Warum kein Mensch illegal ist – und auch nicht „süß“
Sie finde ihn „total süß“, sagt die junge Frau über ihren Freund und blickt treuherzig. Besonders „wenn er versucht, die Hemden zu bügeln, die danach mehr Falten haben als vorher“, spottet sie milde. Der Wille zählt!
„Richtig süß“ hat die Betreuerin von Kindern mit Down-Syndrom deren Zuwendungsfreude erlebt. „Wenn die sich dauernd umarmen und so fröhlich sind,“ sagt sie und meint es positiv, „dann können wir Normalos wirklich noch viel davon lernen“. Die ganze Sinnstiftung ihrer Arbeit begründet sie damit.
„Echt süß“ findet der Kollege, wie sich seine Großeltern damit zurechtfinden, per Whatsapp den Kontakt mit ihren Enkeln zu halten. Er meint es nett – aber ist es das auch? (Foto: congerdesign auf Pixabay)
Der Kollege berichtet beim Mittagessen von einem Besuch bei seinen Großeltern. Die älteren Herrschaften hätten sich doch tatsächlich Whatsapp und Facetime angeeignet, um mit ihren Enkeln in Kontakt zu bleiben! Ehrliche, aber herablassende Bewunderung schwingt in seinen Worten: „Alte Möbel und einen verstaubten Röhrenfernseher haben die“, sagt er, „überall noch CD´s und Schallplatten, und dazwischen tippen sie auf ihrem Seniorenhandy herum – echt süß!“
Gewiss ist auch das Neugeborene aus der Nachbarschaft „ganz besonders süß“, wobei die Frage erlaubt sein darf, welches Baby denn nicht „süß“ wäre und wie die übermüdeten Eltern das „süße“ Baby beurteilen, wenn es sich gerade zur tiefsten Nachtstunde nicht beruhigen lassen will.
Sprache ist Ausdruck von Werten
Nun soll an dieser Stelle keiner Sprachpolizei das Wort geredet werden, sondern nur dem sensiblen Sprachbewusstsein. Denn Sprache ist Macht, und genau darum geht es bei der Bezeichnung „süß“ für Menschen und ihr Verhalten.
Wie mächtig Sprache als Ausdruck von Werten ist, zeigt dieses Beispiel: „Kein Mensch ist illegal“. Erstmals hat diesen Satz im Jahr 1988 (auf englisch) der jüdische Friedensnobelpreisträger und Schriftsteller Eli Wiesel ausgesprochen. Daraus ist ein internationales Netzwerk gegen Rassismus und Migrationsfeindlichkeit entstanden. Die vier Worte – „Kein Mensch ist illegal“ – haben eine einfache, aber unmissverständliche Botschaft: Niemand, der sich irgendwo auf der Welt aufhält, ist dort allein aufgrund seiner Existenz illegal. Letztlich drückt sich darin die Idee einer unveräußerlichen Menschenwürde aus: Der Mensch selbst bleibt immer legal, auch wenn er oder sie sich gesetzeswidriges Verhalten vorwerfen lassen muss, falls dafür ein Anlass besteht. Der kann vielleicht auch allein darin liegen, wenn man sich ohne einen vom Staat gewährten Aufenthaltsstatus in einem Land aufhält, das dies nicht erlaubt. Dann ist dieser Aufenthalt illegal, nicht aber der Mensch an sich. Es ist nur eine kleine sprachliche Feinheit – aber sie übt Macht über Menschen aus.
Aber das ist doch nett gemeint!
Ist das eine Nummer zu groß als Parallelität für den kleinen süßen Ausspruch? Wer jemand anderen als „süß“ bezeichnet, der meint es doch nett! Vielleicht. Und doch ist die Bezeichnung „süß“ ein Urteil. Wer in diesem Sinne angeblich „süß“ ist oder handelt, steht nicht auf einer Stufe, wird zum goldigen Mäuschen herabgestuft.
Süß ist Zucker und Schokolade, ein Wein kann süßlich schmecken und ein Parfüm so duften. Wir nennen das „Süßwasser“ süß, obwohl es gar nicht süß ist, sondern nur nicht salzig. Wenn es denn sein muss, mag man das niedliche Kätzchen „süß“ finden. Und auch manche „süße Lust“, mancher „süßer Traum“ kann den menschlichen Körper durchfluten. Die Bezeichnung „süß“ für einen ganzen Menschen oder das Verhalten aber macht die Betroffenen klein. Im feministischen Kontext wird daher diskutiert, ob die Erwartung an Frauen, sich sanft oder „süß“ zu verhalten, wesentlicher Teil ihrer gesellschaftlichen Benachteiligung sein könnte. Die Kulturwissenschaftlerin und Psychologien Ann-Kristin Tlusty hat darüber ein ganzes Buch geschrieben – mit dem Titel: „Süß“.
Verniedlichung übt Macht aus
Eine Verniedlichung kommt oft liebevoll-freundlich daher, aber sie übt auch Macht aus. Jede menschliche Kreatur ist von Geburt an gleichwertig in seiner Persönlichkeit, so millionenfach unterschiedlich die Wesensmerkmale auch sind – sympathisch oder garstig, freundlich oder abweisend, klug oder dumm –, und auch das Handeln: überlegt oder hitzig, zugewandt oder bemüht, machtbewusst oder schüchtern. Wie auch immer – aber gewiss nicht „süß“.
Friedrich Silcher, dem Großmeister des deutschen Liedgutes der Romantik, war mehr als 100 Jahre ein Museum gewidmet – vor einem Jahr wurde es geschlossen. (Foto: Christoph Friedrich Dörr – Ausschnitt aus dem sog. „Hochzeitsbild“, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1423045
Wie klingt Deutschland? Ganz gewiss vielstimmig: laut und trotzig, wie auch leise und schüchtern. Deutsche Musik klingt gleichermaßen nach glasklarem Barock wie nach ruppigem Deutschrap, lärmt mit Rammstein, träumt von 99 Luftballons, fährt, fährt, fährt mit Kraftwerk auf der Autobahn, und singt sich atemlos.
Deutschland klingt auch nach Friedrich Silcher: „Alle Jahre wieder“ singen die Kinder bald wieder, und der eine oder andere Erwachsene wird mitbrummen. „Ännchen von Tharau“, oder das Lied der Loreley, und schließlich „Muss i denn, muss i denn …“ – alles deutsche Lieder, an deren Erhalt und Vertonung der schwäbische Komponist Friedrich Silcher (1789 bis 1860) entscheidend beteiligt war. Silcher war einmal ein ganz Großer seiner Zeit. Auf einer Ansichtskarte von 1900 wird er in einer Reihe genannt mit Schiller, Zeppelin, Kepler, Uhland und Mörike. Hunderte Straßen und Plätze, Schulen, Konzertsäle und andere Gebäude sind nach ihm benannt. Mehr als hundert Jahre lang wurde ihm in seinem Geburtsort, in Schnait unweit von Stuttgart, ein eigenes Museum gewidmet. Seit einem Jahr ist es geschlossen, und es wird auch nicht wieder eröffnet, sondern aufgelöst. Es ist das Ende eines „Musikermuseums“.
Wer sind Musiker? – Nicht die, denen Museen gewidmet sind
Schon der Begriff „Musikermuseum“ ist bestürzend irreführend. Letztlich gibt es fast so viele Musiker in Deutschland, wie es Menschen gibt, Abermillionen, mitten im Leben, nicht in einem Museum. Es gibt die Trompeterinnen in der Blaskapelle, die Posaunistinnen auf dem Kirchturm, die ungezählten Chorsängerinnen, die Kammermusikerinnen, die sich abends in ihren Wohnzimmern treffen. Es gibt die Akkordeonspielerinnen und die Flötistinnen – und es gibt diese alle auch noch in männlicher Form. Händeringend suchen laute Bands aller Altersgruppen nach gut isolierten Übungsräumen, zirpen leise Gitarren aus Kinderzimmern, grübeln Menschen über die nächste Note ihrer Komposition, üben sich Hobby-Rapper in den richtigen Rhythmus ihrer Worte hinein. Es klingt und spielt in Deutschland allerorten, und alle diese Musizierenden gemeinsam sind auf der Suche nach dem richtigen Ton, der richtigen Taste, dem gesuchten Ventil, der perfekten Lippenspannung.
