Hamilton? Seibold? Ideen zu einer Parallele

Über das Politik-Musical „Hamilton“ und was man in Deutschland daraus lernen könnte

Vielleicht könnte es „Seibold“ heißen? Eignet sich der Name für Rap-Reime? Der Vorname wäre schon mal vielversprechend: Kaspar. Kaspar Seibold könnte der Held sein, um den alle herumtanzen und wirbeln, zu dessen Schicksal sie mitfiebern, mitsingen, schließlich trauern, bis der Schlussakkord sie von den Sitzen reißt.

Ja, vielleicht könnte es „Seibold“ heißen, das Musical über die Gründungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Auf keinen Fall „Adenauer“ oder „Schumacher“.

So schmissig kann Geschichte vermittelt werden: Das Musical „Hamilton“ erzählt einen Ausschnitt der Gründungsgeschichte der USA. Foto: Stage Entertainment

Jeder historische Vergleich ist falsch. Das gilt auch hier, aber um das Wagnis zu ermessen, das die Macher des US-amerikanischen Erfolgsmusicals „Hamilton“ eingegangen sind, darf man der Phantasie freien Lauf lassen. „Seibold“ also. Als Kaspar Seibold beträte ein Rapsänger, Tänzer, Schauspieler die Bühne, vom begeisterten Johlen des Publikums begrüßt, schmissig von der elektronisch verstärkten Musik untermalt, und würde erzählen, was er schon erlebt hat:

Die Geschichte von Kaspar Seibold

Kaspar Seibold aus Oberbayern war der jüngste Delegierte im Parlamentarischen Rat, der das Grundgesetz verabschiedete. Er zählt zu den Mitunterzeichnern, obwohl er in der Schlussabstimmung gegen den Text des GG gestimmt hatte. Damit bekannte er sich zu dem demokratischen Prozess, auch wenn er inhaltlich unterlegen gewesen war. Foto: Bestand Erna Wagner-Hehmke, Stiftung Haus der Geschichte

Als er geboren wurde, war der erste Krieg des letzten Jahrhunderts gerade begonnen worden von Deutschland. Dann kamen die wilden Jahre der 20er, von denen er als Kind auf dem Land nicht viel mitbekam, dann die braunen Zeiten der Nazis. Auf dem Bauernhof seiner Eltern waren alle beschäftigt von früh bis spät, hatten keine Zeit, sich viel mit Politik zu befassen. Vermutlich bestellten bedauernswerte Zwangsarbeiter die elterlichen Felder, während sich der junge Kaspar in der Wehrmacht dem Zusammenbruch entgegenstellen musste. Als Gebirgsjäger wurde er schwer verletzt. Kaspar Seibold überlebte, und nach dem Ende de Krieges suchten auch in seiner Heimat, im oberbayerischen Lenggries, zerlumpten Flüchtlinge aus dem Osten Deutschlands und aus den zerbombten Städten kraftlos und erschöpft nach Essbarem.

Da entschied Kaspar Seibold: So konnte es nicht weitergehen. Er engagierte sich in der staatlichen Landwirtschaftsverwaltung. 1948 trat er in die neu gegründete CSU ein, und schon im Herbst des gleichen Jahres fand er sich als jüngster Abgeordneter im Parlamentarischen Rat wieder, jenem Vorab-Parlament, das nach der Katastrophe des Nazireichs ein neues, demokratisches Deutschland schaffen sollte. Und es schuf. Kaspar Seibold war einer der Gründerväter des neuen demokratischen Deutschlands.

Auch Alexander Hamilton schrieb an der Verfassung der USA mit

Alexander Hamilton lebte gut 150 Jahre früher und half mit, die USA zu gründen. Am Anfang seines Weges stand eine uneheliche Herkunft in der Karibik, aber blitzgescheit war er wohl, ehrgeizig dazu. So stieg er im Militär des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges zum wichtigsten Unterstützter für George Washington auf, der später erster amerikanischer Präsident wurde. Die britischen Kolonialherren gaben auf, und die Siedler machten sich daran, einen neuen demokratischen Staat zu schaffen. Weiße Männer waren es, die den Ton angaben, die Frauen, die Ureinwohner ihres Landes, gar die gewaltsam aus Afrika herbeigeschleppten Sklaven, durften nicht mitreden bei ihren Überlegungen.

Seibolds Einfluss war gering im Gründungsparlament der Bundesrepublik (61 Männer, vier Frauen) zwischen Konrad Adenauer, Theodor Heuss und Carlo Schmid, die allesamt den Terror der Nazi-Schergen mit mehr oder weniger tiefen Wunden überstanden hatten. Seibold war jung und politisch unerfahren, während die alten Wortführer schon in der Weimarer Republik politisch aktiv gewesen waren. So musste sich der junge bayerische Landwirtssohn mit einer Statistenrolle unter den Gründervätern des demokratischen Deutschland abfinden.

Statistenrolle für Seibold, aber Hamilton wollte hoch hinaus

Alexander Hamilton aber wollte hoch hinaus. Er wurde 1787 Mitglied im Verfassungskonvent der Vereinigten Staaten, spielte bald mit in der ersten Garde der amerikanischen Politik. Als Minister schuf er das bis heute wirksame Finanzsystem der USA, das mit einer Stärkung der Zentralgewalt in den USA einherging. Seine Gegner bekämpften ihn deshalb, weil sie lieber einen lockeren Staatenbund anstrebten.

Von seinem stürmischen Gemüt angetrieben ließ er sich in einen undurchsichtigen Ehrenhändel verstricken, ruderte im Morgennebel über den Hudson River zu einem Duell nach New Jersey (weil der schießwütige Unsinn in New York bereits verboten war). Vielleicht glaubte er, dass auch sein Widersacher Aaron Burr, immerhin der amtierende Vizepräsident der USA, nur zum Schein auf ihn anlegen würde, aber Hamilton irrte sich. Er wurde getroffen und erlag am nächsten Tag 49-jährig seinen Verletzungen.

So schlimm meinte es das Schicksal nicht mit Kaspar Seibold. Der junge Mann aus Bayern musste sich nur in einem politischen Duell schlagen und unterlag. Typisch bayrisch wollte er das neue Deutschland eher als einen lockeren Staatenbund etablieren, aber es setzte sich doch die Idee einer deutlichen Machtkonzentration auf Bundesebene durch. Seibold verweigerte deshalb in der Schlussabstimmung am 8. Mai 1949 seine Zustimmung zum Grundgesetz.

59 Männer und vier Frauen unterschrieben das Grundgesetz

Trotz seiner Ablehnung in der Abstimmung unterzeichnete er in der feierlichen Zeremonie am 23. Mai 1949 in Bonn neben den Ministerpräsidenten der Länder, den Parlamentspräsidenten der Landtage und den 59 weiteren Männern und vier Frauen aus dem Parlamentarischen Rat (nur die beiden Kommunisten verweigerten die Signatur) die Urfassung des deutschen Grundgesetzes. Der jüngste Gründervater der Bundesrepublik war zu diesem Zeitpunkt 35 Jahre alt.

Dr. Kaspar Seibold: Das jüngste Mitglied de Parlamentarischen Ragtes unterschieb 1949 die Urfassung des deutschen Grundgesetzes, obwohl er dagegen gestimmt hatte.

Wer kennt heute noch Kaspar Seibold? Schnell findet man seinen Namen in den allwissenden Suchmaschinen. Seibold ist nicht vergessen, aber zurückgesetzt gegenüber den großen Figuren seiner Zeit. So erging es auch Alexander Hamilton. Im Central Park von New York steht er als Statue herum und die Zehn-Dollarnote zeigt sein Gesicht. Trotzdem müssen wohl auch die meisten Amerikaner den Namen erst einmal googeln, wenn sie ihn einordnen wollen zwischen die großen Helden seiner Zeit: George Washington, Thomas Jefferson, John Adams.

Politik als Bühnenshow: Ein kühner Plan, …

Es war also ein kühner Plan, diese weitgehend vergessene Figur in den Mittelpunkt eines Stücks Musiktheater zu stellen, das noch dazu ohne öffentliche Subventionen auskommen muss. In New York und London wurde „Hamilton“ zum hochdekorierten Kassenschlager. Der Cast ist zeitgeistig divers besetzt, ein subtiler Hinweis darauf, dass die Hamiltons und ihre Zeitgenossen ganz sicher ausschließlich weiß waren. Die Musik kommt schmissig-modern daher, der Rap ist auch für Silverager erträglich und nachvollziehbar, und für das Auge wird ohnehin jede Menge geboten. Eine schwungvolle Bühnenshow, in der noch dazu die tragisch endende Lebensgeschichte dieses unterschätzten Gründervaters publikumsgerecht mit einer romantischen Liebe verflochten wurde.

… aber die Handlung zeigt Politik, wie sie ist.

Aber die Handlung zeigt eben Politik, so wie sie ist. Sie erzählt von komplizierten Fragen, die sich dem mehrheitlich auf fröhlich-gefühlige Unterhaltung  eingestimmten Publikum nicht schnell erschließen. Bis vor wenigen Tagen war „Hamilton“ auf Deutsch in Hamburg zu besuchen, jetzt muss man wieder nach London oder New York reisen. Noch im September 2023 erhielt die Hamburger Produktion den Deutschen Musical-Theaterpreis. Trotzdem war nun nach gerade mal einem Jahr Schluss. Die amerikanische Gründungsgeschichte füllte offenbar nicht so wie „Cats“, „König der Löwen“ oder „Das Phantom der Oper“ jeden Abend das privat betriebene Musical-Theater ausreichend.

Hätte eine deutsche Bühne den Mut, die Gründungsgeschichte der Bundesrepublik so zu erzählen, halbwegs realistisch, niemals langweilig, überhaupt nicht belehrend? Musik und Rap als tragendes Element für bunte Bilder aus einer grauen Zeit? Der Parlamentarische Rat als divers besetztes Tanzballett? Die Debatten über die Stellung der Grundrechte, ob Bundesstaat oder Staatenbund, als Pop-Duette im Gesang? Und das alles vielleicht mit Kaspar Seibold mittendrin?

 

 

Der nicht in die USA reisen möchte, kann sich „Hamilton“ in London ansehen, täglich, an vielen Tagen sogar zweimal am Tag: https://hamiltonmusical.com/london/#/

Wer nicht verreisen möchte, kann sich auf Youtube Ausschnitte der Hamburger Produktion (auf Deutsch) ansehen (Klick führt zu Youtube).

Über die Beratungen des Parlamentarischen Rates zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland informiert sehr anschaulich eine eigene Website des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik in Bonn, auch mit weiteren Informationen über Dr. Kaspar Seibold, den jüngsten Abgeordneten des Parlamentarischen Rates.

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Ausgeträumt. Ein Weckruf an meine Generation

Israel, umringt von Todfeinden, muss um seine fragile Sicherheit bangen, mehr denn je. In Europa überfallen aggressive Staaten ihre Nachbarn. Und in Deutschland ist es erfolgreich, mit  rechtsradikalen Parolen aufzutreten. Es ist Zeit zum Aufwachen für eine verträumte Generation. 

Als wir noch glaubten, die Welt könnte sich zum Besseren wandeln, da wähnten wir uns fast glücklich. Aufgewachsen nach dem Krieg, gnädig geschont von der „späten Geburt“ (Helmut Kohl) haben wir die Verheerungen der Bomben und der Schuld in den Seelen unserer Eltern und Großeltern besichtigt. Aber wir sahen vor allem, wie die Wunden verheilten, die Trümmer verschwanden, der Wohlstand sich ausbreitete.

