum haben streikende Schülerinnen und Schüler regelmäßig den Freitagsverkehr der Innenstädte gestört, kaum hat sich Klimapolitik in quälenden Konferenzen durch die Weltpolitik gedrängt, kaum ist mit Hilfe der „Ampel“ die Dringlichkeit der Energiewende auch auf höchster Regierungsebene angekommen – schon wendet sich der Wind. Die Betriebsgenehmigung für das alte Windrad auf dem „Grünen Heiner“ konnte nun doch verlängert werden, und nach dem Einstieg eines konkurrierenden kommunalen Energieversorgers sind jetzt auch die Stadtwerke Stuttgart interessiert am alten Windrad. Die Erneuerung durch ein moderneres ist in der Planung.
Die Apokalypse, wenn sie denn bevorsteht, werden die beharrlich dahindrehenden Rotorblätter auf dem „Grünen Heiner“ nicht abwenden können. Aber immerhin: Das Rettende wächst.
Das Museum Hölderlinturm informiert über den Dichter und das Gedicht „Patmos“, man kann dort auch das komplette Gedicht und das Begleitheft der Sonderausstellung digital einsehen: https://hoelderlinturm.de/
Die Sonderausstellung ist noch bis 2. Februar 2022 in Tübingen zu sehen, danach bis 24. Juli 2022 im Hölderlin-Zentrum in Bad Homburg
Wie wäre das Leben der jungen Frau verlaufen, wenn sie nicht schon als junges Mädchen hätte arbeiten müssen in einer Spelunke auf dem Land? Wenn sie sich nicht als 15-jährige als Dienstmädchen in Paris verdingt hätte, damit sie ihren Eltern nicht länger auf der Tasche lag? Es war die blanke Tristesse ihres jungen Lebens, aus der sie sich befreien wollte, als sie begann, ihre Schönheit zu verkaufen. Fortan war sie abhängig von den Männern, die sich mit ihr schmücken wollten, sie verehrten und benutzten. Wie die Motten umschwirren die Männer der Gesellschaft in der Inszenierung von Andreas Homoki diese schöne Frau im prächtigen weißen Kleid schon gleich zu Beginn auf der spiegelglänzenden Bühne der Oper am Rhein in Düsseldorf: gierig, lüstern, besitzergreifend.
Noch dazu ist die schöne Frau sterbenskrank. Marie Duplessis hat bis 1847 in Paris gelebt und war das historische Vorbild für die Oper „La Traviata“ mit der suchtauslösenden Musik von Guiseppe Verdi zu einem Libretto von Francesco Maria Piava. Sie starb mit 23 Jahren an Tuberkulose. Nach ihr hat Alexandre Dumas den Roman „Die Kameliendame“ verfasst, dessen Schauspielfassung Verdi in Paris selbst gesehen hatte und sich damit von diesem Stoff anregen ließ zur „Traviata“ – „der vom Weg abgekommenen“.
Violetta stirbt auch an gesellschaftlichen Verhältnissen
Hin- und hergerissen zwischen Luxus und Todesgewissheit: Violetta und Alfredo in „La Traviata“. Foto: Birgit Hupfeld, bereitgestellt von Deutsche Oper am Rhein
Also ist auch Verdis Violetta am Ende des Opernabends tot. Sie stirbt an ihrer damals unheilbaren Erkrankung, aber auch an den gesellschaftlichen Verhältnissen, die der Gefallenen keinen sozialen Aufstieg erlauben. Die es den Männern leicht machen, die Frau in ihrer Mitte herumzuschubsen zwischen Eifersucht, Eitelkeit, Zorn und Demütigung. Schließlich aber stehen sie alle ratlos herum um das Totenbett. Das Finale der Oper „La Traviata“ hat nur wenige Takte, aber es zählt szenisch wie musikalisch in seiner vorwurfsvollen Endgültigkeit zu den wuchtigsten, stärksten musikalischen Momenten, die Musiktheater erzählen kann. Denn in diesem Moment des Todes, der eigentlich nach Stille verlangt, schlägt die Musik mit voller Wucht zu. In fünf kräftigen Orchestertutti haut Verdi wie mit der Faust auf einen apokalyptischen Tisch: Wumm – wamm – wumm – wamm – dann ein Trommelwirbel – ein längerer Verzweiflungsschrei in Musik und schließlich ein letzter, alles mitreißender Donnerschlag, der diese ratlosen Männer hinwegfegt, sie alle hineinreißt in den Abgrund des Schicksals, und uns alle gleich mit.