„Es kann doch wohl nicht sein“, spottete eine Tochter über ihren musikinteressierten Vater, „dass es immer noch Komponisten-Museen gibt, die Du noch nicht besucht hast!“. Doch, das kann sein. Es gibt so viele Musikermuseen in Deutschland, dass sie sogar eine gemeinsame Internetplattform betreiben und eine Landkarte herausgeben. Was dort auffällt: Die meisten große Namen der Musik versammeln sich in einem breiten Streifen durch die Mitte Deutschlands. Das musikalische Band reicht von Bonn im Westen bis nach Dresden im Osten, mit einer Nord-Süd-Breite von vielleicht hundert Kilometern. In Deutschlands Mitte wirkten Johann Sebastian Bach und seine Söhne, Georg Friedrich Händel, Ludwig van Beethoven, Robert und Clara Schumann, Felix Mendelssohn-Bartholdy und seine Schwester Fanny Hensel, Richard Wagner, Franz Liszt, Carl Maria von Weber und viele weitere. Sie alle werden mit Musikermuseen gewürdigt. Weit nördlich lockt in Hamburg das Komponistenquartier mit Museen für weitere prominente Namen (Georg Philipp Telemann, Johannes Brahms, Gustav Mahler), weit südlich wurde in Augsburg Wolfgang Amadeus Mozart geboren, und noch weiter südlich lebte Richard Strauss in Garmisch-Partenkirchen.
Silcher stand einmal in einer Reihe mit Schiller und Mörike
Im deutschen Südwesten sticht nur ein Name hervor, und er verschwindet gerade von dieser Landkarte. Der Komponist und Musikpädagoge Friedrich Silcher machte sich unsterblich, weil er im Geist der Romantik mehr als 300 Werke des deutschen Liedgutes vertonte. Silcher schrieb nicht nur die überbrachten Texte und Melodien auf, er setzte sie auch in mehrstimmige Kompositionen um und fügte ihnen eigene musikalische Ideen hinzu. Ein Lied zu singen, das war in Silchers Zeit Teil von freiheitsstrebender Identität, Ausdruck des Traums einer klassenlosen Gesellschaft. Und doch konnte das vom Württembergischen Chorverband getragene, private Silcher-Museum nicht erhalten werden. Seine Bestände werden jetzt verteilt – an das Literaturarchiv in Marbach, an das Stadtmuseum in Tübingen (wo Silcher hauptsächlich wirkte) und an andere Stellen. Was zur Frage führt: Kann man Musik ausstellen?
Der Arbeitsraum des Gewandhaus-Direktors Felix Mendelssohn-Bartholdy in Leipzig.
Wer nur einige der vielen deutschen Musikermuseen besucht, lernt unterschiedlichste Ansätze kennen, sich der Musik physisch zu nähern: Das Robert-Schumann-Geburtshaus in Zwickau gewährt Zutritt zu den Originalräumen von Schumanns Kindheit und füllt sie mit vielen Dokumenten und Lesestoff aus. Im Mendelssohn-Museum von Leipzig gewinnt der Besuchende Eindrücke über die Lebensumstände des Gewandhausdirektors, kann einzelne Gegenstände aus seinem Besitz bestaunen und in einem Raum dank Hightech selbst erleben, wie es sich anfühlt, ein Orchester zu dirigieren.
Für das Werk mancher Musiker reicht ein Museum nicht aus
Manche Komponisten haben solche Wucht in ihren Werken, dass ein einziges Museum gar nicht ausreicht. Johann Sebastian Bach kann man sich am Geburtsort Eisenach nähern, aber auch in Gedenkstätten in Wechmar (Heimat der Bach-Familie), Arnstadt (erste Organistenstelle) und in einem mächtigen Museumsneubau an seiner wichtigsten Wirkungsstätte in Leipzig. Dort drückt man auf Knöpfe, toucht auf Bildschirme und bleibt doch ratlos zurück darüber, wie der Thomaskantor neben seiner ganzen schier unerschöpflichen, bis heute gültigen Schaffenskraft auch noch eine schwindelerregende Verpflichtungsdichte (z.B. bei der Beaufsichtigung seiner Chorschüler) bewältigen konnte. Richard Wagner machte Urlaub in Graupa, unweit von Dresden. Der dortigen Entstehung seiner Oper „Lohengrin“ ist heute ein schickes modernes Museum gewidmet, neben dem berühmten Haus Wahnfried in Bayreuth und einer privaten Wagner-Sammlung in Eisenach.
Nicht das Museum macht den Musiker unsterblich
Das Museum schließt, die Musik bleibt – wenn die Musiker es möchten: Das frühere Silcher-Museum in seinem Geburtshaus in Schnait bei Stuttgart. (Foto. Thomoesch, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=28057926
Macht also ein Museum den Musiker unsterblich? Gewiss nicht. „Die Aura ist nichts, das ohne Kenntnis leuchtet,“ berichtet Elisabeth Hardtke, die Kustodin des aufgelösten Silcher-Museums in einem eindrücklichen Film, der über Silcher informiert und das Ende des Museums erklärt und dokumentiert. Wenn die Zeiten sich wandeln, bleiben die Besucher aus, und dann fehlt auch das Geld zur Modernisierung der notwendigen museumspädagogischen Ansätze.
Und so hat manches angestaubte Musikermuseum auch etwas Tröstliches: Das Museum mag eines Tages sterben, aber die Musik lebt fort, und klingt millionenfach durch Deutschland – weniger wegen des Komponisten, mehr wegen der vielen Musiker und ihrer Zuhörer. Alle Jahre wieder …
Über Populismus im Föderalismus – und zwei heimliche Stars des deutschen Grundgesetzes
Fabian Hinrichs als „Volksbürger“-Ministerpräsident. (Screenshot von der ARTE-Aufzeichnung)
Man solle doch regieren nach „gesundem Menschenverstand“, sagen Politikerinnen und Politiker – und auch viele Wählende – immer dann, wenn sie sich der Komplexität der Dinge verweigern möchten. Es sei doch ganz einfach, es müsse sich „was ändern im Land“, „die Mehrheit“, „das Volk“ habe in der Demokratie doch ein Anrecht darauf, dass ihr Wille geschehe.
Es sind diese Floskeln des Populismus, die Raum greifen im gesellschaftlichen Diskurs, und denen zu widersprechen schwerfällt. Wer sollte schon etwas haben gegen „Vernunft“, auch wenn jederfrau und -mann weiß, dass jedes seine eigene „Vernunft“ hat. Und heißt denn Demokratie nicht tatsächlich, dass die Macht vom Volk, und damit letztlich von dessen mehrheitlichem Willen ausgeht?
Föderalismus heißt oft: Bund beschließt, Land setzt um
Wohin das führen kann, ist ansatzweise im Freistaat Bayern zu besichtigen. Dort gibt es bekanntlich einen Ministerpräsidenten, der bei jeder Gelegenheit behauptet, die Bundesregierung würde sein Land benachteiligen. „Es dauert nicht lange“, schreibt zum Beispiel die Allgäuer Zeitung über Söder-Auftritte, „und schon ist die Rede vom Vorwurf, der Bund mache bewusst dem Freistaat das Leben schwer.“ Söder sage dann gerne: „Es soll bewusst der Norden bevorzugt und der Süden benachteiligt werden“, oder nennt es gar eine spürbare „Anti-Bayern-Stimmung“, die sich schon darin zeige, dass es keine Bundesminister aus Bayern gebe.
Nun sieht das Grundgesetz vor, dass in vielen Bereichen der föderalen Struktur in Deutschland der Bundestag unter jeweils gestaffelt strenger Mitwirkung der Länderkammer Gesetze erlässt, und diese in der Regel durch die Landesbehörden umzusetzen sind. Ein Beispiel: Man muss kein Freund der neuen Cannabis-Gesetzgebung sein (wie z.B. der Autor dieser Zeilen), man kann auch aus guten Gründen der Überzeugung sein, dass sie nicht den Mehrheitswillen der Bevölkerung entspricht und vielleicht sogar gegen den gesunden Menschenverstand verstößt – das Gesetz ist trotzdem gültig. Bei der nun folgenden Umsetzung durch Landesbehörden gibt es freilich einen Spielraum. „Wer mit Cannabis glücklich werden will, ist anderswo besser aufgehoben als in Bayern“, sagte Söder schon im Februar. Laut BR24 werde Bayern das Gesetz „extremst restriktiv“ anwenden. Später ergänzte der Ministerpräsident Söder: Der Freistaat soll „kein Kiffer-Paradies“ werden, was die Frage aufwirft, ob diese Gefahr je bestanden hätte. Alles das mag an der Grenze zwischen einer legitimen politischen Positionierung einer Landesregierung und ihrer Verpflichtung zur regelkonformen Umsetzung eines Bundesgesetzes liegen. Gegen den restriktiven bayerischen Kurs in dieser Sache regt sich inzwischen Widerstand, eine Klage dagegen wurde gerade angekündigt.