Hinter dem „Eisernen Vorhang“, der Europa teilte, lag das Reich der Finsternis, ein paar Mal flackerte die Gefahr auf, dass sich an der Nahtstelle zwischen unserer und deren Welt etwas entzünden könnte, aber es kam niemals wirklich dazu. Unsere misstrauisch beäugten amerikanischen Freunde schützten uns mit ihren Atomwaffen. Und als sie aus Vietnam vertrieben wurden, fanden wir das auch irgendwie richtig.

Die Gründung des Staates Israel, so lernten wir, war auch eine Antwort darauf, dass unsere Erzeuger sich beispiellos mörderisch vergangen hatten am migrantischen  Kulturvolk der Juden. Israel musste seither mehrfach um sein Bleiberecht auf biblischem Boden kämpfen. Eine Gewissheit schien es uns, dass es dabei unter amerikanischem Schutz stets erfolgreich sein würde.

Ausgeträumt! Nichts wird so bleiben, wie es ist, und es wird uns Geld kosten. Viel Geld. Foto: Sarah Richter, lizenzfrei auf Pixabay

 

 

 

 

Mehrfach überschüttete uns das Glück

Mehrfach überschüttete uns das Glück. Der Staat der Juden vergaß die Gräuel der Nazis nicht, aber konnte sie uns verzeihen. Deutschland und Israel schlossen Freundschaft. Zwar wuchsen wir in einem geteilten Land auf, aber damit hatten wir uns abgefunden. Und sogar diese Last wurde uns genommen, als die deutsche Mauer zu nutzlosem Beton wurde. Freudetrunken stürmten wir unüberwindlich geglaubte Grenzen. Die einen staunten über die Sonne am blau glitzernden Mittelmeer, die ihnen lange unerreichbar gewesen war. Und die anderen konnten endlich problemlos dorthin fahren, wo die eigenen Eltern geboren waren, durften die schönen Städte an der Ostsee kennenlernen, vielleicht sogar die prächtigen Metropolen Russlands besuchen.

Ja, es gab auch Irritationen

Ja, es gab auch Irritationen in diesen glücklichen Jahren. Im Balkan fielen die Völker übereinander her. Und unser Blick auf die Welt sah großzügig über die globalen Ungerechtigkeiten hinweg, obwohl es genau diese waren und sind, denen wir eine ständige Mehrung unseres Reichtums verdankten. Wir bildeten uns ein, dass der heiße Stein der globalen Armut mit dem Tropfen unserer Entwicklungsarbeit abkühlen könnte.

Während unser Reichtum wuchs, glitten die Flugzeuge immer preiswerter dahin. So stiegen wir ein, staunten über das orientalische Bunt, das asiatische Jing-Jang, die fremde Tierwelt Afrikas, die glühenden Sonnenuntergänge Australiens und die plastikverliebte Luxuspracht der Amerikaner.

Und nun ist es vorbei

Und nun ist es vorbei. Ausgeträumt! Die verwöhnte Generation muss aufwachen.

Die hitzig flackernden Displays der globalen Vernetzung erzählen den Verzweifelten dieser Welt, wie wir leben: Wie die Maden im Speck. Ein Stück davon, eine Chance darauf, wollen auch sie. Warum sollten sie es nicht versuchen? Migration war schon seit biblischen Zeiten ein Ausweg aus purer Not. Das jüdische Volk lehrt es uns. Und noch vor gut hundert Jahren waren es die Europäer, die von feudal verursachter Armut vertrieben wurden. Voller Hoffnung brachen sie auf in die keineswegs unbesiedelten Weiten der „Neuen Welt“.

Und dann lockt auch noch die Freiheit. Millionen sind es auf dieser Welt, die jedes Wort wägen müssen in den Diktaturen, die keine Freiheit darüber haben, was sie anziehen und ob sie ihre Haare verhüllen wollen oder nicht, die nicht frei sprechen und handeln können, die nur flüstern dürfen auf ihrer Flucht vor dem eigenen Staat. Sie alle suchen ihre Chance. Sie nehmen dafür in Kauf, ihr ganzes Hab und Gut windigen Schleusern in den Rachen zu werfen, um dann doch zu ertrinken, erschossen zu werden, zu verdursten auf der Suche nach Löchern in unseren Grenzzäunen. Sie handeln nicht anders als die vielen Deutschen, die in den dumpfen Jahren der Wachtürme und Selbstschussanlagen den schnellen Tod riskierten für ihre Freiheit.

Es wird nicht aufhören

Ausgeträumt! Es wird nicht aufhören damit.

Die Chancenlosen, Verzweifelten, Hoffnungsfrohen dieser Welt werden weiterhin zu uns kommen, werden Wege finden für ihre Chance auf Glück und Leben und Freiheit, egal, ob wir ihnen Sozialleistungen kürzen, Bezahlkarten statt Geld verordnen oder Grenzkontrollen in den Weg stellen. Wir werden sie nicht aufhalten, jedenfalls nicht zu Bedingungen, die unser Gewissen beruhigen.

Ausgeträumt! Wir haben die Ressourcen des Planeten mithilfe korrupter Mördereliten ausgeplündert, die zufällig Herren über die flüssigen und gasförmigen Schätze der Erde wurden. Jetzt wollen wir auch noch die gleiche Clique dafür in den Dienst nehmen, uns die Flüchtenden aus aller Welt vom Hals zu schaffen. Es wird nicht gelingen.

Gierig haben wir Luft und Wasser vollgepumpt mit Giften, die Meere verseucht, Tiere ausgerottet oder versklavt, die Gletscher und Polkappen zum Schmelzen gebracht. Es sind auch unsere Überschwemmungen, unsere Dürren, unsere Waldbrände, die immer mehr Menschen weit fort von uns aus purer existentieller Verzweiflung dorthin treiben, wo ihnen ein lebenswertes Leben noch möglich erscheint: In den Norden, zu uns.

Wir sind Süchtige

Ausgeträumt! Unsere Demut haben wir verräumt in die hinterste Ecke unseres satt gefüllten Vorratsschranks. Wir sind Süchtige. Süchtig nach Öl und Gas, süchtig nach unserem billigen Vorteil. Wir fürchten um unsere Glitzerpaläste und Einfamilienhäuser, und delirieren davon, dass unser altes Glück zurückkehren könnte. Unsere Freiheit halten wir für selbstverständlich, und die Demokratie, so glauben wir, gibt es bei möglichst wenig Steuern fast gratis dazu.

Jetzt aber ist Schluss.

Die finsteren Mächte greifen zu und verwandeln unsere Welt, als wäre sie die Kulisse einer Grusel-Serie auf Netflix. Diese Monster sind echt: Sie fallen her über unsere Welt, sie massakrieren ihre Nachbarn in der Ukraine und in Israel, vielleicht bald auch im Kosovo oder anderswo. Sie bauen ihre perfiden Unterdrückungsregime aus mit den digitalen Waffen gegen das eigene Volk. Und auch manche Demokratie wankt schon unter dem populistischen Druck der gewissenlosen Rattenfänger, die versprechen, dass es so bleiben könnte, wie es ist. Die bösen Mächte wissen um unsere Träume, sie kennen unsere fettleibige Bequemlichkeit, sie lachen uns aus.

Lauter wird der Wecker nicht klingeln

Aufwachen! Lauter wird der Wecker nicht mehr klingeln.

Unser Wohlstand wird nichts Wert sein, wenn die Hitze die Felder versengt und das Wasser die Plantagen davonschwemmt. Unsere Freiheit wird verloren gehen, wenn wir nicht entschlossen für sie eintreten. Der Kampf für Demokratie entscheidet sich nicht daran, ob wir gendern oder Cannabis legalisieren, er wird nicht an der Fleischtheke verteidigt oder mithilfe der Radarfallen auf der Autobahn. Für gleichmacherische Phantasien der Sozialromantiker ist kein geeigneter Zeitpunkt, denn wir brauchen Initiative und Tatendang. Der Rückwärtsgang der Ewiggestrigen führt uns in den Abgrund.

Nichts wird bleiben

Ausgeträumt!  Entschlossen handeln werden wir müssen, um die Trümmer unserer Träume aus dem Weg zu räumen. Sonst werden wir ersticken an unserer bürokratischen Trägheit, an faktenfreier Streitlust, am Hin- und Herschieben von Verantwortung.

Respekt müssen wir haben für Polizei und Bundeswehr, wenn sie die Waffen zur Verteidigung unserer Freiheit bedienen und sich in unseren Dienst stellen. Respektvoll willkommen heißen müssen wir diejenigen, die unsere Pflegeheime, Krankenhäuser und Industriehallen, unsere Rentenkassen und Steuern mit ihrer Schaffenskraft füllen sollen.

Ausgeträumt! Es wird uns Geld kosten, viel Geld. Nichts wird so bleiben, wie es ist. Aber es ist unsere einzige Chance.

 

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Die Spur des Steins von Neu-Ulm

Söders Plan und der Steinwurf auf die Grünen

Gleich fliegt der Stein: Ein Besucher der Wahlkampfveranstaltung der Grünen in Neu-Ulm holt aus. (Klick auf das Bild verbindet zu dem Video auf Youtube)

Das Video ist im Internet verfügbar. Es wurde am 17. September dieses Jahres um 19.02 Uhr in Neu-Ulm aufgenommen. Man sieht eine schüttere Menschenmenge, die vor einem Podium herumsitzt. Auf der Bühne stehen die beiden Spitzenkandidaten der Grünen für die Landtagswahl in Bayern: Katharina Schulze und Ludwig Hartmann. „Hol Dir Deine Zukunft zurück!“, steht auf der Wand, vor der sie sprechen. Was sie dazu sagen, ist unwichtig, und zwar wegen der Gegenwart. Der Mann, der den Stein wirft, hört ohnehin nicht zu. 44 Jahre ist er alt und gehört dem „Querdenker-Milieu“ an, wie später zu erfahren war. Er trägt ein weißes T-Shirt, steht auf, zögert, überlegt sich genau, was er macht. Er hat einen Stein in der Hand, holt aus und wirft ihn in Richtung des Podiums.

Es ist eine Sekunde des Entsetzens. Hartmann, der gesprochen hatte, unterbricht. Der Stein schwirrt auf Hüfthöhe zwischen den beiden Rednern hindurch. Katharina Schulze weicht reflexartig aus, dann knallt das Geschoss auf den Boden der Wahlkampfbühne. Menschen springen herbei, stellen den Steinewerfer zur Rede, in Sekundenschnelle eilt die Polizei hinzu und nimmt den Mann fest. Schulze greift sich das Mikrophon und bedankt sich bei der Polizei. „Warum zielt er?“, fragt einer von vielen anonymen Hasskommentatoren auf Youtube – „trifft doch eh immer den richtigen“.

Die Spur des Steins beginnt zwei Jahre früher

Zwei Jahre früher beginnt die Spur des Steins. CDU und CSU haben mit ihrem vom Unglück verfolgten und auch oft unglücklich agierenden Kanzlerkandidaten Armin Laschet die Bundestagswahl vom 25. September 2021 verloren. Schnell war geklärt, dass – wenn man keine weitere große Koalition haben möchte – nur entweder die SPD oder die CDU/CSU gemeinsam mit Grünen und FDP eine Regierung bilden können – „Ampel“ oder „Jamaika“. Die SPD hatte mit 25,7 % der Stimmen gegenüber der Union (23,3%) die Nase vorn. Im weit verbreiteten Irrtum, die Bundestagswahl sei so etwas wie eine heimliche direkte Kanzlerwahl, dominierte bald die öffentliche Erwartung, dass der „Sieger“ Scholz, und nicht der „Verlierer“ Laschet ins Kanzleramt einziehen sollte.