Diese Opernszene gibt es auch in „Pretty Woman“
Was für eine Magie der Töne! Vielleicht aus diesem Grund hat es genau diese Schlussszene in den Film „Pretty Women“ geschafft. Die erste Opernerfahrung der schönen (von Julia Roberts gespielten) Prostituierten Vivian rührt diese zu Tränen. Denn es sind trotz aller Verzweiflung Momente der Erlösung, die sich nach jeder Vorstellung von „La Traviata“ Bahn brechen und Stürme der Begeisterung auslösen, oft schon in die letzten Klänge des wuchtigen Finales hinein. Es ist eine Erlösung darüber, dass dieser emotional-romantische Albtraum ein Ende hat. Violetta ist tot, und der Tod ist immer ungerecht. Aber wir dürfen leben!
„La Traviata“ ist eine der meistgespielten Opern der Welt, eine „sichere Bank“ für jeden Opernintendanten. Opernanfängern wird häufig geraden, mit der „Traviata“ zu beginnen, sich mit Violettas und Alfredos Hilfe einzulassen auf dieses seltsame Genre, in dem kaum gesprochen, dafür aber lange gesungen wird. Es ist vor allem die Musik von Giuseppe Verdi, die eingängig dahinschmelzend den Zuschauer hineinsaugt in diese romantisch-tragische Welt, für manche vielleicht sogar zu süßlich, für andere suchtauslösend.
Dazu kommt eine Handlung, die jedes Herz erreicht, wenn es denn nicht ganz aus Stein ist: Eine junge Prostituierte Violetta muss weitermachen in ihrem Teufelskreis aus Verkäuflichkeit und Demütigung, weil sonst ihr Leben schon rein finanziell kollabiert. Da trifft sie auf Alfredo, der anders ist als alle anderen, der sie im Wissen um ihre Vorgeschichte umwirbt. Sie schwankt zwischen den luxuriösen Vergnügungen ihrer Käuflichkeit und den Verlockungen der Bindung, und entscheidet sich schließlich für die Liebe. Die Symptome der Krankheit verschwinden, das Paar hat zwar kein Geld mehr, aber sie planen eine gemeinsame Zukunft. Da greift Alfredos Vater ein: Der gesellschaftliche Sittenkodex könnte den Ruf der Familie gefährden, er fordert daher die junge Frau und später auch seinen Sohn auf, voneinander zu lassen. Violetta nimmt im Wissen um ihren baldigen Tuberkulose-Tod und aus Liebe zu ihrem Alfredo alles auf sich, lässt ihren Geliebten im Unwissen darüber, dass sie einem Eingriff seines Vaters folgt und erregt so seinen eifersüchtigen Zorn. Viel zu spät erkennen alle Männer, was sie da angerichtet haben.
Sollten wir uns das heute ansehen?
Sollten wir uns das heute ansehen? Unbedingt! Der gesellschaftliche Stand bestimmt noch immer den sozialen Standort. „La Traviata“ erzählt uns die Geschichte derer, die „vom Wege abkommen“ (wie die Übersetzung des Operntitels wörtlich lautet) und sich heute im Elend der Bordelle am Stadtrand, in der Gewaltwelt der Clans oder im digitalen Shitstorm wiederfinden. Verdis Oper war schon bei ihrer Uraufführung 1853 (nur sechs Jahre nach dem Tod der Marie Duplessis) nicht nur eine tragische Liebesgeschichte, sondern harte Sozialkritik, und sie ist es bis heute.