„Der Volksbürger“ regiert nach dem Prinzip „Freistaat first“
Was aber, wenn ein Land sich ganz und gar weigern würde, ein Bundesgesetz umzusetzen? Auf ARTE ist dies noch bis 2.10.2027 anschaulich, unterhaltsam und sehr lehrreich zu besichtigen. Gezeigt wird die Aufzeichnung eines Theaterereignisses, das Ende September im bekannten großen Saal der Bundespressekonferenz stattfand. Als „Politische Farce“ bezeichnet sich das zweistündige Stück, und der Titel lautet: „Der Volksbürger“. Gespielt vom famosen Fabian Hinrichs wird dort der jung-dynamische Ministerpräsident eines nicht näher bezeichneten „Freistaats“ gezeigt, der nach dem Prinzip „Freistaat first“ seine Landtagswahl mit absoluter Mehrheit gewinnt und sich dann tatsächlich daran macht, die bundesgesetzlich vorgegebenen Regelungen zum Ausländerrecht durch Nicht-Umsetzung ins Leere laufen zu lassen. Die betroffenen Menschen werden entweder obdachlos oder suchen sich ein anderes Bundesland zur Geltendmachung ihrer Rechte, wären also gewissermaßen „anderswo besser aufgehoben“ – um noch einmal Söder in anderem Zusammenhang zu zitieren.
Dabei ist dieser vom Schauspieler Hinrichs interpretierte, smarte Politik-Charakter kein unsympathischer Radikalinski, sondern ein charismatischer, sich seiner Außenwirkung allzu bewusster Populist, der das hässlich Konkrete im Vagen lässt, sein Volk glauben lässt, er hätte die Macht, vieles zu verwirklichen, was (früher) der Stammtisch und (heute) das Netz als „gesunden Menschenverstand“ palavert. Er müsse im Interesse seines Volkes dem „moralischen Gesetz“ folgen, nicht dem „Gesetz zwischen Aktendeckeln“.
Eitle Medien, Lokalpolitiker ohne Rückrad
Zu erleben ist auch allerhand nebenbei. Wie etwa die Medien zwar zunächst Freude daran haben, Aufmerksamkeit auf die rechtswidrige Praxis im „Freistaat“ zu lenken, mit der langfristigen Strategie des regierenden „Volksbürgers“ aber überfordert sind in ihrer Sucht nach der schnellen Schlagzeile. Oder: Wie der Politikbetrieb im Land sich blitzschnell nach den jeweils neuen, realen Machtverhältnissen ausrichtet wie die Nägel auf einen Magneten.
Allerdings: Der Rechtsstaat wehrt sich. Wie müsste die Bundesregierung in einem solchen Fall vorgehen (denn noch nie hat es diese Notwendigkeit wirklich gegeben)? Die Eskalation endet in einer Auseinandersetzung auf Messers Schneide, und wie sie ausgeht, soll hier nicht verraten werden. Das zu Recht so viel gelobte deutsche Grundgesetz hat 146 Artikel, und es ist ein gutes Zeichen für den Zustand unserer Demokratie, dass der gesunde Menschenverstand der großen Mehrheit der Volksbürger in Deutschland die meisten davon nicht zu kennen braucht. Das gilt auch für die Artikel 37 und 84 GG.
Aber dass es sie gibt, das ist auch ein gutes Zeichen.
Den Film finden Sie auf ARTE hier, aber auch in den Mediatheken von ZDF und 3sat.
Nicht nur die kleinen Orte im Osten verfallen, auch das bayerische Nordhalben stemmt sich gegen den Niedergang: Hilferuf im Ortszentrum.
„Ein deutscher Bergpfad ist’s! Die Städte flieht er und birgt im Dickicht seinen scheuen Lauf.“
So beschreibt der Dichter Joseph Victor von Scheffel den Rennsteig. Der berühmte Fernwanderweg über die Thüringer Gipfel ist uralt, und erst seit der deutschen Wiedervereinigung wieder komplett begehbar. Meine Wanderstrecke dieses Tages führt mich auf den Rennsteig, denn mehrfach kreuzt er auch den Kolonnenweg, auf dem ich in der Regel unterwegs bin.
Die Begegnung mit dem Rennsteig ist in zweifacher Hinsicht prägend:
Erstens sind plötzlich andere Menschen da. Während mir auf dem Kolonnenweg so gut wie nie Menschen begegnen, sind es auf den wenigen Kilometern, die ich heute auf dem Rennsteig unterwegs bin, gleich mehrere Wanderer und Mountain-Biker. Der Rennsteig ist hervorragend ausgeschildert und komfortabel; es gibt Rastplätze und Schutzhütten.
Zweitens irritiert mich, dass bei den Kreuzungspunkten des Rennsteigs mit dem Kolonnenweg der DDR-Grenzer nur selten ein Hinweis darauf zu finden ist, was das für merkwürdige Lochplatten sind, die da kilometerweit in der Landschaft liegen. Wanderer sind unpolitisch? Vielleicht, aber man muss sie nicht unwissend lassen.
Mein Weg begann vor fünf Tagen in der Nähe der sächsischen Kleinstadt Adorf. Auf der Suche nach Wanderproviant schlenderte ich damals dort durch das Städtchen und war entsetzt: Ein wunderbar renovierter Marktplatz, einladende Bänke, ein plätschernder Brunnen – aber sonst alles völlig verödet. Leere Schaufenster, verfallende Häuser, blickten mich an, und nur mit Mühe habe ich eine Bäckerei gefunden, die wenige Stunden geöffnet hat. Der Osten verfällt, habe ich mir da gedacht.
Nun Quartier in Nordhalben, gut siebzig Kilometer westwärts entlang der früheren Grenze, diesmal auf bayerischer Seite. Dasselbe Bild: Verfallende Häuser, leere Schaufenster, dröhnende Leblosigkeit trotz renoviertem Ortskern. Der Westen verfällt auch, denke ich mir.
Der Ort ist so sehr aus der Zeit gefallen, dass der Kino-Erfolgsfilm „Ballon“ im Oktober 2017 zu einem guten Teil hier gedreht wurde. Nicht nur, weil die atemberaubende Handlung sich tatsächlich in der Nähe abspielte – sondern auch, weil man zwischen diesen Häusern die graue Stimmung der späten DDR am besten nachbilden konnte. Überall im Ort wird an die Zeit erinnert, da Nordhalben Drehort für „Bully“ Herbig und seine Schauspieler war.
Straßenszene aus Nordhalben: In den Schaufenstern steht nichts, und ein Graffiti erinnert an die Aufnahmen für die Film „Ballon“, die hier gemacht wurden – auch, weil der Ort so sehr an die graue Realität der späten DDR erinnert.
Danach aber sank Nordhalben zurück in die ländliche Perspektivlosigkeit. Ein großes Transparenz beim Rathaus ruft um Hilfe: „Wir suchen: Ärzte, Handwerker … Wir bieten: Arbeitsplätze, bezahlbare Häuser“. Der einzige Supermarkt kündigt an, früher zu schließen. eine Jugendgruppe lädt zum Theaterabend: „Kerwa im Weltall“ heißt das Stück, das gezeigt wird, wobei man wissen muss, dass „Kerwa“ fränkisch ist für „Kirchweih“ – also Volksfest.