Politisch gesehen hätte es auch anders gehen können. Für „Jamaika“ gab es eine Mehrheit im Bundestag. Und es gab nicht wenige politische Beobachter, die für den inneren Zusammenhalt einer Gesellschaft vor großen Herausforderungen – insbesondere der unbestreitbar notwendigen, ökologischen Wende unter dem Druck des Klimawandels – eine schwarz-grüne Zusammenarbeit eine versöhnliche Option gewesen wäre für das Land. Aber es kam anders. Scholz und die SPD wollten sich ihren Sieg nicht nehmen lassen, Grüne und FDP fürchteten vielleicht den Zorn der Bürger, wenn sie sich über die diesbezügliche Erwartung in der Bevölkerung hinwegsetzen würden.

Laschets Hoffnungen störten Söders Pläne

Zusätzlich wurden die Bemühungen Laschets, eine Zusammenarbeit der Union mit FDP und Grünen im Gespräch zu halten, absichtsvoll hintertrieben wurden. Und zwar von: Markus Söder und der CSU. Sie waren gewissermaßen ein „Stein des Anstoßes“ (Martin Luther) für Söders Pläne. Die Inhalte der vertraulichen Sondierungsgespräche zwischen Union, FPD und Grünen wurden sekundenschnell durchgestochen, das gegenseitige Vertrauen damit gezielt zerstört.

Auch öffentlich distanzierte sich Söder von Laschets Hoffnungen auf eine Regierungsbildung. Schon zwei Tage nach der Bundestagswahl wurde Söder damit zitiert, dass die Union „keinen Anspruch auf eine Regierungsbildung“ habe (zitiert nach Frankfurter Rundschau, 27.9.2021): Jamaika sei zwar eine Option, könne aber „nicht um jeden Preis erfolgen“. Es gebe für ihn Punkte, die zentrale Bedingungen seien. Dazu zähle, „keine Steuererhöhungen zu beschließen und die Schuldenbremse nicht aufzuheben“ (beides übrigens Inhalte, die später die „Ampel“ ebenfalls so vereinbart hat).

Da lag er also im politischen Feld, der Stein. Die Westdeutsche Allgemeine Zeitung (WAZ) analysierte am 8. Oktober 2021: „Söder geht es um den eigenen Erfolg. In Bayern wird in zwei Jahren gewählt.“ Ein schwacher CDU-Kanzler Laschet und eine gerupfte Union „würde es Söder zusätzlich erschweren, sich im Landtagswahlkampf als starker Mann der bayerischen Christsozialen zu präsentieren.“ Dagegen ließe sich, so die WAZ vor zwei Jahren, gegen eine „unchristliche“ Ampel-Regierung aus SPD, Grünen und FDP einfacher Wahlkampf führen im konservativen Lager: „Gegen eine Ampel kann Söder stänkern. Im Falle einer Jamaika-Koalition von Union, Grünen und FDP wäre der CSU-Chef hingegen mitverantwortlich.“

Auf den Ministerpräsidenten kommt es an? Markus Söder wollte nicht, dass Steine fliegen gegen die Grünen. Aber er verfolgte seit zwei Jahren einen Plan, der das dafür geeignete Klima schuf. Als der Stein von Neu-Ulm flog, schob er die Schuld auf das Internet.  Foto: Josef A. Preiselbauer auf Pixabay

Söder und die CSU warfen den Stein nicht, aber hoben ihn auf

Söder und die CSU warfen keinen Stein. Aber sie hoben den Stein auf. Seither beschimpft der ruppige „Landesvater“ wie geplant die Politik der „Ampel“ allgemein, und die der Grünen besonders. Die Grünen würden ein Fleischverbot befürworten, behauptet er, es drohe eine Pflicht zur Gendersprache, sogar ein geplantes Verbot von Luftballons unterstellte er ihnen zeitweilig. „Die Grünen stehen letztendlich für diese Kultur: Nein, nein, nein. Verbot, Verbot, Verbot,“ poltert Söder in seiner Wahlkampf-Standardrede in fast jedem bayerischen Bierzelt. „Nur das einzige Mal überhaupt sind sie bei etwas nicht fürs Verbot,“ baut er Spannung auf, und es folgt dann eine polemische Unwahrheit:  „Es gibt nur eine Geschichte, wo die Grünen für eine Erlaubnis sind: Das sind Drogen.“ (so z.B. im Bierzelt Trudering am 12.5.2023).

Nun ist Zuspitzung ist ein legitimes Mittel der politischen Auseinandersetzung, auch wenn sie an die Grenze der Wahrheit heranreicht. Und sicherlich gibt es auch gute Gründe für harte Kritik an der Berliner Regierung und den Grünen. Mit Hubert Aiwanger von den Freien Wählern liefert sich Söder einen Wahlkampf als Überbietungswettbewerb der Aggressivität gegenüber einem einzelnen politischen Gegner aus dem demokratischen Spektrum. Was hat es mit Zuspitzung zu tun, wenn in maßloser Übertreibung suggeriert wird, großstädtische Kulturrevolutionäre würden an den Gartenzäunen rütteln, um den Bayern ihre individuelle Lebensgestaltung zu rauben? Manche Gemüter sind so aufgepeitscht von diesen Reden, dass ihnen das Wählen nicht mehr reicht. Sie wollen mit anderen Mitteln ganz sicher gehen, dass es nicht zur gefürchteten grünen Unterjochung kommt.

Bald liegen Steine vor den Bierzelten

Und so liegen schon bald Steine vor den sommerheißen Bierzelten. Die Stimmung heizt sich auf den Siedepunkt. Viele CSU-Anhänger empfänden es inzwischen als „kulturelle Aneignung“, wenn Katharina Schulze im Bierzelt ein Dirndl trage, sagt Andreas Glas von der Süddeutschen Zeitung. Die von Söder und Aiwanger angestachelte Wut gegen die Grünen bricht sich unkontrolliert Bahn. Vor einem Bierzelt in Chieming werden am 1. August Eier und Tomaten als potenzielle Wurfgeschosse verkauft, als Schulze und Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir auftreten wollen. Und auch große Steine werden dabei „zur Schau gestellt, a bissl in die lustige Richtung“ (aber nicht verkauft, wie der Standbetreiber der Süddeutschen Zeitung versicherte). Die Reden der beiden Grünen gehen in einem organisierten Pfeifkonzert unter. Özdemir kann nur unter massivem Polizeischutz sprechen.

Aber noch fliegt kein Stein in Chieming. Was hier tobt, ist der Mob, den ein Ministerpräsident und sein Stellvertreter und deren Helfershelfer angestachelt haben. In Sorge um die eigene Macht hatte Söder vor zwei Jahren eine Strategie ersonnen, die politische Verantwortung missachtete: Lieber nicht in Berlin regieren, damit man in Bayern Stimmung machen kann.

Und dann fliegt der Stein. Wer blutet?

Und dann, am 17. September, fliegt der Stein von Neu-Ulm. Es ist fast genau zwei Jahre, nachdem Söder den Stein des Anstoßes aufgenommen hatte. Söder hat den Vorfall verurteilt. Besorgt äußerte er sich über eine „zunehmend destruktive Demokratie“. In der „Augsburger Allgemeinen“ sieht er als Ursache „digitale Blasen“, in denen nur noch Platz für die jeweils eigenen Standpunkte sei. Das führe zu einem immer raueren Ton und der Unfähigkeit zu Kompromissen.

Zehn Tage später droht ein Mann, der nach Erkenntnissen der Polizei eine Schreckschusswaffe besitzt, dem Schweinfurter Grünen-Landtagsabgeordneten Paul Knoblach einen „Kopfschuss“ an.

Am Sonntag wird gewählt. Bisher wurde niemand verletzt. Aber der Anstand blutet.

 

 

Inspiriert zu dem Text hat mich die mehrteilige Podcast-Serie der Süddeutschen Zeitung „Söders Endspiel“. Einzelne Informationen habe ich daraus entnommen.

Zur Flugblatt-Affäre rund um Hubert Aiwanger habe ich Neue Fragen an Hubert Aiwanger formuliert.

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Neue Fragen an Hubert Aiwanger

Vom „Scheiß in der Jugend“ und was seither geschah – Ein Brief

Hallo Herr Aiwanger,

ich hätte da noch ein paar Fragen! Sie brauchen zwar meine Stimme nicht, ich darf in Bayern nicht wählen. Sie brauchen auch mein Verständnis nicht.

Aber Sie reden ja auch von mir. „Jawohl, auch ich hab´ in meiner Jugend Scheiß gemacht“, haben sie bekenntnismutig gerufen vor ein paar Tagen beim Karpfhamer Volksfest in Niederbayern. „Auch ich“ haben Sie gesagt, und damit haben sich in eine Reihe gestellt mit uns allen, mit Menschen wie auch mich.

Meine Jugend liegt noch fünfzehn Jahre weiter zurück als die Ihre, aber einen Scheiß habe ich da auch schon gemacht. Möglicherweise kann ich mich besser als Sie daran erinnern. Mancher Scheiß war einmalig und lehrreich: Nie wieder wollte ich so ein ertapptes Häufchen Elend sein wie damals, als ich meinen Eltern gestehen musste, dass ich das Geld für den Ausflugsbus der Schülermitverwaltung zwar eingesammelt, aber dann für meine ersten Kneipenbesuche ausgegeben hatte. Und die stümperhaft gefälschte Unterschrift meines Vaters unter die Fünf in der Latein-Schulaufgabe büßte ich mit einer saftigen Ohrfeige, die ich nie vergessen werde, vor allem deshalb, weil mein Vater so gelitten hat an seiner vermeintlichen Pflicht zur Züchtigung.

Erinnern kann ich mich auch ganz genau …

…. an dumme Sprüche darüber, dass nicht alles falsch gewesen sei beim Hitler. Manchmal redeten meine Eltern so daher. Dazu kam, dass wir im Geschichtsunterricht gar nicht bis zum mörderischen „Dritten Reich“ gekommen sind. Immer war das Schuljahr zu Ende, und wir steckten immer noch im langweiligen Mittelalter fest. Auch an unappetitliche Witze über das Schicksal von Juden erinnere ich mich, die wir uns in dem Alter erzählt haben, in dem bei Ihnen ein Flugblatt im Schulranzen gefunden wurde.

Bei mir war es so: Ich habe mitgelacht, auch dümmlich weitererzählt, ahnungslos, denn ich kannte keine Juden. Es waren keine mehr da in unserer kleinen bayerischen Stadt, oder wenn doch, dann gaben sie sich nicht zu erkennen.

Jawohl, auch ich habe in meiner Jugend Scheiß gemacht.

Nun sind Sie in Bayern in einem hohen Staatsamt, und der Scheiß aus Ihrer Jugend wird Ihnen vorgehalten. Sie sind der Meinung, dass das unfair ist, weil es so lange zurückliegt, und halt ein Scheiß aus Ihrer Jugend sei. Damit ich beurteilen kann, ob das wirklich so ist, müsste ich schon ein wenig mehr wissen.