Leidenschaft auf einer aseptisch anmutenden Spiegelfläche: „La Traviata“ in Düsseldorf. Foto: Birgit Hupfeld, bereitgestellt von Deutscher Oper am Rhein
So schön dahinschmelzend wurde der Gesellschaft allerdings noch selten der Finger in die Wunde gelegt. Die zwanzig Jahre alte Inszenierung von Andreas Homoki an der Düsseldorfer Oper am Rhein macht es mit ihrer ästhetischen Strenge dem Opernfreund nicht gerade leicht, sich in diesen tragischen Stoff hineinzuschwelgen. Das Bühnenbild wechselt nicht, die ganze Handlung spielt auf einem aseptisch anmutenden, verspiegelten Bühnenrund, allein die Prachtgewänder der Damen und die überraschend aus dem Glasboden sprießenden Plastikblumen sorgen für etwas Sinnlichkeit. So muss man sich vom Rausch der Stimmen dahintragen lassen in die tragische Geschichte der Violetta. Verdis Musik und das Mitleid im wahrsten Sinne des Wortes mit diesem schicksalhaften Leben zwischen Luxus und Demütigung, zwischen Lebenswillen und Todesgewissheit, trägt durch den Opernabend.
Als Violetta schließlich tot dahingesunken ist auf die glänzende Spiegelfläche der Düsseldorfer Bühne, wissen wir, dass es Hoffnung gibt. Heute ist die Tuberkulose heilbar. Violetta könnte leben.
„La Traviata“ wird immer wieder an zahlreichen Opernhäusern in Deutschland gezeigt. Inspiration für diesen Text war mein Besuch in der Oper am Rhein in Düsseldorf. Dort gibt es weitere Aufführungstermine bis Mitte April 2022. Zur Website der Deutschen Oper am Rhein: https://operamrhein.de/de_DE/termin/la-traviata.16830039
Dieser Text erhebt nicht den Anspruch einer Aufführungskritik. Mein Fokus liegt ausschließlich auf dem (kultur-)politischen Aktualitätsbezug von Werk und Inszenierung. Daher gibt es in diesem Text auch nur Bemerkungen zur Konzeption der Inszenierung, nicht zu den Leistungen von Sänger/innen und Orchester.
Das Ulmer Münster, eine Kirche der Superlative, betritt der Besuchende durch den schmalen Seiteneingang. Es ist ein unscheinbarer Vorraum, den man betritt, immerhin eröffnet er den Blick in eines der insgesamt vier Seitenschiffe, dessen Raumprogramm alleine für manche Kirche längst ausreichen würde. Streng genommen handelt es sich um jeweils ein Seitenschiff auf Nord- und Südseite, die aber schon im 15. Jahrhundert aus Stabilitätsgründen unterteilt wurden. Der staunende Gast muss sich also nach rechts wenden, um die Kirche in ihrer ganzen Dimension erfassen zu können. Steht er endlich am westlichen Ende des Kirchenraums, unter dem über ihm in den Himmel stürmenden Turm (und lässt er sich an dieser Stelle nicht von den leider auch hier nicht kommentierten Gedenktafeln an Kriegsgefallene ablenken) – dann kann dieser gewaltige gotische Kirchenraum endlich in Gänze wahrgenommen werden.
Das Ulmer Münster ist die größte evangelische Kirche Deutschlands, und sie nennt den höchsten Kirchturm der Welt ihr eigen, zumindest so lange noch, bis die Sagrada Familia in Barcelona einmal vollendet sein wird. Wer nach Ulm fährt, muss nicht suchen, um das Münster zu finden, es ragt weit über die kriegszerstörte und wieder errichtete Bebauung der Stadt hinaus, es dominiert das Stadtbild schon vom weitem.