Das Stück ist Programm. Denn mittendrin in Nordhalben findet sich ein „Space“, gelandet wie ein Ufo auf einem vergreisenden Himmelskörper. Via Buchungsportal war ich zum Übernachten dort gelandet. Gut geschlafen habe ich, vor allem aber habe ich Unglaubliches gelernt: Als Maßnahme der bayerischen Wirtschaftsförderung wurde hier, inmitten des berechtigt befürchteten Niedergangs, eine alte Schule zu einem hochmodern renovierten Experiment umgestaltet: Konferenzräume, Co-Working-Räume, leistungsstarkes W-Lan, Gästeapartments. Der verwaltende Hausherr, als ITler im Hauptberuf ortsungebunden, ist selbst mit Prämien und billigem Leben aus der Großstadt hierher gelockt worden. Nun kümmert er sich um seinen „Space“, sprüht vor Ideen, wie er mit dem ungewöhnlichen Bau dem sterbenden Nordhalben neues Leben einhauchen könnte. Vielleicht Yoga-Kurse? Rückzugsort zum Lernen und Schreiben für Studierende und Schriftsteller? Co-Working als Fluchtpunkt für erschöpfte Home-Office-Väter und -Mütter? Oder eine Akademie gründen, um das überbordende, stylische Raumprogramm zu füllen? Auch ein Verein gründet sich: Im Space wehrt sich Nordhalben gegen den Absturz.
Allein: Außer mir ist bisher wohl kaum noch einer da, der hier co-worken will. Und auch ich wandere weiter.
Distanz: 17,2 Kilometer, 24.500 Schritte
Begegnungen mit Wanderern: 10, dazu 4 Mountainbiker (alle auf dem Rennsteig)
Für mich ist der teilweise auch in Nordhalben gedrehte Film „Ballon“ ein herausragendes Beispiel dafür, wie man Geschichte erzählen kann, mit unfassbarer Spannung und Action, ohne dass ein einziger Schuss fällt oder sonst irgendeine körperliche Gewalt gezeigt werden muss. Der Film ist über verschiedene Streaming-Dienst zu erhalten. Hier der Trailer (Link führt zu Youtube):
Verfall der Infrastruktur in Deutschland: Die erste benutzbare Sitzbank am Kolonnenweg der DDR-Grenzer taucht nach zehn Kilometern auf. Dort dann immerhin mit einer Gedenktafel über die Flucht am Schwarzen Teich.
„So viel der Helden, tapfer, deutsch und weise, – ein stolzer Eichwald, herrlich, frisch und grün!“, singt in der Wagner-Oper „Tannhäuser“ der Barde Wolfram von Eschenbach. Das fand der Sage nach unweit vom Frankenwald statt, auf der waldumstandenen Wartburg bei Eisenach in Thüringen. Der deutsche Wald meines Weges wird solchen Erwartungen nicht gerecht. Er ist kein stolzer Eichwald, sondern ein grau zerfasertes Einerlei aus kränklichen Fichtenstämmen, frisch und grün ist er auch nicht. Der deutsche Wald, jedenfalls hier, krankt.
Ich bin in der Mitte Deutschlands, auch geografisch, und auf dem teilweise fast zugewachsenen Kolonnenweg herrscht absolute Einsamkeit. Die Geräusche der Natur begleiten mich auf dem Weg, auf dem mir den ganzen Tag über kein einziges menschliches Wesen begegnet. Eine nicht bewachte, aber umzäunte Schafherde grast auf einer Wiese, sonst nur Wald, Gebüsch, Schmetterlinge, Käfer, Spinnen, die ganze Vielfalt der Schöpfung.
Hinsetzen, anlehnen, ausruhen – das wäre gut. Ein für Wanderer gedachter Rastplatz nach etwa fünf Kilometern erweist sich als archäologisches Artefakt, verfallen und unbrauchbar. Nach zehn Kilometern endlich die erste nutzbare Rastbank am Schwarzen Teich. Ich setze mich und lese eine Gedenktafel über die Geschichte der Flucht an dieser Stelle: Ein Vater mit zwei Kindern versuchte hier vor sechzig Jahren, im Sommer 1964,über die bereits befestigte Grenze von Ost nach West zu gelangen. Die Kinder erreichten unversehrt die bayerische Seite, der Vater aber trat auf eine Bodenmine und blieb schwer verletzt im Grenzstreifen liegen.
Zufällig griff ein fränkisches Pärchen im Auto die zwei an der Straße herumirrenden Kinder auf und übergaben sie der Polizei. Diese kehrte zurück an den Platz des grausigen Geschehens und brachte auch gleich den örtlichen Landarzt mit. Der Vater der Kinder lag noch immer schreiend vor ihnen, in Rufweite, aber auf DDR-Gebiet. Die DDR-Grenzer warnten vor Betreten ihres Staatsgebietes, aber die beiden Polizisten fassten sich ein Herz: Einer schoss als Feuerschutz in die Luft, und der andere zog den Schwerverletzten auf westdeutsches Gebiet. Der so Gerettete verlor durch die Detonation der Mine ein Bein, aber hatte die Freiheit gewonnen. Nach seiner Genesung und Rehabilitation kam er zur Polizeistation zurück und hat sich dort bedankt.
Das waren noch Zeiten, denke ich mir bei dieser Geschichte, als bayerische Polizei einen Flüchtenden nach Bayern hinein rettete! Die Zeiten sind anders, und ganz sicher ist es trotz allem, was man aktuell kritisieren kann und muss, nun doch besser als damals, da dies hier eine todbringende Grenze war.
Ein Plätschern , ein paar Steine – sie sieht die Landesgrenze zwischen Thüringen (vorne) und Bayern (hinten) am Schwarzen Teich heute aus. Vor 60 Jahren halfen hier bayerische Polizisten einem Flüchtenden über die Grenze, nachdem ihm eine Tretmine das Bein zerfetzt hatte.
Ich breche wieder auf, denke über meine Freiheit nach und über meine beiden gesunden Beine, während ich auf Flusskieseln hinüberhüpfe über den kleinen Bach, der einst die Grenze war. Menschenleere Stille – auf beiden Seiten.
Deutsche Einheit von unten: Rechts die Bogenbrücke der alten Hitler-Autobahn, links die ergänzte Brücke aus den 90er Jahren. Gemeinsam überspannen sie das Saaletal zwischen Thüringen und Bayern.
Ein Gärtner bläst das erste Herbstlaub vom Museumsgelände in Mödlareuth; das Museum ist noch geschlossen, aber das habe ich ja auch schon besucht. Es ist ein Aufbruch im spätsommerlichen Morgennebel, aber die feuchten Schwaden verziehen sich schnell. Strahlende Sonne über dem Grenzstreifen. Es herrscht vormittägliche Stille in der Natur, links ein Rascheln, rechts ein Pfeifen, oben das Keckern der Elstern. Eichhörnchen huschen über den Kolonnenstreifen. Die Blätter in den Bäumen rauschen im Wind.
Viele Gebäude im einst so stolzen Hirschberg, einem Zentrum der Lederproduktion, verfallen. Die Lederfabrik selbst wurde nach der „Wende“ abgerissen.
Der Weg führt durch Hirschberg und Rudolphstein. Beide Ortsnamen habe ich schon hunderte Male gelesen: Autobahnprominenz. Es gibt auch Orte dazu: Hirschberg in Thüringen war zweihundert Jahre ein Schwerpunkt der Lederfabrikation. Der DDR war das Leder von dort so wichtig, dass sie sogar akzeptierte, dass das Fabrikgelände bis unmittelbar an die tödlich bewachte Staatsgrenze reichen durfte. Nur drei Jahre benötigte dann das wiedervereinigte Deutschland (in Form der Treuhand), das riesige Fabrikgelände an einen österreichischen Investor zu veräußern, der ein halbes Jahr später Konkurs anmeldete. Das ganze Gelände, ein Labyrinth von Hallen, Gruben, Lagern wurde abgeräumt, heute erinnert eine Parklandschaft unmittelbar am alten Grenzstreifen an die Geschichte der Lederproduktion in Hirschberg.
Der Großstädter in mir vermisst den Müll. Am Weg liegt nichts, was nicht von der Natur selbst stammt. Keine Dosen, keine Kippen, keine Pizzakartons. Die Zivilisation nähert sich nur akustisch. Je näher ich der sechsspurigen A9 entgegenkomme, desto lauter liegt ihr ewiger Gesang in meinen Ohren. Zuerst ganz weit weg, eher zu ahnen, dann immer lauter singen die LKW-Bässe ihre Arie, schmachten die Tenöre der PKWs, dringt der Mezzosopran der Motorräder zu mir durch. Wüsste ich nicht, dass es sich um Vorbeirasende handelt, könnte man es für moderne E-Musik halten.