Deshalb kommen hier ein paar Fragen, …

… für die ich mich an meinen eigenen Erinnerungen orientiere, die ich aus den letzten fünfzig Jahren habe:

Waren Sie denn seit Ihrer Strafarbeit von 1987 und – wohlgemerkt! – vor der aktuellen Diskussion um Ihren „Scheiß in der Jugend“, also irgendwann einmal in den letzten 36 Jahren,  zu Besuch in Dachau oder Buchenwald? Oder gar in Auschwitz? Treblinka? In Dachau war ich zweimal, und jedes Mal hat mich das dort gezeigte Grauen so tief erschüttert, dass ich schließlich zu feige war, mir das Unbeschreibliche in Buchenwald noch einmal anzusehen. Und das, obwohl ich mehrere Jahre ganz in der Nähe von Weimar gelebt und gearbeitet habe. Es ist diese eigene Feigheit, die mich beschämt, und die ich noch überwinden will. Vor einem Besuch in Auschwitz fürchte ich mich noch mehr. Und auch vor der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem. Kennen Sie diese Furcht? Diese beiden Orte der Erinnerung habe ich noch nicht besucht. Waren Sie schon dort?

Herr Aiwanger, waren Sie in den letzten 36 Jahren schon einmal in der KZ-Gedenkstätte Dachau … (Foto: KZ-Gedenkstätte)

Sind Sie an einem dieser Orte auch stumm geworden …

… angesichts der Leichenberge, der Kisten mit herausgebrochenem Zahngold, der herausgeschmuggelten Fotos nackter Todgeweihter auf dem Weg in die Gaskammern?

Haben Sie es gespürt, das unermessliche, tödliche Grauen, das die sogenannten rechtschaffenen deutschen Bürger dort und an Millionen anderen Stellen angerichtet haben, viele aus fester innerer Überzeugung, vielleicht sogar als schweigende große Mehrheit?

Haben Sie den Film „Schindlers Liste“ gesehen?

Haben Sie sich auch, so wie ich, gequält herumgewälzt im Kinosessel, um der gewissenlosen, brutalen Unerbittlichkeit der Nazi-Schergen nicht weiter zusehen zu müssen?

Haben Sie „Mein Leben“ von Marcel Reich-Ranicki gelesen? Haben Sie mit ihm und mir gebangt und gelitten, als er von seiner Flucht erzählte, vom unfassbaren Glück, das ihn und seine Frau Tosia beschützte, als er seine letzte und einzige Chance nutzte, den sicher todbringenden Verfolgern im  Warschauer Ghetto doch noch zu entkommen?

Haben Sie einmal das Haus der Wannseekonferenz in Berlin besucht?

Haben Sie die eiskalte Sprache des gebeugten Rechtes gelesen, die zynischen Berechnungen nachvollzogen? Oder den Film gesehen, der die Konferenz der Nazimörder vom 20. Januar 1942 in Echtzeit nachstellt? Haben Sie die geschäftsmäßige Normalität dieses Behördentermins nacherlebt, die bleiern-bürokratische Atmosphäre einer lästigen Besprechung wahrgenommen, das dröge Vorbringen von Einzelinteressen ertragen, die niederträchtige Routine eines Verwaltungsalltags mit-durchlitten, in dem es um den Tod von Millionen ging?

… oder im Haus der Wannseekonferenz in Berlin?

Sind Sie schon einmal ganz allein, nur für sich, …

…. durch das Stelenfeld in Berlin gewandert? Haben Sie sich verirrt in diesem steinernen Labyrinth der Sprachlosigkeit, konnten Sie einen Moment innehalten, nachdenken, was es bedeutet, sechs Millionen Menschen auf dem deutschen, historischen, wenn auch nicht eigenen, Gewissen zu haben?

Haben Sie schon einmal innegehalten, ganz allein für sich, inmitten des Stelenfeldes am Brandenburger Tor? Oder …

Waren Sie schon einmal im NS-Dokumentationszentrum in München, um zu verstehen, dass das Grauen überall war, an jeder Straßenecke? Ich bin von Stuttgart dorthin gefahren – für Sie sind es von Ihren Ministerium aus nur wenige Schritte.

Waren Sie schon einmal in einem jüdischen Museum?

Mir wurde erst beim Besuch des Jüdischen Museums in Berlin so wirklich bewusst, dass unsere Großväter und Väter mit dem systematischen Töten der Menschen auch eine große Kultur zu zerstören versucht haben. Wann haben Sie das verstanden und auch so empfunden?

… kennen Sie den jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee?

Und waren Sie schon einmal auf dem jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee? Sind Sie schon einmal dort zwischen den mehr als 100.000 Gräbern herumgewandert, haben die vergessenen Namen gelesen, vor den verfallenden Familiengräbern verharrt, auf deren stolzem Marmor noch viel Platz gewesen wäre, aber nach 1933 niemand mehr bestattet wurde?

 

Alles das, Herr Aiwanger, liegt hinter mir.

Nichts davon ist ungewöhnlich. Millionen Menschen, die nach 1945 in Deutschland geboren wurden, mussten lernen, dass mancher Scheiß in der Jugend nicht nur irgendein dummer Unsinn war, nicht nur ein Bier zu viel am prallvollen Schanktresen des Lebens. Sondern eine Schuld, die man sich aufgeladen hat.

Nun sagen Sie in Ihren Antworten an Ihren Ministerpräsidenten, man solle Ihnen nach dem Scheiß in der Jugend doch einen „Entwicklungs- und Reifeprozess zugestehen“. Mache ich gerne, Herr Aiwanger, aber dafür bräuchte ich Ihre Antworten. Ich warte!

 

Der Film „Die Wannseekonferenz“ ist noch bis 17. Januar 2024 in der ZDF-Mediathek verfügbar.

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Deutschland. Aber zum Abgewöhnen.

Fünf Szenen aus einem Sommer der politischen Unkultur

Die erste: Ein Kind im Bundestag

Das könnte Deutschland sein, aber normal: Eine erwachsene Frau, gut vierzig Jahre alt, engagiert im Beruf und in der Familie, ein Kind, freut sich auf den bevorstehenden Sommerurlaub. Zum letzten Arbeitstag hat sie ihr Kind, das gerade so laufen kann, mit an den Arbeitsplatz gebracht, warum auch immer. Niemand hat ein Problem damit.

Ein Kleinkind läuft durch die Lobby des Bundestages. Die Mutter muss zur Abstimmung, kurz vor dem Sommerurlaub. So normal ist Deutschland. Aber der Mob regt sich auf. Foto: Katharina Beck via Twitter

Weil sie Bundestagsabgeordnete ist, läuft der letzte Arbeitstag vor dem Sommerurlaub anders als geplant. Auch das ist normal, könnte in jeder anderen Arbeit auch so sein. Die AfD, die in ihrem Claim „Deutschland, aber normal“ verspricht, hat an diesem späten Freitagnachmittag eine sogenannte „Hammelsprung“-Abstimmung erzwungen. Die Rechtspopulisten wollen feststellen lassen, ob das Parlament in den letzten Stunden der parlamentarischen Arbeit vor der Sommerpause noch beschlussfähig ist. Ein wichtiges Gesetz wird damit aufgehalten, kann erst im September verabschiedet werden. Aber darum geht es der AfD nicht. Sie will die demokratische Mehrheit vorführen: Die AfD-Abgeordneten vermuten, dass viele ihrer Parlamentskolleg/innen aus den anderen Parteien bereits in den Sommerurlaub gestartet sind. Damit die Abstimmung auch das von der AfD erhoffte Ergebnis erbringt (zu wenige anwesend, also keine Beschlussfähigkeit), nehmen viele AfD-Abgeordnete selbst nicht an dem von ihr beantragten „Hammelsprung“ (also dem Zählen an unterschiedlichen Eingangstüren) teil, obwohl sie eigentlich anwesend wären.

Die Abgeordnete mit dem Kind ist im Gegensatz dazu anwesend und nimmt teil. Zur Abstimmung nimmt sie ihr kleines Kind mit. Und sie veröffentlicht dazu ein Foto auf Twitter. Zu sehen ist ein Kleinkind, das durch die Lobby des Reichstagsgebäudes wackelt. Die Abgeordnete schreibt dazu: „Zu einem Hammelsprung am späten Nachmittag gehört für manche auch, die Pläne mit den Kleinen anzupassen.“

Wenige Minuten nach Veröffentlichung des Bildes bricht ein Shitstorm über die Abgeordnete und Mutter Katharina Beck aus Hamburg herein: Sie solle sich nicht so leidtun! Das sei der Arbeitsalltag ganz vieler Mütter, dass sie auch mal Pläne mit Kindern umschmeißen müssen! Die Alleinerziehende, die um 21 Uhr beim Lidl sitzt, habe sicherlich geweint bei diesem Foto! Sie werde vom Steuerzahler hoch alimentiert als Abgeordnete!

Katharina Beck wehrt sich: Sie habe sich weder beklagt noch etwas über andere Mütter gesagt. Sie habe nur ihren Alltag geteilt, wie es Millionen tun. Es nutzt wenig. Die virtuelle Diskussion ufert aus, es gibt Parteinahmen für und gegen das Foto, schließlich ebbt der Disput ab, eine neue Geschichte zieht die Aufmerksamkeit auf sich.

Ist das Deutschland? Ja, aber zum Abgewöhnen.

Die zweite: Arme Frauen werden „zur Kasse gebeten“

Wofür sind Wissenschaftler/innen da? Sie sollen forschen, nachdenken, anregen. Eine Wirtschaftsprofessorin regt also in einem Interview an, über die Abschaffung der Witwer/-Witwenrente nachzudenken. Dass Menschen eine Rente bekommen, für die sie selbst niemals eingezahlt haben, sei ungerecht. Es führe zum Beispiel dazu, dass alleinerziehende Mütter mit ihren Beiträgen Renten von wohlhabenden Hinterbliebenen mitfinanzieren.

Man kann diesen Vorschlag kritisieren. Aber sofort macht sich die Meute auf den Weg: ein sozialpolitischer Kahlschlag drohe, die Lebensleistung der älteren Menschen werde zerstört, das Ganze sei ein „Angriff auf Familien“. Hört noch jemand zu? Hat noch jemand die Argumentation der „Wirtschaftsweisen“ Monika Schnitzler überhaupt gelesen und abgewogen? Hat jemand vernommen, dass sie in ihrem Denkanstoß – und nichts mehr war ihre Äußerung – bestehende Witwen- und Witwer-Renten garantieren möchte? Dass der Vorschlag ohnehin nur Teil einer grundlegenden Rentenreform sein könnte?

Nein, niemand hört zu. „Viele Frauen, die heute Witwenrente beziehen, hatten früher nicht die Möglichkeiten, Familie und Beruf so zu vereinen, wie das heute möglich ist. Sie haben eine kleine Rente. Diese Frauen jetzt zur Kasse zu bitten, um die Rente zu sanieren, ist zynisch“, schreibt der Bundestagsabgeordnete Kai Whittaker (CDU) auf Twitter (zitiert nach FAZ).

Geht es Frau Schnitzler darum, „diese Frauen jetzt zur Kasse zu bitten“? Nein. Aber die Angst zu schüren, dass nun bald den armen Witwen von heute ihre kleinen Renten gestrichen werden – das kommt der Meute der Denkfaulen und Erregungsfanatiker gerade Recht.

Ist das Deutschland? Ja, aber zum Abgewöhnen.

Die dritte: Süßigkeiten sollen verboten werden

Der eine Enkel mag gar keine Schokolade, die andere Enkelin schon, aber sie bekommt sie nur selten. Seit ihrer Geburt wachen die Eltern akribisch darüber, dass Oma und Opa nicht mit zu vielen Süßigkeiten die Geschmackssinne ihrer Kinder verderben. Und sie haben Recht: Jeder Schwimmbadbesuch zeigt, dass Übergewicht bei vielen Kindern ein Problem ist. Die Gesundheitsgefahren von zu hohem Gewicht schon im Kindesalter sind ohnehin fachlich unbestritten.