Fast 125 Meter lang, mehr als 40 Meter hoch: Das strenge Münster schüchtert mit seinen Dimensionen ein.
Die gotische Raumwirkung – fast 125 Meter lang, das Hauptschiff mehr als 40 Meter hoch – hat mich denn auch erwartungsgemäß überwältigt. Wie verloren irrt der ehrfürchtige Kirchengast durch den strengen Säulenwald, sucht Halt an den Kunstwerken, den Skulpturen, den stummen zeigen, die im gedämpften Winterlicht ausharren, das durch die teils noch in ihrer Notverglasung nach der Kriegszerstörung verharrenden hohen Fenster hereinströmt.
Beeindruckt hat mich neben den Dimensionen, neben der gotischen Strenge am Münster vor allem auch die Baugeschichte: Den etwa 10.000 Ulmer Bürgern war es – noch vor der Reformation – zu dumm geworden, für den Kirchgang vor die Stadt zu pilgern und noch dazu in ihrer Glaubensausübung abhängig zu sein von den Mönchen des Klosters Reichenau im Bodensee, dem die Ulmer Pfarrei unterstellt war. Also begannen sie 1377, mit eigenen Mitteln eine Kirche innerhalb ihrer Stadtmauern zu errichten, finanziert durch Spenden der gläubigen Bürgerschaft. Knapp 150 Jahre später war die Reformation im Gange, und die Ulmer Bürger (genauer: die Männer) stimmten in namentlicher (!) Abstimmung mehrheitlich dafür, dass Ulm mitsamt der halbfertigen Kirche nun evangelisch sein sollte. Damals hatte der Turm erst eine Höhe von 100 Metern, seine heutige Höhe erreichte er in der Neugotik im Jahr 1890.
Über die Jahrhunderte in einer niemals endenden Aufgabe vereint: Gedenktafeln für die Ulmer Dombaumeister.
Der Erhalt des gewaltigen Bauwerkes ist bis heute eine anhaltende Aufgabe der Bürgerschaft. Stolz weisen örtliche Firmen, aber auch eine bundesweit agierende Drogeriekette, deren Geschäft unweit des Münsters steht, auf ihre unterstützende Rolle für die Dombauhütte hin, die sich um das stetig bröckelnde Gestein und den Erhalt der Statik aus früheren Jahrhunderten bemüht. So ist die Himmelstürmende in Ulm auch ein Symbol für eine mutige Vision und dafür, was der gemeinsame Wille engagierter Menschen erreichen kann. Koste es, was es wolle.
Der Ulmer Spatz – hier das Original, das auf Augenhöhe innerhalb des Münsters zu besichtigen ist. Um den Spatz auf dem Dach zu entdecken, muss man schon genau hinsehen und an einer geeigneten Stelle stehen.
Wie das Schöne politisch wird – eine Stuttgart-Erfahrung
Ein stolzes Kunstwerk: Das Bronzepferd von Fritz von Graevenitz von 1939 zur Eröffnung der „Reichsgartenschau“ auf dem Killesberg.
Ein Pferd sollte her! Wir befinden uns in Stuttgart, das ein Pferd in seinem Wappen führt, weil sein Name sich von einem Garten für Stuten ableitet. Ein stolzes Pferd sollte es also sein!
So oder so ähnlich mögen die Verantwortlichen der ersten Gartenschau am Neckar sich das gedacht haben. Eine „Reichsgartenschau“ sollte 1939 eröffnet werden, und so wurde der Auftrag erteilt, den schönen Park über der Stadt nicht nur mit Hakenkreuz-Flaggen, sondern auch mit einem Denkmal-Pferd zu schmücken.