Mit diesem Gesang im Ohr gehe ich unter der „Brücke der Deutschen Einheit“ hindurch, die das Saaletal überspannt und damit Thüringen und Bayern verbindet. Ursprünglich war das ein Teil einer Hitler-Autobahn; die Bogenkonstruktion der Brücke galt schon in den 30er Jahren als spektakulär und beispielgebend. Nach der Einheit wurde sie kühn ergänzt um eine zweite Spannbetonbrücke. Nichts davon nehmen wir wahr, wenn wir oben auf der Fahrbahn zwischen Rudolphstein und Hirschberg entlangrasen. In ihrer ganzen Unterschiedlichkeit nebeneinander und einig verkraften diese Brücken die tägliche Last von Tausenden LKW und PKW und Motorrädern, dienen stumm dem nun so selbstverständlichen Hin und Her unseres deutschen Zusammenlebens. Ich schreite weiter, an der Saale entlang, und das rätselhafte Lied der Mobilität wird hinter mir immer leiser, bis es ganz verstummt.
Nur sehr gelegentlich begegne ich Menschen: Plötzlich, mitten im Wald, kommt mir eine junge Frau mit Baby im Tragetuch entgegen. Sie telefoniert und unterbricht ihr Gespräch, da sie genauso überrascht ist wie ich über diese Begegnung im Nirgendwo. Wo kam sie her? Später treffe ich zwei Damen meines Alters, plaudernd auf dem Spazierweg entlang der Saale. Sie bemitleiden mich darüber, dass ich in der Großstadt wohnen muss. Ein Rentner im akribisch gepflegten Trabi freut sich, mir seine Geschichte als geschasster DDR-Zöllner erzählen zu können.
Ein Plädoyer für tätige Hoffnung nach den Wahlen in Thüringen und Sachsen
Der erste Versuch
Zweimal haben sie es versucht, und beide Male haben sie gelogen. Fake News gehörten schon damals zum Alltagswerkzeug der Faschisten. Sie streuten das Gerücht, der Unterbau des Kreuzes auf der Burgturm müsse überprüft werden, das Kreuz drohe herabzustürzen, da Fäulnis die Tragfähigkeit des hölzernen Fundaments angegriffen habe. Die Burgverwaltung protestierte, aber es nutzte ihr wenig: In einer Nacht- und Nebel-Aktion wurde das Kreuz abmontiert und durch ein Hakenkreuz ersetzt.
Auf dem höchsten Punkt der Wartburg prangt ein goldenes Kreuz – als Symbol für Freiheitssinn und geistige Größe. Es gab Zeiten, in denen es ersetzt wurde. (Foto: Jürgen lizenzfrei auf Pixabay)
Dieser Vorgang ereignete sich tatsächlich, und zwar am 10. und 11. April 1938 auf dem Bergfried der Wartburg nahe der thüringischen Stadt Eisenach. Die Wartburg war schon damals weltberühmt, vor allem, weil sie Martin Luther zehn Monate lang als Versteck diente, er also Asyl genoss in Thüringen, und damit vermutlich seinem Tod entging. Nebenbei übersetzte er in dieser Zeit die Bibel auf Deutsch.
Jede gute Lüge hat einen realen Hintergrund
Das Kreuz wurde dem Turm im Jahr 1859 aufgesetzt – als weithin sichtbares Zeichen für die zuvor abgeschlossene Rekonstruktion der Burgruine zur Prachtburg. Heute ist sie das weltbekannte Wahrzeichen für zwei zentrale deutsche Ideen: Die der Reformation und die eines geeinten Deutschlands, wie es von den Studenten auf der Wartburg im Jahr schon 1817 gefordert worden war.
Drei Tage lang strahlte das Nazi-Symbol auf der Wartburg, dann wurde es auf Weisung aus Berlin wieder abgebaut. (Foto: Leffler, gefunden auf DDR-postkartenmuseum.de)
Jede gute Lüge hat einen realen Hintergrund, was sie vielleicht glaubwürdiger, aber nicht wahr macht. Die thüringischen Nationalsozialisten machten sich bei ihrer Hakenkreuz-Aktion zu Nutze, dass tatsächlich zwanzig Jahre zuvor das Kreuz vorübergehend eingelagert worden war, um sein vermoderndes Holzpodest zu erneuern. 1938 aber ging es in Wahrheit nicht um das Podest, sondern um das Kreuz. Der Austausch gelang, und drei Tage lang belästigte das beleuchtete Nazi-Symbol Tag und Nacht die Umgebung. Die Vollendung dieser Verschandelung feierte ein Marsch von Hitlerjugendlichen durch Eisenach, aber in der Bevölkerung formierte sich Widerstand gegen das Hakenkreuz, vor allem auch die evangelische Kirche protestierte.
Dann kam die Anordnung aus Berlin, dass das Hakenkreuz zu entfernen sei. Hitlers Regierung wollte nach dem gerade vollzogenen „Anschluss“ Österreichs keinen außenpolitischen Ärger wegen des Thüringer Kreuzes. Die Verbreitung von Fotos und Presseartikeln über das falsche Kreuz wurde verboten. Noch am nächsten Tag verschwand es vom Turm, und am 14. Mai 1938 war der alte Zustand wieder hergestellt. So endete der erste Versuch.
Was die Geschichte des Kreuzes lehrt
In unseren Tagen leuchtet das vergoldete, christliche Kreuz auf der Wartburg, fünf Meter hoch, tief hinein in den Thüringer Wald, und für alle, die seine Botschaft verstehen möchten, auch weit darüber hinaus als imposantes Zeichen von Freiheitssinn und geistiger Größe. Nicht ohne Wirkung, denn zwei Drittel der Wählenden in Thüringen und Sachsen haben am vergangenen Sonntag den Fake News unserer Zeit widerstanden – und nicht blau-braun gewählt. Der Kleingeist des anderen Drittels, auf billige Lügen zu hören und einfache Unwahrheiten zu glauben, ist bestürzend genug. Aber die Geschichte des wiedererstandenen Kreuzes auf der Wartburg lehrt: Was auch immer Menschen durch Lügen an Verbrechen und Verheerungen anrichten, wie lang und schwer auch immer die Zeit ihrer dummen Kraftmeierei ist – danach gewinnt die Wahrheit.
Denn erstens sind diejenigen, die bereit sind, die Komplexität unserer Welt zu verstehen und unsere Werte im Umgang damit zu verteidigen noch immer in der großen Mehrheit – und zum anderen wird das Geschrei der politischen Billighändler zwar schmerzhaften Schaden anrichten – aber kein einziges Problem lösen. Mehr Lehrende für bessere Bildung, mehr Pflegende für ein würdiges Alter, mehr Polizei für ein besseres Sicherheitsgefühl – sie alle fallen nicht vom Himmel. Der Mangel an Fachkräften wird nicht geringer, sondern größer, wenn deutsche wie nicht-deutsche Menschen die verödenden Gebiete meiden, in denen sich dumpfe Ressentiments sammeln. Folgen dieser fehlenden Attraktivität sind das traurige Sterben der Infrastruktur, die geschlossenen Läden in den überalterten Kleinstädten und Dörfern, der fehlende Bus, der Mangel an Hausärztinnen, die Schließung von kleinen Krankenhäusern. Alles das können Herr Höcke und Frau Wagenknecht zwar beklagen, aber sie lügen, wenn sie behaupten, dass sie es mit ihren Vorschlägen aufhalten könnten.
Kein Plädoyer für Passivität, sondern für tätige Hoffnung
Die Klimakatastrophe wird sich nicht abschwächen, weil sie geleugnet wird. Die Hitzewellen werden heißer werden und die Überschwemmungen höher. Den Atommüll wollen auch die Thüringer nicht in ihrem Wald vergraben, und in Sachsen kein neues Atomkraftwerk bauen.
Wenn es schließlich weit genug ist, dann wird die Wahrheit gewinnen. Dies ist kein Plädoyer für Passivität, sondern eines für tätige Hoffnung. Sie beginnt mit der Wahrnehmung der Wahrheit, die uns umgibt. Sie bedeutet aktives Eintreten gegen die Lüge, gegen die Gewalt, die bedenkenlose Verachtung in Sprache und Tat. Sie gründet sich auf die Werte für das menschliche Zusammenlebens, für die auch das Kreuz der Wartburg steht. In seinem Schatten muss sich niemand schämen, dafür einzutreten, Menschen in Not zu helfen, egal, woher sie kommen.