In dieser Lage macht ein Verbraucherschutzminister einen Vorschlag: Man solle gesetzlich untersagen, für ungesunde, überzuckerte Lebensmittel im Umkreis von Kindertagesstätten und Schulen werben zu dürfen. Oder entsprechende Fernsehwerbung in Sendungen zu platzieren, die sich an Kinder richten.

Aber der Mob der Populisten interessiert sich nicht für die Gesundheit der Kinder. Den Mob kümmert auch nicht die Chancengleichheit, er ignoriert die evident festgestellten sozialen Unterschiede, in denen Kinder aufwachsen. Es sind Unterschiede zwischen bildungsstarken und bildungsschwachen Elternhäusern und den damit verbundenen Gesundheitschancen.

Warum nachdenken oder abwägen, wenn man auch Krawall machen kann: „Ob Kinder Süßigkeiten bekommen, sollten die Eltern und nicht ein grüner Minister entscheiden“, erklärte der CSU-Ministerpräsident Markus Söder zum Vorschlag des grünen Ministers Cem Özdemir. Geht es überhaupt um ein Verbot des Konsums? Nein, es geht um Stimmungsmache: nicht zuhören wollen, nichts verstehen wollen, aber verantwortungslos draufschlagen.

Ist das Deutschland? Ja, aber zum Abgewöhnen.

Die vierte: Die Ersteigung des „Gipfels der Doppelmoral“

Ein Land ringt um seine Freiheit. Es benötigt Waffen für seinen Kampf, und es benötigt für diese Waffen Munition. Eine Weltmacht ist bereit, dem angegriffenen Land auch eine besonders hinterhältig tödliche Art von Munition zu liefern. Viele Länder auf der Welt, auch Deutschland, haben genau diese Art von Munition als so inhuman bezeichnet, dass sie sich vertraglich verpflichtet haben, sie weder zu besitze, noch weiter zu verbreiten. Die Ukraine ist einem solchen völkerrechtlich vereinbarten Verbot der grausamen Streumunition nie beigetreten, die USA auch nicht. Das macht sie nicht besser, aber formal völkerrechtlich spricht also nichts gegen eine solche Lieferung. Moralisch wohl schon. Obwohl andererseits, nach allem, was Experten berichten, die Ukraine von Russland bereits mit genau dieser grausam-tödlichen Munition angegriffen wurde.

Was immer eine deutsche Regierung tut, ist falsch. Verurteilt oder blockiert sie die Lieferung durch die USA (falls das überhaupt möglich wäre), schwächt sie die Ukraine. Tut sie es nicht, widerspricht sie ihren eigenen Prinzipien.

Wie ist eine solche Situation üblicherweise zu nennen? Ein Dilemma. Wie nennt die Linken-Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen den Vorgang? „Gipfel der Doppelmoral“, eine „Bankrotterklärung“ für die deutsche Politik sei es, die USA nicht von der Lieferung der Streumunition abzuhalten. Keine Mühe ist spürbar, den unentrinnbaren Zwiespalt zu verstehen, anzuerkennen, dass alles falsch sein könnte, was immer man tut. Keine Differenzierung, kein Nachdenken, kein Innehalten.

Ist das Deutschland? Ja, aber zum Abgewöhnen.

Die fünfte: Der Verlust deutscher „Energie-Souveränität“

Der europäische Strommarkt ist komplex, und alle profitieren davon, dass er eng vernetzt ist. Deutschland exportiert dabei mehr Strom, als es importiert. Soweit die Fakten. Was macht der Mob daraus? Grafik: https://energy-charts.info/charts/import_export/chart.htm?l=de&c=DE&interval=year

„Die Ampel hat mit dem Abschalten der nationalen Kernkraftwerke die Energie-Souveränität Deutschlands ins Wanken gebracht. Statt ausreichend Strom in Deutschland zu produzieren, sind wir jetzt auf Atomstrom aus Frankreich angewiesen.“ Zitat des CSU-Politikers Stefan Müller gegenüber der Bild-Zeitung. Die Grünen hätten aus ideologischen Gründen die letzten deutschen Atomkraftwerke abgeschaltet, „um am Ende den Atomstrom von Frankreich zu importieren“, plappert auch Markus Söder bei Sandra Maischberger hinterher.

Was davon stimmt? Nichts. Eine deutsche „Energie Souveränität“ hat es nie gegeben und ist in der Idee eines europäischen Strommarktes weder angelegt noch wünschenswert. Deutschland exportiert deutlich mehr Strom als es importiert. Das gilt auch für den Im- und Expert zu und von Frankreich.

Unbegründete Panik schürt Missmut. Und was folgt danach?

Interessiert das irgendjemanden, der gegenteilige Behauptungen aufstellt? Bemühen sich Medien und Politik, die Diskussion der Öffentlichkeit durch redliche Diskussionen zu bereichern? Manche schon, in allen demokratischen Parteien. Und viele Qualitätsmedien auch. Aber oft wird nur noch der Ausschnitt der Wahrnehmung mitgeteilt, der ins eigene Bild passt. Die Medienmacht der Bild-Zeitung verfolgt dabei offenkundig eine eigene Agenda: Panik zu schüren fördert Verkaufszahlen und Klicks, beide steigern die Werbeeinnahmen. Und Teile der Politik hoffen zu profitieren, wenn verunsicherte Wahlbürger irgendwann mal zur Urne gerufen werden. „Es denen da oben mal zeigen“, raunen einzelne der so Umworbenen dann missmutig in die Kameras und Mikrofone.

Ist das Deutschland? Ja, aber zum Abgewöhnen. Es ist Zeit zum Innehalten.

 

 

Hier ein paar Quellen für eine differenzierte Wahrnehmung der Tatsachen:

Der Tweet von Katharina Beck und die Kommentare dazu: https://twitter.com/kathabeck/status/1677331518350303237

Zur Witwenrente: https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/witwenrente-rente-sachverstaendigenrat-1.6012742

Das plant Cem Özdemier wirklich in Sachen Werbeverbot für Süßigkeiten: https://www.bmel.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2023/024-lebensmittelwerbung-kinder.html

Zu den Streubomben: https://www.streubomben.de/streubomben/laender/streubomben-in-der-ukraine/#c21982

Zur angeblichen „Energie-Souveränität“, die Deutschland verloren habe:https://www.energy-charts.info/index.html?l=de&c=DE und ein Artikel aus dem SPIEGEL, der die Daten einordnet: https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/energieversorgung-bild-union-und-afd-vereint-in-prepperfantasien-kolumne-a-ac81cfe7-5c7a-4fe6-adda-430d869fe9a4

 

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Das Bädle und die große Politik

Beim Schwimmen drängen sich die originellsten Gedanken ins Bewusstsein. Einer davon: Die einen baden hier zum Vergnügen, andere ertrinken im Mittelmeer. Foto: lizenzfrei von Ben_Kerckx via pixabay

Abseitige Gedanken eines Schwimmers

So ein Bädle ist eine entspannte Sache, wenn es heiß ist. Sie fragen sich, was ein Bädle ist? Ein kleines Schwimmbad. Ein Sommerfreibad mit nur zwei Becken; eines für Schwimmer und eines für solche, die es werden wollen. Ein Kinderplanschbecken. Eine Liegewiese. Pommes oder Gyros gibt´s beim Griechen, der das Bistro betreibt. Fertig. Kein Schnickschnack, kein Strömungskanal, keine Wasserrutsche. Dafür ein Liegenraum, auf den wir noch zu sprechen kommen werden.

Sie fragen sich vermutlich schon nicht mehr, wo es so ein Bädle gibt. Die Verniedlichung verrät das südwestdeutsche Idiom. Wir schwimmen in Stuttgart, im Norden der Metropole, ein von der Industrie geprägter Vorort der Großstadt. Mehr als die Hälfte der Einwohner hat einen sogenannten „Migrationshintergrund“. Viele davon trifft man auch im Bädle.

Lust auf eine Abkühlung?

Dann kommen Sie doch bitte herein ins Schwimmerbecken, ein paar Bahnen ziehen. Vorher duschen! Den schaurig schönen Kälteschock genießen, losschwimmen. Heute ist es hier ganz entspannt, aber am Wochenende wird es voll im Bädle. Und wenn man mit den Schwimmmeistern spricht, erzählen sie davon, dass es manchmal Ärger gibt. Zu heiß, zu viele Leute, zu wenig Platz. Auch Leute, die sich daneben benehmen. Dann muss man halt eingreifen.

Aber noch nie hat man was von ernsthaften Problemen gehört im Bädle. Keine tödlichen Badeunfälle. Niemand ertrunken. Niemand ertrunken – war da nicht was?

Nicht schlappmachen! Weiterschwimmen!

Wenn es Ihnen zu langweilig ist, schauen Sie sich mal die Plakate links und rechts an. Das Bädle ist ein öffentliches Freibad, aber nicht von der Kommune getragen. Ein Sportverein ist Hausherr im Bädle. Ehrenamtliche leiten den Vorstand, kümmern sich um Anträge und die Einhaltung der Gesetze, stellen das Personal ein, das für Ordnung sorgt. Freiwillige Helfer decken abends die Becken ab, damit das Wasser nachts nicht so auskühlt und man Energie sparen kann.

Eine Bahn mehr, kurzer Stopp am Beckenrand, und dann zurückschwimmen!

Also, was hängen denn da für Plakate? Werbung ist das; der Sportverein ist auf alle Einnahmen angewiesen. Ein örtlicher Heizungsbauer und ein Autohaus preisen sich da, auch die letzte Bank, die noch eine mit Menschen besetzte Filiale hat im Stadtteil. Und ein Immobilienmakler. Wer im Bädle schwimmt, kann über Hauskauf oder –verkauf nachdenken, renoviert auch mal sein eigenes Bad, kauft sich ein neues Auto. Hat Geld auf der Bank. Vielleicht nicht viel, aber genug, dass sich die Bank die Werbung leistet.

Noch eine Bahn?

Klar! Aber aufpassen auf die langsam rückwärts schwimmende Rentnerin! Rücksicht ist angesagt im Bädle. Hier sind die „normalen“ Leute versammelt, von denen manche Politiker so gerne reden. Ist das ein Luxus-Millionär, der da auf der Bahn hurtig entgegengeschwommen kommt? Nein, Unsinn, nur ein sportlich ambitionierter Freizeit-Kampfschwimmer. Braucht immer eine Bahn für sich, müssen die anderen halt ausweichen. Das sind eben normale Leute hier mit normalem schwäbischem Wohlstand, egal wo sie geboren wurden. Fleißige Leute in ihrer Freizeit schwimmen hier, oder Rentner, die mal fleißig gewesen sind. Wer wollte irgendwem auf der Welt verübeln, wenn sie oder er auch so leben will, auch mit so einem Bädle?

Wunderbar erfrischend, das Wasser!

So friedlich plätschert es herum im rechteckigen Becken! Selbst bei ruhiger See sind die Wellen im Mittelmeer bestimmt fünfmal so hoch wie das Kräuseln hier im Bädle. Und das Meer ist tausendmal so tief wie hier, wo wir noch stehen können.

Komischer Gedanke. Wie kommt man denn auf sowas? Gibt ja keinen Zusammenhang zwischen dem Bädle und den Bedauernswerten, die sich durch die öden Wüsten Afrikas bis zum Mittelmeer durchkämpfen, um dann Gefahr zu laufen, in seinen Fluten zu ertrinken.