Ein trauriger Torso: Graevenitz´ Pferd aus Muschelkalk am Eingang des Höhenparks Killesberg
Wer heute den Schauplatz betritt, der noch immer ein schöner Park ist, muss genau hinsehen, wenn er am Eingang noch ein Pferd erkennen möchte. Ein steinerner Torso fristet dort sein trauriges Dasein, angenagt von Wetter und Zeit. Sollte das hier das stolze Pferd von Stuttgart sein? Man kann es kaum glauben. Und es ist auch das falsche Pferd, zwar drei Jahre früher entstanden, aber erst seit den 70er Jahren hier aufgestellt.
Also ein paar Schritte den Hang aufwärts, hinein in den Park! Dort oben blinkt und lockt es schon im Sonnenlicht, das stolze Pferd von 1939, diesmal ein schmucker Bronzeguss. Dieses Pferd ist zeitlose Kunst, eine Pracht von Kraft und Energie, erstarrt in seiner aufstrebenden Bewegung. Eine Verbeugung vor der Schöpfung, die es vermocht hatte, ein solches schönes Geschöpf entstehen zu lassen.
Die beiden Pferde, der steinerne Torso wie auch das schöne aus Bronze (genauer gesagt: ein Nachguss von 1955) sind zu besichtigen im Höhenpark Killesberg in Stuttgart. Kaum jemand achtet heute auf das verschlissene Steinpferd am Eingang, aber fast jede und jeder Stuttgarter/in kennt den Pferderücken aus Bronze. Keine Kindheit in dieser Stadt, während der man nicht den in luftiger Höhe über der Stadt liegenden Park besucht hätte, seine Spielplätze, die kleine Kirmes, den Aussichtsturm, das Höhencafé, das sommerliche Lichterfest.
Das Bronze-Pferd steht dort mittendrin an zentraler Stelle. Abertausende Stuttgarter Kindesbeine haben schon seinen glattpoliert glänzenden Rücken erstiegen, haben des Hals dieses starren, stolzen Geschöpfs umarmt. „Das größte Glück der Erde …“ – für manches Kind lag es auf diesem Rücken.
Ein Museum, …
Geschaffen hat beide Pferde der Stuttgarter Bildhauer Fritz von Graevenitz, der von 1892 bis 1959 lebte, hochgeachtet als Künstler und bis 1945 Leiter der Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart. Graevenitz entstammte altem württembergischem Militäradel, erlitt schwer Verwundungen im ersten Weltkrieg, aus dem seine beiden Brüder nicht zurückkehrten. Fritz von Graevenitz wusste wohl aus eigenem schmerzhaftem Erleben, was Krieg bedeutet, und vielleicht auch deshalb konzentrierte sich ein großer Teil seines Schaffens ganz politikfern auf die künstlerische Darstellung von Tieren.
Aber leider auch auf Portraitbüsten.
Denn Fritz von Graevenitz erfuhr nicht die Gnade der späten Geburt (wie Helmut Kohl über sich sagte), sondern musste während des Nationalsozialismus leben. Wer hinaufsteigt am Nordwestrand von Stuttgart auf die „Solitude“, das Lustschloss württembergischer Herzöge, kann dort sonntags ein kleines Museum besichtigen, das sich Graevenitz widmet. Viele Tiere in Bild und Skulptur sind dort zu sehen, und auch Portraitbüsten – Darstellungen seiner Frau, seiner vier Töchter in unterschiedlichen Altersstufen, ein frühes Portrait seines Neffen Richard von Weizsäcker.
… das Wichtiges verschweigt
Und – politisch besonders erläutert – die Büste von Rudi Daur, einem evangelisch-pietistisch orientierten Pfarrer, der sich nach dem ersten Weltkrieg für eine Überwindung des Militarismus eingesetzt hatte. Das Vorhandensein dieser Erläuterung ist von Bedeutung, weil sie bewusst ablenkt von dem, was dezidiert nicht zu sehen ist und auch mit keinem Wort erwähnt wird. Fritz von Graevenitz fertigte im Jahr 1935 eine Portraitbüste von Adolf Hitler, die vielmals kopiert im ganzen deutschen Reich zu sehen war.