Der zweite Versuch
Es ist diese wuchtige Botschaft, wegen der die Nazis das Kreuz auf der Wartburg unbedingt zerstören wollten. Den zweiten Versuch unternahmen sie ein halbes Jahr vor Kriegsende im November 1944. Wieder musste eine Propagandalüge herhalten: englische Jagdbomber hätten das Kreuz beim Tiefflug zerstört. In Wahrheit war es mit Schneidbrennern zerteilt und demoliert worden. Zum geplanten, erneuten Ersatz durch ein Hakenkreuz kam es nicht mehr. Amerikanische Truppen besetzten Thüringen, und ein Eisenacher Kunstschlosser schweißte die Trümmer zu einem neuen Kreuz zusammen, das (etwas verspätet zum 400. Todestag von Martin Luther am 18. Februar) im November 1946 wieder auf dem Turm der Wartburg stand.
Da war Thüringen bereits von russischen Soldaten besetzt, aber weder sie, noch die atheistisch orientierte DDR tastete das Kreuz jemals wieder an. Mehrfach erhielt es seither eine neue Goldschicht, und so strahlt es bis heute, und erzählt von der Hoffnung auf die Macht der Wahrheit.
Die Geschichte vom Hakenkreuz auf der Wartburg habe ich auf Wikipedia und bei domradio.de gefunden.
Warum es keine Gleichgültigkeit gegenüber dem Töten geben darf
„Du sollst nicht töten“ – Das fünfte christliche Gebot vermittelt eine einfache Botschaft. Ist noch Platz dafür in einer verrohenden Gesellschaft? Foto: Bruno, lizenzfrei via Pixaby
Der junge Mann liegt auf dem Blechdach und ist tot. Um ihn herum ist die ganze Welt in Aufruhr, denn der junge Mann hat kurz zuvor einen Schuss abgefeuert, der das Ohr des ehemaligen Präsidenten der USA traf. Vermutlich hatte Thomas Matthew Crooks die Absicht, Donald Trump mit einem Kopfschuss zu töten. Nur sehr glückliche Umstände haben das verhindert, eine spontane Kopfdrehung seines Opfers, vielleicht eine Unkonzentriertheit, das Unvermögen oder eine Ablenkung des Schützen. Ein Besucher von Trumps Wahlkampfveranstaltung hatte nicht solches Glück; er wurde tödlich getroffen, da er in der Schussbahn saß.
Wem gilt das Bedauern? Ganz gewiss diesem Besucher, der Trump zujubeln wollte und das nicht überlebt hat. Auch Trump, denn auch er, trotz allem Hass und aller Spaltung, für die er verantwortlich ist, muss nicht hinnehmen, ermordet zu werden. Aber gilt das Bedauern auch dem Schützen?
Die Verrohung der Gesellschaft beginnt mit dieser Frage
Die Verrohung der Gesellschaft beginnt mit dieser Frage. Sie zeigt sich nicht nur in dem tödlichen Bestreben des Attentäters, dem Leben von Donald Trump gewaltsam ein Ende zu setzen, warum auch immer. Sie zeigt sich auch in dem Fehlen von Innehalten, im Ausbleiben von öffentlich wahrnehmbarem Bedauern über den Tod des jungen Mannes auf dem Blechdach. „Der Attentäter wurde durch Scharfschützen getötet“, meldeten die Agenturen lapidar. Sein Tod wird wie selbstverständlich hingenommen.
Osama Bin Laden hatte tausende Menschen auf dem Gewissen. Sie verbrannten, wurden erschlagen und verschüttet in den Ruinen der zusammenstürzenden Türme von New York am 11. September 2001. Hat er den Tod „verdient“? Als amerikanische Spezialeinheiten ihn zehn Jahre später aufspürten, machten sie kurzen Prozess mit ihm – besser: gar keinen Prozess. Sie töteten ihn. Seine Leiche warfen sie ins Meer, damit kein Grab übrigbleiben möge von dem Massenmörder.
Aus dem Nahost-Konflikt kennen wir die Pushmeldungen über gezielte Tötungen, und wir schauen kaum noch auf. Israel wehrt sich gegen seine Todfeinde, tötet regelmäßig diesen oder jenen Kämpfer, Kommandeur, General. Sie sind die Verantwortlichen dafür, dass Juden um ihr Leben fürchten müssen, auch jetzt wieder, sogar in ihrem eigenen Staat, zuletzt beim brutalen Überfall auf Israel am 7. Oktober 2023. Diese Menschen haben selbst getötet und hatten vermutlich kein Bedauern mit ihren Opfern. Dürfen wir sie deshalb auch einfach töten? Festnahme, Prozess, Rechtsstaatsverfahren? Offensichtlich keine Optionen im Anblick des allseitigen Hasses.
Die Attentäter auf Kennedy und Reagan wurden noch verhaftet
Die gesellschaftlichen Veränderungen zeigen sich auch in der rigiden Hinnahme solcher final-tödlicher Gewalt als erste, nicht mehr als letzte Option. Die Attentäter auf John F. Kennedy und Ronald Reagan wurde noch festgenommen, die Mörder von John Lennon und Martin Luther King ebenfalls und blieben Jahrzehnte im Gefängnis. Und auch jener psychisch kranke Mann, der am 12. Oktober 1990 auf Wolfgang Schäuble geschossen hatte und ihm damit ein Weiterleben im Rollstuhl aufzwang, wurde überwältigt und in einer psychiatrischen Klinik behandelt.
Wahrscheinlich kann es keine Welt geben ohne das Töten von Menschen durch Menschen. Was aber möglich scheint, ist eine Welt, in der dieses Töten von Zaudern, Skrupeln und Bedauern begleitet wird. Eine Welt, in der das Töten – auch eines offenkundig Schuldigen – nicht als selbstverständlich hingenommen wird. Es könnte eine Welt sein voller Bedauern über das Versagen, über die traurige Unmöglichkeit, das Leben dieses Menschen nicht geschont zu haben.
„Du sollst nicht töten“ – Die Botschaft ist einfach
Wer will einem Soldaten verübeln, dass er sein angreifendes Gegenüber tötet, wenn er sich doch gewiss sein muss, dass dieser ihm andernfalls das Leben nehmen wird? Und ähnliches dürfte auch für den Mann mit Gewehr auf dem Blechdach gelten, der auf Trump anlegt. Was anderes soll der Scharfschütze des Secret Service mit ihm machen – außer den „finalen Rettungsschuss“ zu setzen? Vielleicht so zielen, dass der Schütze am Leben bleibt, aber unfähig wird, weitere Schüsse abzugeben? Welches Risiko bedeutet das für den Präsidenten, wenn es misslingt?
„Du sollst nicht töten“, das fünfte christliche Gebot, hat eine einfache klare Botschaft: Das Töten ist verboten, es ist eine Ultima Ratio, kein Spaß, nichts, an das wir uns gewöhnen dürfen. Es ist niemals „gerecht“, zu töten.
Verrohung als Denk- und Geschäftsmodell
Nichts am Töten ist leichtfertig zu erledigen, das weiß jeder Vernünftige. Das industrielle Töten der Tiere, die vom Lebewesen zur Nahrung werden sollen, wird an Orte ausgelagert, die niemand sieht und Menschen überlassen, die kaum jemand kennt. So kauft sich eine Gesellschaft frei von der Verrohung, die mit dem Töten einhergeht. Noch schlimmer: Die Verrohung ist zum Denk- und Geschäftsmodell geworden. Gesellschaftliche Spaltung, kommerziell ausgebeuteter Hass, dümmlich bis krankhaft ausgeübte Rechthaberei, virale Verschwörungsblasen, Egoshooter-Spiele und (vor allem in den USA) Waffenverfügbarkeit haben das Verbot des Tötens längst relativiert.
Es gilt, der gedankenlosen Gleichgültigkeit gegenüber dem Töten Einhalt zu gebieten: „Spiele“, die auf dem lustvollen Töten basieren, sind kein Spaß. Filme, die das Töten zur Unterhaltung degradieren, muss man nicht ansehen. Postings, die unverhohlene Freude über den Tod Andersdenkender ausdrücken, gehören gelöscht. Und Nachrichten, die das Töten als selbstverständlichen Teil gesellschaftlicher Wirklichkeit darstellen, sind mangelhaft.
Denn jeder fremde Tod bringt immer auch den eigenen näher. Vergesst das nicht.