Noch eine Bahn? Oder lieber raus und die Sonne genießen? In Ordnung, noch eine Bahn.

Neulich erst war zu lesen, dass andere Freibäder in diesem Sommer weniger öffnen können, weil ihnen das Personal fehlt. Gilt nicht nur für Freibäder. Überall in Deutschland mangelt es an Fachkräften, auch an ungelernten Händen. Die Berichte darüber füllen so viele Zeitungsspalten wie alle Schwimmbäder zusammen Bahnen haben.

Genug geschwommen? Als raus jetzt.

Aber vielleicht besser im Schatten lagern bei der Hitze? Ja klar, im Bädle gibt’s auf der Liegewiese alles, was man haben möchte: Pralle Sonne für die Bräunungsfanatiker, oder guter Schatten unter dichten Bäumen. Die Leute in den Wüsten und auf so einem Schrottkahn im Mittelmeer, die haben übrigens keine solche Wahl. Entschuldigung, schon wieder so ein abseitiger Gedanke.

Also in den Schatten. Sie haben eine Decke dabei? Gut so.

Mir ist das zu unbequem. Ich brauche eine Liege. Und weil das Bädle ein Verein ist, und nicht nur ein öffentliches Schwimmbad, haben Mitglieder des Bädlevereins Sonderrechte – sie dürfen zum Beispiel ihre eigene Liege in einen Liegenraum einstellen.

Das wollen Sie sehen?

Jede Menge Platz im Liegenraum. Nicht nur dort, denkt sich der Schwimmer …

Na, dann kommen Sie mal mit. So schön deutsch ist das dort! Ein ganz kleines Zimmerchen ist der Liegenraum nur, aber wunderbare metallene Regale füllen ihn bis oben hin. Akkurat reingezirkelt sind die bequemen Klappgestelle dort; manche Liegenbesitzer misstrauen ihren Vereinsfreunden und schließen ihre Liegen mit einem Schloss ab, andere sichern sich mit kleinen Zettelchen die besten Liegenlagerplätze. Fast wie im Urlaub am Mittelmeer. So sind wir Deutsche eben. Dabei ist die Hälfte der Liegen-Fächer leer. Es ist Platz da für alle.

Das war nicht immer so, sollten Sie wissen! Ein regelrechter Verhau war dieser Raum gewesen, Liegen über Liegen stapelten sich in den Fächern und daneben und darüber und am Boden, manche verdächtig verstaubt, verbleicht, angerostet. Dann hatte der Verein eine Idee: Alle Mitglieder wurden aufgefordert, zum Saisonende ihre Liegen für einen Winter abzuholen. Was danach noch herumlag, wurde entsorgt. Und jetzt: Jede Menge Platz im Liegenraum.

Ein Windhauch. Wunderbar kühl auf der noch nassen Haut, nicht wahr? So ein friedlicher Ort, dieses Bädle.

Wir haben doch eigentlich Platz hier, oder?

Und brauchen Leute, damit wir die Arbeit erledigt bekommen. Warum investieren wir dann also viel Geld in die Abschottung an den europäischen Außengrenzen, anstatt in die Ausbildung für diejenigen, die zu uns kommen wollen?

Jetzt reicht´s Ihnen, sagen Sie? Schluss mit Politik auf der Liegewiese?

Ist ja gut. Ich meine ja nur, weil – weil doch hier im Bädle noch niemand ertrunken ist. Wäre uns ja auch nicht egal, oder?

 

 

Das hier angesprochene „Bädle“ gibt es wirklich und heißt auch so: https://www.ssv-zuffenhausen.de/freibad-baedle/

Inspiriert zu dem Text hat mich unter anderem das Gespräch zwischen Carolin Emke und dem Sozialwissenschaftler und Asyl-Experten Karl Kopp im Podcast „In aller Ruhe“ der Süddeutschen Zeitung. Die inakzeptablen Folgen einer europäischen Asylpolitik, die auf Abschottung setzt, werden dort bewusst gemacht.

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Die allerletzte Generation – Eine Polemik

Die letzte Generation? Zur Illustration des Textes dieser Polemik müssen hier symbolisch  jene sechs rechtschaffenen Bürger von Calais herhalten, die im 14. Jahrhundert bereit gewesen waren, ihr Leben zu opfern, damit ihre Stadt nach elf Monaten Belagerung vor Plünderung und Zerstörung bewahrt werden konnte. Ihr Mut beeindruckte die Frau des siegreichen englischen Königs Edward III. so sehr, dass sie bei Ihrem Gemahl einen Verzicht auf die Hinrichtung der sechs erreichte. Das Foto zeigt eine Vorstudie zur späteren Skulptur in lebensgroßen Figuren von Auguste Rodin (gesehen im Musée Rodin, Paris).

 

Schaut hin!

Schaut hin, da kommt er heran, der große Marsch der allerletzten Generation! Ein Zug von düsteren Gestalten nähert sich. Sind es Totengräber?

Vorne: Die Populisten

Vorne voran stapft schaufelschwingend die wohlgeordnete Abteilung der schwarzbraunen Populisten. Sie sind Schnäppchenjäger! Ihre Spaten haben sie im großen Kaufhaus der Vereinfachungen erworben. Jetzt, hier im großen Marsch, brüsten sie sich mit nationalem Stolz, aber dass ihre billigen Werkzeuge aus China oder Russland stammen, stört sie nicht. Daheim verschanzen sie ihre SUVs, die Statussymbole ihrer gedanklichen Ärmlichkeit, gut sichtbar hinter den hässlichen Zäunen ihrer gasbeheizten Reihenhäuser, ganz so wie dies früher ihre Väter mit den Gartenzwergen taten.

Einige von ihnen rasieren sich die Köpfe und tragen Springerstiefel. Manche arbeiten bei Springer und verätzen mit ihrem Gift den Konsens der Willigen. Viele aber stecken in maßgeschneiderten Anzügen und sonnen sich im Licht ihrer Ämter und Mandate. Sie verweigern sich bewusst kenntnisgetriebener Debatte, zum eigenen Vorteil lügen sie und missverstehen böswillig. Geschichtsvergessen und dummdreist schläfern sie ihr Publikum ein mit fadenscheinigen Versprechungen: Dass wir so weiterleben könnten wie bisher, oder dass wir noch Zeit hätten, bis das Klima kippt.

Dann: Die Besserwisser

Dahinter die nächste Abteilung im großen Marsch: Laut krakeelen die Besserwisser, die schon immer wussten, was richtig ist oder falsch, und doch gebückt daherkommen unter der schweren Last des Irrtums. Gnadenlos sind sie mit ihren Mitmenschen. Jeden grüblerischen Zweifel deuten sie als Schwäche, die sie mit Häme und Hass überziehen. Im kräftigen Bogen schütten sie Benzin auf das Publikum, damit es lichterloh brennen möge im Streit der Meinungen, damit nur niemand Luft holen kann zum Zuhören und Nachdenken. Denn das Zuhören, das Abwägen, das Nachdenken hassen die Besserwisser am allermeisten.

Weiter: Die Selbstgerechten

Was für ein Lärm dringt da voran? Laut und schrill tönen die Trompeten der Selbstgerechten. Eine Marschkapelle haben sie mitgebracht, aber sie spielt falsch. Die grünen, roten und gelben Töne passen nicht aufeinander. Ein Jedes hier macht seine eigene Musik, ohrenbetäubende Kakophonie bedrängt die Szene. Einige fordern lautstark mehr Tempo, andere stolzieren, staunend wie uneinsichtige Geisterfahrer, in die gegensätzliche Richtung.

Erschreckt wendet sich das Volk ab, hält sich die Ohren zu, blickt um sich, sucht den Dirigenten dieses Chaosorchesters. Da kommt er, ganz allein schlurft er hinter seiner tobenden Kapelle her, der Kanzler, der die ständigen Respektlosigkeiten seiner Musikanten duldet, obwohl er einst Respekt versprochen hatte.

In der Mitte: Die Masse der Unpolitischen

Die große Masse der Unpolitischen trottet heran. Schlaff am Boden schleift ihr Fähnchen, das sie in den Wind halten wollen. Jederzeit sind sie bereit, sich benachteiligt zu fühlen in einer Welt, die ihnen alles gibt zum Erhalt ihrer eigenen Dürftigkeit. Wohlig wichtig fühlen sie sich dabei, „wütend“ zu sein auf einen Staat, von dem sie erwarten, dass er sie versorgt mit Schulen, Straßen und Sozialleistungen. Von dem sie Sicherheit und Schutz erwarten, immer die Polizei in Bereitschaft, und dann Gerechtigkeit im Rechtsstaat, für dessen Erhalt sie aber keinen Finger krumm machen würden. Während sie sich diebisch freuen über jeden eingesparten Steuer-Euro, schimpfen sie lautstark über die verspätete Bahn und jede Straßenbaustelle.

Am Ende: Die schwarzen Männer der Kirche.

Nun ist er ganz still, der große Marsch. Stumm schreiten die schwarzen Männer der Kirche heran. Den Blick meist scheinheilig zum Himmel gerichtet, haben sie nichts zu sagen. Dabei könnten sie Haltung zeigen, könnten für die Werte einstehen, die hier Gefahr laufen, dass sie zu Grabe getragen werden: Toleranz, Respekt, Erhalt der Lebensgrundlagen. Aber die Kirchenmänner sind zu beschäftigt mit sich selbst. Schwer schleppen sie an ihrem Versagen, suchend blicken sie um sich nach den Sündern in ihren lichten Reihen.

Wo sind die Frauen?

Männer, fast nur Männer bisher! Wo sind die Frauen in diesem Marsch? Einzelne marschieren mit. Aber Männer sind und waren es, die sie an den Rand geschoben haben, und manche haben sich sogar schieben lassen. Es wäre Zeit, dass sie ihren  Männern in den Arm fallen, wenn diese mit vereinten Kräften sich schuldig machen an der Zukunft, wenn sie die Uhr zurückdrehen wollen in Zeiten ohne „Wokeness“, aber mit geduldetem Sexismus, rassistischen Übergriffen und Herabsetzungen.

Dann steht die Kolonne still

Da stockt der lange Marsch. Die Kolonnen stehen still. Junge Menschen haben sich ihm in den Weg gestellt, viele Frauen, alle voller Energie, aber auch voller aggressiver Ängstlichkeit. In Panik um ihre eigene Zukunft schwingen sie die Sekundenkleber und Farbeimer. Sie schreien sich und den Marschierern ihren grausigen Verdacht ins Gesicht: Ist es unsere Zukunft, die Ihr mit Euren Schaufeln verscharren wollt im schon erhitzten Erdreich der Dürre, im Schlamm der Überschwemmungen? Sie lärmen und zetern und zappeln, nicht immer klug, aber mit dem Mut der Verzweiflung.

Aber die Populisten an der Spitze des großen Marsches stopfen sich die Ohren zu, damit sie das Geschrei nicht hören müssen, das sie aufhalten will. Schon trampeln sie hinweg über die festgeklebten Hände, und alle anderen trotten hinterher.

So zieht er weiter, der große Marsch der allerletzten Generation, und der Abgrund naht.

 

Mit dem Begriff „Wokeness“ und seiner missbräuchlichen Nutzung als Schimpfwort habe ich mich auch in einem Text auseinandergesetzt, der anlässlich der Ausstellung „What happened“ mit Werken von Nicole Eisenman im Museum Brandhorst in München entstanden ist. Sie finden ihn hier.