Schmucker Bau, fragwürdiger Inhalt: Das Graevenitz-Museum bei der der Stuttgarter Solitude.
Im Stuttgarter Graevenitz-Museum aber ist die Zeit stehen geblieben in den 60er Jahren unserer Republik. Hier wird einmal tatsächlich eine sprichwörtliche „Geschichte vom Pferd“ erzählt. Nicht nur, weil sich auch hier mehrere Studien und Gemälde von Pferden finden, sondern weil es keinen Hinweis auf die Rolle des Künstlers im sog. „Dritten Reich“ gibt. Der Kunstfreund, der sich hierhin verirrt, wird im Unklaren gelassen über fragwürdige Aufträge der Nationalsozialisten und verfehlte kulturpolitische Einordnungen, die Graevenitz als Direktor der Stuttgarter Kunstakademie kriegskonformistisch verlauten ließ. Künstlerische Irrtümer und politische Fehltritte waren das. Es steht nicht an, über diese zu richten. Aber ihr Verschweigen durch die Nachkommen darf man als Skandal empfinden.
Trägt das Pferd eine vergiftete Ladung in sich?
Was ein Museumsbesuch bewirken kann! Auch der Blick auf das stolze Bronzepferd von 1939 wandelt sich. Was für eine prachtvolle Darstellung kräftiger Muskelpartien, kein Gramm Fett, keine Spur Dekadenz ist an diesem Tier! Sind wirklich alle Pferde so makellos? War da ein vom Hitlerwahn verblendeter Künstler ästhetisch verliebt in Stärke und Energie, in rassisch überlegene Vitalität, in kriegerischen Durchsetzungswillen, wenige Wochen vor dem deutschen Überfall auf Polen? Trägt das Bronzepferd vom Killesberg ganz nach seinem sagenhaften Vorbild aus Troja eine vergiftete Ladung, eine mörderische List, in sich?
Fritz von Graevenitz musste auch gewusst, vielleicht sogar gebilligt haben, dass jüdische Mitbürger erniedrigt und durch Stuttgarts Straßen getrieben wurden, seine jüdischen Akademiekollegen verfolgt, ihre Synagogen verbrannt waren – während er an ästhetischen Details dieses schönen Pferdes feilte. Während die Stuttgarter am Pferd vorbei durch den Höhenpark flanierten, stand nur wenige Meter entfernt von seinem luftigen Hufschlag jene Halle, in der sich ab Dezember 1941 die geächtet Todgeweihten der Stadt zur Deportation in den Tod einzufinden hatten.
Vom Killesberg ging der Weg der Todgeweihten hierhin: Startpunkt der Deportationszüge ab 1941 war der Innere Nordbahnhof. heute erinnert daran eine Gedenkstätte.
Beladen mit solchen Fragen könnte der Betrachter von heute wieder hinausschreiten aus dem Park, ein paar tausend Schritte hinüber zum Nordbahnhof, wo eine gut versteckt gelegene Gedenkstätte an den Startpunkt der Stuttgarter Deportationszüge in die Todeslager erinnert.
Ein trostloser Weg; immerhin, er führt wieder am steinernen Pferdetorso vorbei. Sein Kalkstein war zu weich für Sturm und Regen und Sonne, zu anfällig für die Luftverschmutzung der modernen Zivilisation. Es ist ein Mahnmal der Vergänglichkeit, und als solches hat es auch etwas Tröstliches.
Ganz aktuell (8. Februar 2022): Die Stiftung Geißstraße in Stuttgart will sich in einem Projekt der kulturhistorischen Aufarbeitung des Werkes von Fritz von Graevenitz im Stadtraum von Stuttgart annehmen. Wer Interesse hat, dort mitzuwirken, kann sich bei der Stiftung melden.
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