Pfarrkirche St. Peter und Paul, Bei der Peterskirche, 02826 Görlitz
Mein Besuch am 24. Mai 2024
St. Peter und Paul in Görlitz: Deutschlands östlichste Kirche steht hoch über der Neiße, unmittelbar an der Grenze zu Polen.
Vielleicht muss man sich es vorstellen, wie es gewesen war, als deutsche Soldaten in apokalyptischer Verzweiflung die Brücke unmittelbar unterhalb dieser Kirche in die Luft jagten. War es Hoffnung, die sie hatten, mit diesem Akt der Gewalt irgendwie doch noch die bevorstehende Niederlage abzuwenden? Es war der 7. Mai 1945, als dies geschah, und als die Wucht der Detonationen nahezu alle Glasfenster des oberhalb der Brücke stehenden Gotteshauses zersplittern ließ.
Vielleicht muss man nicht in diese Kirche hinein gehen; vielleicht genügt es, auf ihren Stufen über der Neiße zu stehen, um sich bewusst zu machen: Das war damals mitten in Deutschland, und die Soldaten, die hier den Sprengstoff zündeten, konnten sich vermutlich gar nicht ausdenken, dass diese Kirche einmal die östlichste in ihrer Heimat sein würde. So steht man also heute vor dieser Kirche, blickt hinunter auf die längst wieder aufgebaute Brücke, die nun eine von einem gelangweilten Polizeiauto bewachte EU-Binnengrenze zu Polen darstellt. Die Augen ruhen auf dem träge dahinströmenden Fluss, und was zu spüren ist, das ist die Wucht der Geschichte, die am Ende stärker ist als alles Dynamit.
Wie ein lichter Wald: Dem gotischen Innenraum der Kirche fehlt jede Strenge, was auch am hellen Licht liegt, das durch die ersetzten Fenster strömt, deren kunstvollen Originale wenige Stunden vor Kriegsende am 7. Mai 1945 infolge einer Sprengung der Neißebrücke zerstört wurden.
Aber ganz sicher lohnt es sich auch, sich umzuwenden und diese Kirche zu betreten, die jeden Besuchenden mit ihrer schieren Größe überwältigt. Das gotische Gotteshaus ist weit, klar, hat wenig von der Strenge, die gotische Kirchen oft sonst ausstrahlen, ist auch hell, da die zerstörten Fenster mit modernen hellstrahlendem Glas ersetzt wurden. Es ist ein Gefühl, als wandle man durch einen lichten Wald voll himmelstrebender, schlanker Bäume, deren hohes Astwerk sich zu einem schützenden Dach in weiter Höhe vereint.
Der Prospekt der Sonnenorgel von Görlitz.
Und hinein strahlt in diesen gotischen Hain der grün-goldene Prospekt der „Sonnenorgel“, ein Wunderwerk aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts, in dem 17 Sonnen kreisförmig angeordnet wurden. Die mächtigen Orgelpfeifen kann man als ihre Strahlen sehen, und zwölf davon werden selbst aus Pfeifen gebildet. Diese mächtige, und doch so lichte Kirche steht genau richtig dort, wo sie seit Jahrhunderten steht: nicht am Rande Deutschlands, sondern in der Mitte Europas.
„Vergiss die Politik!“ Der Fußballfan hat wohl schon ein paar Bierchen intus und das Deutschland-Shirt von der vorletzten WM zeigt deutliche Flecken aus vorangegangener Begeisterung. Aber macht nichts, denn in der Kneipe ist das Licht schummrig, die Luft schwer und alle gucken auf den Bildschirm. Österreich gegen die Türkei.
„Fußball hat nix mit Politik zu tun,“ sagt der Fußballfan. Der Demokratiefan hält dagegen: Warum sind Ungarn, Italien, Serbien, Georgien so früh ausgeschieden? (Foto: lizenzfrei von Pixabay, KI-generiert)
„Vergiss die Politik“, sagt der Fußballfan nochmal, wischt sich die Finger am Deutschland-Shirt ab und schwenkt das leere Bierglas. Ums Treseneck herum sitzen die beiden fremden Freunde, treffen sich hier zum ersten Mal, und spielen mit ihren Bierdeckeln. „Denk nur an den ganzen Quatsch mit Binde in Katar und irgendwelchen Arbeitssklaven und so, das war alles Politik,“ setzt der Fußballfan wieder an. Mit Schwung stellt er das leere Glas auf die Theke zurück. „Und was war dann: Schlecht gespielt haben sie.“
Sein Gegenüber ist ein Demokratiefan und wackelt mit dem Kopf hin und her. Dann zupft er sich das graue Poloshirt zurecht. Es ist warm und dampfig in der Kneipe. Draußen regnet es.
„Vergiss die Politik im Fußball“, kommt da nochmal vom Fußballfan, während er der Wirtin hinter dem Tresen winkt. Ein fragender Blick zu seinem Nachbarn, ein entschlossenes Nicken, dann werden zwei Finger gehoben in ihre Richtung.
„Irgendwie ist doch immer alles politisch“, sagt der Demokratiefan. „Gerade in Katar. Dass man da einfach in einer üblen Diktatur spielt und so tut, als gäbe es das nicht: die unterdrückten Frauen und das Verbot für Schwule und das alles. Der ganze Aufwand mit gekühlten Stadien, die jetzt leer stehen. Da kann man doch nicht weggucken. Wenn das nicht Politik ist!“
„Schon. Aber hat nix mit dem Spiel zu tun. Beim Fußball kommt es auf Fitness an, auf Kondition, und auf die gute Technik, dass sie schnell rennen können, eine Taktik haben und auf den Trainer. Das hat doch nix mit Politik zu tun.“
„Frei im Kopf müssen sie auch sein, die Spieler.“
„Ja schon, frei im Kopf ist immer gut. Ideen müssen sie haben, mal was Neues zu machen, nicht den Ball immer nur hin und her zu schieben.“
Zwei neue Biere kommen …
Die Wirtin stellt zwei Bier auf den Tresen. Saftige Schaumkronen liegen auf dem lockenden Goldgelb. Sie stoßen an.
„So muss ein Bier sein“, sagt der Fußballfan und wischt sich den Schaum von der Lippe. „Hat auch nix mit Politik zu tun.“
„Auch Bier ist politisch, vor allem der Preis“, sagt der Demokratiefan. „Es sind schon Revolutionen wegen des Bierpreises ausgebrochen.“ Er trinkt. „Aber lassen wir das. Wer ist schon alles rausgeflogen bei der Europameisterschaft?“
„Ha! Die Italiener!“ Der Fußballfan grinst.