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Die „Bürger von Calais“ habe ich hier etwas missbräuchlich zur Illustration herangezogen. Unabhängig von meinem Text ist die Geschichte ihres Opfergangs interessant zu lesen, und vielleicht lässt sie auch darüber nachdenken, was wir heute bereit sind zu opfern für unsere Zukunft: https://de.wikipedia.org/wiki/Die_B%C3%BCrger_von_Calais

 

 

 

 

 

Frontalcrash – Über Vertrauen und Freiheit

Wohliges Brummen hinter dem Steuer.

Eine Landstraße voraus, sie verläuft schnurgerade, gut einsehbar bis in die Ferne. Der sauber abgegrenzte Asphalt durchquert eine Senke. Links Wald, rechts Wiesen, durch die Windschutzscheibe liegt das graue Band in Gänze im Blick. Gut überschaubar senkt es sich herab, eine saubere, moderne Straße, zweispurig. Das Stakkato der weißen Striche in der Mitte sorgt für Ordnung. Gerade eben erst hatte das Auto in seiner ganzen betörenden Mühelosigkeit den höchsten Punkt des Hügels erklommen, der diesen Ausblick auf ein Versprechen von Freiheit ermöglicht.

Eine freie Straße – und was geschieht, wenn ein Fahrzeug entgegenkommt? Foto: Lizenzfrei von Sabine auf Pixabay

Die Straße schmiegt sich am tiefsten Punkt in die liebliche Landschaft, die sie durchschneidet, und dann steigt sie wieder an, hoch hinauf auf das Gegenüber des nächsten Hanges. Die Straße erklimmt den Scheitelpunkt, verschwindet dahinter in unbekannten Überraschungen von Natur und Zeit.

Nun geht es bergab.

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Hitziges Streiten am Stammtisch …

… oder im Kollegenkreis. Eine Meinung steht an ihrem Anfang. Sie hat sich gebildet zum Thema Atomausstieg oder zur Frage der Dringlichkeit des Klimawandels. Oder zur Haltung über Krieg und Frieden, zur Notwendigkeit von Lohnerhöhungen, über den Sinn eines Tempolimits. Und fast immer zur Frage, ob die Regierung etwas taugt oder nicht. Die Meinung kommt aus den Untiefen des Unbewussten oder wurde im Lärm der Argumente gebildet, oder sie hat beides durchquert. Sie biegt mal links und mal rechts ab, sie bekommt Schrammen, wird ausgebeult und aufpoliert.

Nun rollt sie stolz heraus aus der Debattenwerkstatt, erobert das breite Band der Meinungsvielfalt in einer demokratischen Gesellschaft. Die Medien wirken wie Treibstoff: Sie tragen sie hoch hinauf auf den Hügel der Wahrnehmbarkeit, fast mühelos. Immer schneller und schneller geht es voran im Diskurs, das breite Band senkt sich herab, gibt der Meinung Schub und Dynamik, und mit diesem Schwung wähnt sich die Meinung schon sicher, den gegenüberliegenden Hang zur Mehrheit zu erklimmen.

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Doch die Straße ist nicht leer.

Während das eigene Auto ruhig auf der rechten Seite der Straße, rechts von den weißen Streifen, dahineilt, gefühlt freudig über die Anstrengungslosigkeit des Hinabrollens, kommt ein fremdes Fahrzeug auf dem gegenüberliegenden Hang entgegen. Ein zufälliger Partner ist das für das Durchleben dieses Augenblicks, unbekannt, niemals gesehen, gelenkt von einer wildfremden Person. Sekunden sind es nur, vielleicht eine Viertelminute, in denen die beiden Gefährte aufeinander zurasen.

Eine kleine Lenkbewegung, vielleicht eine Unachtsamkeit, ein unkluger Blick aufs Handy, eine irritierende Fliege im Auto – was auch immer: Ein paar Zentimeter nach links, und die Begegnung würde taumeln zwischen Folgenlosigkeit und Katastrophe.

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Aber da – was kommt da entgegen?

Eine Gegenmeinung hat sich formiert auf dem grauen Band der Meinungsvielfalt. Breitbeinig rollt sie vom gegenüberliegenden Debattenhügel herunter, gleißend und stolz leuchten die Scheinwerfer ihrer Argumente auf, laut hupt sie, schafft Platz für bange Ängste und große Hoffnungen.

Es wird nicht mehr lange dauern, dann werden sich Meinung und Gegenmeinung begegnen. Die Meinung überlegt fieberhaft: Welche Lenkbewegung nun? Der Gegenmeinung ausweichen? Schnell die Scheinwerfer aufblenden, die Hupe betätigen? Nur nicht nachgeben, frontal drauf zu!

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Dann ein kaum spürbarer Windhauch.

Ein rasch anschwellendes Brummen und Rauschen ist zu hören – und ist schon wieder verklungen. Im Auto ein leichtes Wanken. Die rasende Begegnung ist vorüber, in einem Bruchteil einer Sekunde nur, und doch war es ein Glücksmoment des vertrauensvollen Miteinanders. Wachsamkeit, Disziplin und Regeltreue haben Leben und Freiheit ermöglicht.

Beide Fahrzeuge verschwinden hinter den Hügeln, welche die Senke begrenzen. Weiter, immer weiter streben sie auseinander, in entgegengesetzte Richtungen, zu anderen Zielen. Leer und still liegt die Straße da, als wäre nichts geschehen.

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Der krachende Zusammenstoß …

… war weithin hörbar gewesen. Übersäht ist nun das graue Band der Meinungsvielfalt mit rauchenden Trümmern. Der Zusammenprall der Meinungen hatte katastrophale Folgen. Überall liegen Beleidigungen und Herabsetzungen herum. Im Aufprall herausgeschleuderte Unterstellungen zucken noch wie abgerissene Körperteile. Hässliche Pfützen von Hass und Hetze verschandeln das graue Band. Böswillige Fehlinformationen schwelen weiter, und noch immer könnten sie einen Flächenbrand auslösen in der Landschaft der demokratischen Gesellschaft.

„Es wäre ein leichtes gewesen“, sagt später im Prozess vor dem Gericht der Wahrheitsfindung ein renommierter Gutachter aus der Wissenschaft. „Der Frontalzusammenstoß wäre vermeidbar gewesen.“ Es hätte genug Zeit gegeben, zu bremsen, vorsichtig aneinander vorbeizufahren, oder gar anzuhalten und nach einem Konsens zu suchen.

„Und warum ist das dann nicht geschehen?“, fragt der Richter der Wahrheitsfindung.

„Man kann es nicht verstehen. Es fehlte wohl am Vertrauen, die Freiheit des anderen  zuzulassen.“

 

 

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Liebe Verbots-Paniker! Ein empörter Brief

Liebe Verbots-Paniker!

Dieses Schreiben richtet sich an Euch. Es richtet sich an solche Mitbürgerinnen und Mitbürger, die bei jeder Diskussion um eine Transformation unserer Gesellschaft herumschreien: „Verbot!“ Wenn diskutiert wird, ob es sinnvoll ist, jetzt noch neue Gas- oder Ölheizungen in unsere Keller zu wuchten – „Verbot!“. Wenn wir diskutieren, ob wir in zwanzig Jahren noch neue (!) Verbrenner-Autos zulassen sollten – „Verbot!“. Wenn Zweifel bestehen, ob es eine kluge Idee ist, rund um Schulen und Kindergärten oder in Kinder-Fernseh-Sendungen für Süßigkeiten zu werben – „Verbot!“. Oder ob ein strengeres Waffenrecht angebracht wäre? – „Verbot!“ Und wenn über ein Tempolimit auf Autobahnen gesprochen wird, oder über Tempo 30 als Regelfall innerhalb von Ortschaften – dann sowieso: „Verbot!“. Wenn das Ausmaß unseres Fleischkonsums kritisch hinterfragt wird – „Verbot!“.

Liebe Verbots-Paniker,

ich kann es nicht mehr hören. Euer Geschrei geht mir auf  die Nerven, weil es mich und die Gesellschaft intellektuell unterfordert. Habt Ihr Eure Kindheit nicht überwunden? Ja, ich erinnere mich selbst gut daran, wie ich es als Kind gehasst habe, etwas verboten zu bekommen. Es war so interessant, was da auf der Herdplatte köchelte. Es war so spannend, was es da hinter dem Bauzaun in der tiefen Grube zu sehen gegeben hätte. Aber ich durfte nicht. Als ich dann selbst Kinder zu erziehen hatte, habe ich mir vorgenommen: Keine Verbote! Und was war das erste, was ich aussprach? Verbote! War das bei Euch anders?

Was hat es mit „verbieten“ zu tun, darüber zu diskutieren, welche Technik sinnvollerweise neu einzubauende Heizungen haben sollten?

Jetzt bitte nicht das Argument: Damals waren wir doch Kinder, aber jetzt sind wir erwachsen! Als ob das eine Garantie wäre, dass wir alles aus purer Vernunft heraus machen: Auto fahren immer nur so schnell, dass es niemanden gefährdet. Leise sein, um niemanden zu stören. Rücksicht üben, wo es möglich ist. Wäre es so, könnten wir auf die ganze Polizei, die Justiz, die Gefängnisse, die Gerichtsvollzieher verzichten. Ist es aber nicht. Wir brauchen Regeln, und dazu zählen auch Verbote.

Und die Freiheit, fragt ihr?

Die Art von Freiheit, die Ihr hier ungebeten ans Tageslicht zerrt, die hatten vielleicht unsere Ur-Vorfahren in der Höhle. Aber seit wir diese verlassen haben, schränken wir uns gegenseitig unsere Freiheit ein, weil sonst ein Zusammenleben nicht funktionieren würde. „Die Freiheit eines jeden beginnt dort, wo die Freiheit eines anderen aufhört“, wusste schon der kluge Immanuel Kant. Freiheit und Regeln gehören zusammen – es gibt das eine nicht ohne das andere.

Verbote begleiten un seren Alltag. Was also soll die dümmliche Verbots-Empörung bei jeder neuen Regel-Diskussion?

Oder wollt Ihr das jetzt ändern? Zulassen, dass jeder Dahergekommene in Euere Wohnung oder euer Haus eindringt?  Schon jetzt ist es verboten, seinen Kindern die Schule vorzuenthalten. Schon jetzt muss jedes Jahr ein Kaminkehrer messen, ob der Dreck aus unseren Schornsteinen noch unter einer bestimmten Höchstgrenze liegt. Schon jetzt müsst Ihr alle zwei Jahre zum TÜV mit Eurer Freiheitskarre. Schon jetzt braucht Ihr einen gültigen Führerschein zum Rumfahren, sonst ist es verboten. Sind das alles auch Verbote, die Ihr abschaffen wollt? Wollt Ihr allen Erstes plattgefahren werden von irgendeinem Troll, der ohne Führerschein und wirksame Bremsen unterwegs ist? Wäre das Eure Freiheit?

Kann man so verblendet sein?

Das darf doch nicht wahr sein, dass man das nicht versteht. Was hat denn das mit „Verbot“ zu tun, wenn eine Gesellschaft die Grenzen zwischen individueller Freiheit und Gemeinwohl immer wieder neu diskutiert? Kann man so verblendet sein, das nicht zu verstehen? Die Erde heizt sich auf, und wir müssen reagieren, um unsere Lebensgrundlagen zu erhalten. Auf dem Herd der Klimakatstrophe kocht die heiße Brühe, und wenn manche das nicht glauben wollen, dann wird es wohl verboten werden, den brodelnden Topf vom Herd zu ziehen. Denn sonst verbrühen wir uns alle.

Also, liebe Verbots-Paniker,

rüstet doch bitte einfach mal ab. Nicht jede Diskussion über eine Veränderung in der Gesellschaft ist ein „Verbot“. Wir diskutieren neue Regeln, und gerne kann jeder aus irgendwelchen, auch egoistischen, Gründen gegen diese oder jene neue Regel sein. In unserer Demokratie könnt ihr dagegen opponieren, die Notwendigkeit bestreiten, dafür werben, darauf schimpfen, was auch immer. Aber lasst bitte die „Verbot!“-Keule im Sack. Verbote sind schon jetzt ein sinnvolles und notwendiges Instrument zur Regelung unseres Zusammenlebens. Es pauschal doof zu finden, dass einem etwas verboten wird, ist kindisch.

Immer noch nicht überzeugt? Es gefällt Euch einfach zu gut, erwachsene Leute billig und populistisch an ihre verbotsgeschwängerten Kindheitserinnerungen zu packen, statt um ihre erwachsene Vernunft zu werben? Dann stellen wir uns mal bitte gemeinsam eine Welt vor, in der es keine Regeln, also auch keine Verbote mehr gibt, in der einfach jeder machen kann, was er will.

Das ist dann grob gesagt die Welt unserer Höhlenvorfahren, in der das Recht des Stärkeren gilt. Keule drauf und fertig. Es gibt genügend Regionen in der Welt, wo man Reste davon besichtigen kann. Und was dort als erstes verboten wird, das ist die eigene Freiheit.

Mit empörten Grüßen

Der #Politikflaneur

 

 

Auf die Idee zu diesem Text hat mich u.a. das kluge Interview mit Ulrich Wegst im Deutschlandfunk Kultur gebracht, das ich zum Nachlesen empfehle: https://www.deutschlandfunkkultur.de/ulrich-wegst-verzicht-100.html

 

Weitere Texte als #Politikflaneur finden Sie hier.

Vom Frieden träumen, im Krieg aufwachen

Über die Aktualität des Musicals „Hair“ am Staatstheater in Saarbrücken

Es wäre eine bösartige Verkürzung, würde behauptet, dass Deutschland gespalten sei über die Frage von Krieg oder Frieden. Es mag zwar sein, dass – grob gesagt – unter den Deutschen jeweils etwa die Hälfte meint, es solle mehr Waffen für die Ukraine geben oder eher weniger. Würde man aber fragen (was aus guten Gründen niemand tut), ob man für Krieg oder für Frieden sei, dann würden sich natürlich alle für den Frieden aussprechen. Wer kann da schon dagegen sein?

Es ist vielleicht gerade deshalb jetzt ein guter Zeitpunkt, nach Saarbrücken zu fahren. Im dortigen Staatstheater kann man bis tief in diesen Sommer hinein (letzte Vorstellung am 2. Juli 2023) als einzigem Ort in Deutschland das Musical „Hair“ erleben, in dem es um Krieg und Frieden geht, oder genauer gesagt: Um den Traum vom Frieden.

Langes Haar, bunter Fummel: Die Hippies sind bester Laune. Aber sie werden aufwachen aus ihrem Traum vom unbeschwerten Leben – Szene aus „Hair“ in Saarbrücken; Foto: Oliver Dietze, bereitgestellt von Saarländisches Staatstheater

Es war chic, gegen die USA zu opponieren

Das „American Tribal Love-Rock Musical“ aus dem Jahr 1968, an der Saar vor zwei Jahren neu aufgepeppt für die Opernbühne, gehört zur biografischen Erfahrung vieler Silver-Ager von heute. Auch wenn sie jetzt eher von Haarmangel betroffenen sind, füllen die Vertreter der 68er Generation die meisten der weichen Polstersessel des Staatstheaters. Angetreten zur bequemen Besichtigung einer besonders bunten Phase ihrer eigenen Biografie ist also die Generation, die sich erst gegen die sinnlose Brutalität der Amerikaner in Vietnam, und dann gegen deren Pershing-Atomraketen in Deutschland gewehrt hatte. Es war eine Zeit, in der es chic war, gegen die USA zu opponieren.

Ende der achtziger Jahre glitten diese Babyboomer dann ungläubig staunend in ihren eigenen Traum: Der „Ostblock“ kollabierte, der „Kalte Krieg“ schien zu enden, die gefürchteten Atomraketen wurden allseits eingemottet. Die Geschichte schenkte den Deutschen ihre Wiedervereinigung und es konnte endlich Frieden gemacht werden mit den Nachbarn im Osten. Es war ein Traum vom Frieden für immer.

Das Spektakel funktioniert noch immer

Als das geschah, war „Hair“ längst out. Einst hatte es aber den musikalischen Begleitsound geliefert für eine Zeit, in der junge Menschen sich entscheiden mussten: Zur Bundeswehr oder nicht? Für oder gegen die USA? Mehr als fünfzig Jahre später funktioniert die fetzige Musik (eine achtköpfige Band treibt das Geschehen auf der Bühne) noch immer und ist das farbenfrohe Tanzspektakel eine einzige sinnliche Freude. Knapp zwei Stunden wirbelt das Personal des Saarbrücker Staatstheaters äußerst kurzweilig über die Bühne. Die langhaarigen Blumenkinder führen ein Leben voller Müßiggang, Anpassungsverweigerung, Drogen, Sex und Illusionen. Religiöse Versprechungen aller Art würzen den berauschenden Cocktail. Dann drängen sich düstere Vorahnungen von Gewalt ins Bild, sei es im Krieg oder in der eigenen Welt der Vorurteile und Rücksichtslosigkeiten. Und auch der Raubbau an der Natur ist nicht mehr zu leugnen in dieser heilen Welt.

Ja, schön wär´s gewesen! Aber die Hippies müssen erwachen aus ihrem Traum. Noch rammdösig, benommen, verkatert – mindestens von ihrem letzten Marihuana-Trip, vielleicht auch vom ohnehin anstrengenden Rausch des Jungseins, stolpern sie herum in der Wirklichkeit. Ihr Gastwirt, der Hausherr ihrer durchgeknallten Partylokation, ist tot, rassistisch ermordet. Wie wollen sie es denn nun halten mit dem wahren Leben ihrer Zeit: Krieg oder Frieden?

Schlapp und antriebslos suchen sich die erwachten Blumenkinder aus der Altkleidersammlung zivile Klamotten heraus, werfen den lächerlichen Bunt-Fummel ab, und staunen über ihre alten Geldbeutel, die sie nicht vermisst hatten in ihrer Kapitalismus-kritischen Traumwelt. Als nächstes stünde wohl ein Friseurbesuch an.

Am Rande aber liegt der tote Gastwirt

In Saarbrücken entscheiden sich die ernüchterten Hippies schließlich für den bequemen Weg der Illusion. Das ist auch in der Originalvorlage des Musicals so vorgesehen. Einer von ihnen folgt dem Einberufungsbefehl, geht in die Armee, aber die anderen singen: „Let the sunshine in“, erst leise und verhalten und dann immer machtvoller anschwellend wie eine trotzige Hymne auf das unbeschwerte Leben. Als hätte man ein Recht darauf. „Let the sunshine in“, und die nostalgisch erwachte Schar der Grauhaarigen im Saal klatscht und singt mit. Am Rand aber, da liegt der tote Gastwirt. Vorhang.

Eine Ikone der 68er-Generation, die heute 80 Jahre alte Journalistin und Frauenrechtlerin Alice Schwarzer, ist zur gleichen Zeit in der Frage nach Krieg oder Frieden medial allgegenwärtig. Vor wenigen Tagen stand auch sie auf einer Bühne. Mit ausdrucksstarker Haarpracht, mit ihrer ganzen kantigen Persönlichkeit und Lebensleistung, rief sie vor dem Brandenburger Tor Ihrer Gefolgschaft zu: Wie es denn sein könne, dass wir uns an die Barbarei eines Krieges gewöhnen? Warum das Wort „Pazifist“ zu einem Schimpfwort geworden sei? Wie „verbrecherisch“ es sei, „der Ukraine einzureden, sie könne gegen Russland siegen.“

Das wäre dann der Moment, gedanklich kurz auf die Bühne in Saarbrücken und den historischen Hintergrund von „Hair“ zurückzukommen. Den auch von der damaligen Sowjetunion unterstützten Vietnamesen ist es im Jahr 1975 eben doch gelungen, die Soldaten der Atommacht USA aus ihrem Land zu vertreiben. Nicht mit selbstgeflochtenen Traumfängern oder Blumenkränzen auf dem Haupt, sondern mit aufreibendem Kampf und tödlichen Waffen. „Putin hört nicht auf das Geträllere von Friedensliedern“, kanzelte die FDP-Frontfrau Agnes Strack-Zimmermann die Überlegungen von Alice Schwarzer und ihren Anhängern ab, und erwischt gleich alle mit, die „Hair“ einfach nur als nostalgische Erfahrung genießen möchten.

So eine schöne Welt hätte es sein können, in die wir uns bei „Hair“ hätten zurückträumen dürfen! Geht leider nicht, geträumt haben wir vom Frieden, jetzt herrscht Krieg. Also zu Ende geklatscht, herausgestemmt aus den tiefen Polstersesseln, zurück in die brutale Realität.

Auf nach Saarbrücken!

Ein „Geschenk des Führers“ an das Saarland: Das heutige Staatstheater in Saarbrücken.

Schon beim Verlassen des prächtigen Baus in Saarbrücken gilt es, nicht zu stolpern. Ein „Geschenk“ war dieses Theater gewesen (auch wenn danach die Stadt Saarbrücken die Hälfte selbst zahlen musste). Als Dankeschön des „Führers“ wurde es errichtet. Die Bewohner des Saargebietes hatten im Jahr 1935 bei einer Volksabstimmung zu mehr als 90 Prozent für den Anschluss ihrer Heimat an Deutschland und gegen ihre Eigenständigkeit unter Aufsicht des Völkerbundes votiert. Nacherleben kann man das alles im nahegelegenen „Historischen Museum“ der Saarmetropole. Ein Sieg der Nazi-Propaganda war das gewesen, und auch ein tragischer Akt plebiszitärer Selbstunterwerfung unter ein Gewalt-Regime. In vollem Wissen über den rassistischen Judenhass der in Deutschland regierenden Nationalsozialisten und deren blutig-brutale Verfolgung jedes Andersdenkenden wählten die Saarländer den Abgrund.

Sie träumten damals von Wohlstand und Frieden – und wachten auf in einem Albtraum von Repression und Krieg. Auf nach Saarbrücken! Es gibt viel mitzunehmen von dort, wenn man über Krieg und Frieden nachdenken möchte.

 

 

 

„Hair“ ist am saarländischen Staatstheater in Saarbrücken das nächste Mal am 12. März und dann an zahlreichen weiteren Terminen bis 2. Juli 2023 zu erleben. Weitere Informationen: https://www.staatstheater.saarland/stuecke/musiktheater/detail/hair-1

Lohnend ist bei dieser Gelegenheit ein Besuch im Historischen Museum des Saarlandes: https://www.historisches-museum.org/startseite

Auch mein Text über „Langes Haar und die Sehnsucht nach Freiheit“  greift Motive aus „Hair“ auf. Weitere Texte als #Kulturflaneur finden Sie hier. 

Dieser Text erhebt nicht den Anspruch einer Aufführungskritik. Mein Fokus liegt ausschließlich auf dem (kultur-)politischen Aktualitätsbezug von Werk und Inszenierung. Daher gibt es in diesem Text auch nur Bemerkungen zur Konzeption der Inszenierung, nicht zu den Leistungen von Sänger/innen und Orchester.

Gesehen habe ich die Aufführung am 1. März 2023.