„Siehste, die Italiener. Nicht frei im Kopf, weil sie eine postfaschistische Regierung haben.“
Der Fußballfan nimmt einen tiefen Schluck und glotzt ins Leere. „Was für ´ne Regierung?“
„Postfaschistisch. Super-autoritär. Die Meloni mag ja ganz freundlich gucken. Aber sie will die Pressefreiheit abschaffen und sich fette Macht auf immer sichern. Fast so wie der Orban.“
„Orban ist Ungarn, oder? – Auch rausgeflogen.“
„Eben: Der nächste Autokrat, der seinen Fußballern keinen Gefallen damit tut, dass sie nicht frei sind im Kopf. Ich sage: Wenn die Regierung keine Freiheit zulässt, spielen die Fußballer schlecht.“
„Jetzt Moment mal“, rafft sich der Fußballfan auf, strafft das verschwitzte Deutschland-Trikot und hebt den Zeigefinder. „Willst du mich hier in so eine Politikscheiße reinquatschen? So nach dem Prinzip, wer schlecht regiert wird, verliert im Fußball?“
„Na ja, kann man doch mal überlegen. Wer hier schon alles rausgeflogen ist, pass auf…“
„Nee, nee,“ protestiert der Fußballfan und winkt ab, „Politik hat mit Fußball nix zu tun.“
„Jetzt hör´s Dir doch wenigstens mal an. Also: Ungarn raus, Orban ist ein Diktator. Italien raus, frühere Faschisten regieren. Serbien raus, Vucic ist ein übler Putin-Freund und zündelt im Balkan. Slowakei raus, auch so ein spalterischer Populist hat da das Sagen, Fico heißt er. Will der Ukraine keine Waffen liefern. Georgien raus, da machen sie gerade ein Gesetz zur Unterdrückung aller kritischen Meinungen.“ Der Demokratiefan nimmt einen tiefen Schluck aus dem Glas. „Also, so ist es, und jetzt kommst Du.“
Der Fußballfan schüttelt den Kopf. „Das ist doch alles Blödsinn. Die Spieler da von diesen Ländern, die haben doch mit ihrer Regierung gar nichts zu tun, die spielen doch alle bei uns oder in Italien, Frankreich oder in England!“
„Das mag schon sein,“ entgegnet der Demokratiefan, „aber im Kopf sind sie doch in ihren Ländern zu Hause – oder etwa nicht? Muss ja auch so sein. Verlangen wir doch auch von unseren Migranten, wenn sie für Deutschland spielen. Von Tar oder von Musiala oder von Rüdiger, die sollen sich doch auch im Kopf voll und ganz mit Deutschland identifizieren. Gündogan hat türkische Eltern. Trotzdem singt er die deutsche Hymne, wenn’s los geht, und das ist doch auch richtig so.“
„Ja schon, aber das ist doch was anderes.“
„Warum?“
„Weil … weil … ach, keine Ahnung. Aber überhaupt, wenn das stimmen würde, was Du da redest, dann müssten die Deutschen ja auch schlecht spielen, weil wir doch auch ganz mies regiert werden von der Ampel. Tun sie aber nicht.“
„Andersrum stimmts! Die spielen gut, weil sie den Kopf frei haben, weil wir gar nicht so schlecht regiert werden. Verstanden?“
Der Fußballfan ist nicht überzeugt. „Die spielen besser als zuletzt, sagst Du, weil der Scholz so gut regiert? Das glaubst Du doch selber nicht.“
„Na, ja, das vielleicht nicht. Jedenfalls gibt’s hier aber nichts, was die Freiheit im Kopf begrenzt. Außer eigener Blödheit. Und das ist in Ungarn und Serbien und Georgien echt anders, da kannst Du ratzfatz ins Gefängnis wandern, wenn Du was Falsches sagst. Und wenn wir nicht aufpassen, ist das bald auch in Italien so. Und deshalb verlieren die alle.“
„Krass – das glaubst Du echt?“
„Ja sicher“, antwortet der Demokratiefan. „Unfreiheit im Land führt zu Unfreiheit im Kopf. Und das führt zu schlechtem Fußball. Klarer Zusammenhang.“
Die Türken spendieren eine Runde Raki …
Lautes Jubeln und Gegröle im Lokal. Das Spiel ist aus. Autohupen auf der Straße. Eine Gruppe feiernder Türken stürmt herein.
„Da hast Du Deinen Blödsinn!“ schreit der Fußballfan im Getümmel und prostet den türkischen Fans zu. Der Tresen wird umringt von Jubelnden, während eine rote Halbmond-Fahne die beiden Biergläser ins Wanken bringt. „Die Türken feiern!“, brüllt der Fußballfan, „und das ist doch nun wirklich keine gute Regierung dort. Korrupt, alles wird immer teurer, und als Frau willste da auch nicht leben, ewig daheim und mit Kopftuch und so.“ Einen tiefen Schluck nimmt der Fußballfan aus dem Glas, richtet sich neu auf, verschafft sich Platz zwischen den Feiernden um ihn herum, und ruft: „Das ist der Gegenbeweis!“
Die feiernden Türken verstehen zwar nichts die vom Gespräch, geben aber eine Lokalrunde Raki aus. Einige zeigen den sogenannten „Wolfsgruß“, ein Symbol für radikalen türkischen Nationalismus. Der Demokratiefan schüttelt den Kopf. „Gar kein Gegenbeweis,“ sagt er. „Die Türken haben die Österreicher rausgeworfen, weil beide nicht frei sind im Kopf. Siehst Du an dieser komischen Nationalismus-Geste.“ Das Rakiglas wird auf den Tresen gestellt. „Die Österreicher sind gerade drauf und dran, eine Super-Rechtspartei zum nächsten Wahlsieger zu machen. In diesem Spiel haben eben zwei Mannschaften gegeneinander gespielt, die beide nicht den Kopf frei hatten. Einer musste ja gewinnen.“
„He, jetzt hab´ ich Dich!“, schreit der Fußballfan und kippt den Schnaps in sich hinein. „Das mit der Wahl gilt auch für Frankreich! Da haste Dir jetzt selbst widersprochen. Die Franzosen werden die rechtsradikale Le Pen auch wählen, und trotzdem haben sie gewonnen!“
Der Demokratiefan greift zum Rakiglas, überlegt und schiebt es dann voll zurück. „Ja schon … aber wie! Erst in der allerletzten Minute hat´s gereicht. Das war vor allem Glück. Und außerdem haben sich die französischen Spieler ganz öffentlich gegen den drohenden Rechtsruck in Frankreich ausgesprochen. Das ist wie Doping für Freiheit, das hilft auch für die Freiheit im Kopf.“
Die türkischen Fans ziehen wieder ab, der nächsten Kneipe entgegen.
Nochmal zwei frische Biere …
Die Wirtin blickt zu ihnen hinüber, zwei Finger gehen hoch.
„Und was sagste zur Ukraine?“, fragt der Fußballfan. „Wenn die nicht eine gute Regierung haben, wer denn dann? Halten ihren Staat irgendwie am Laufen, sogar die Bahn fährt da pünktlich, was wir hier nicht hinbekommen, und nebenbei müssen sie ihr Land verteidigen.“ Zwei frische Biere werden auf den Tresen gestellt. „Und dann fliegen sie in der ersten Runde schon raus, als Gruppenletzter.“
„Das war bitter. Stimmt,“ räumt der Demokratiefan ein. „Aber die hatten eben den Kopf auch nicht frei, wer will es ihnen verübeln in ihrer Situation? Außerdem hatten sie besonderes Turnierpech. Die waren Vierter in ihrer Gruppe mit vier Punkten. Das war mehr als die Slowenen hatten, die Gruppendritte wurden und weiterkamen. Voll ungerecht.“
„Hat eben doch nichts mit Politik zu tun. Ist alles nur Fußball.“
Die Tür geht auf, eine Gruppe Österreicher trottet herein. Lautstark bestellen sie Bier. Die Enttäuschung über das Ausscheiden gegen die Türkei klingt bereits ab.
„Sag mal?“, fragt der Demokratiefan.
„Ja was?“
„Macht schon Spaß, so eine EM in Deutschland, oder?“
„Logisch! Es regnet zwar dauernd, aber trotzdem ist überall beste Stimmung. Alle freuen sich, siehste ja gerade, sogar ich kann mich mit den Türken freuen, und mit den Österreichern traurig sein.“
Sie beide prosten den Österreichern zu, die hinter ihnen stehen und gerade ihre Biergläser bekommen haben. „Seid´s arg traurig?“, fragt der Fußballfan. Die Österreicher trinken.
„Hat vielleicht auch was mit der Demokratie zu tun,“ sagt der Demokratiefan. „Gute Stimmung gibt’s nur in Freiheit, nicht in einer Diktatur.“
„Du nervst. Ich freu´ mich jetzt aufs Viertelfinale,“ sagt der Fußballfan und nimmt einen Österreicher in den Arm. „Leider ohne Euch. Aber tolle Spitzenmannschaften kommen da jetzt: Spanien, Portugal, Frankreich, Niederlande, England, Schweiz. Und Deutschland! Das werden super spannende Spiele!“
„Alles lupenreine Demokratien“, sagt der Demokratiefan.
„Da hätten wir auch reingehört“, ruft ein Österreicher. „So demokratisch wie die Niederländer sind wir noch lange.“ Der Demokratiefan lacht.
Fünf Biere hatten die Schotten ausgegeben …
„Jetzt hört doch mal auf mit dem Politikzeug!“, ruft der Fußballfan. „Und überhaupt, was ist mit den Schotten und Deiner Theorie? Die haben besonders gute Stimmung gemacht, unglaublich, fünf Bier haben sie mir ausgegeben, hier an diesem Tresen, und eine Demokratie sind sie auch, oder? Trotzdem rausgeflogen.“
„Ja, stimmt alles, aber leider haben sie einfach zu schlecht Fußball gespielt,“ sagt der Demokratiefan.
„Siehste,“ triumphieren da der Fußballfan und die Österreicher. „Ist eben Fußball. Hat nix mit Politik zu tun.“
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