Die Geburt der Vernunft (23. Dezember 2021)

Eine Weihnachtsgeschichte aus der Zeit des Omikron

Es begab es sich aber zu der Zeit, dass die Herrschenden sehr dringlich alle Bewohner des Landes aufriefen, voneinander Abstand zu halten und sich impfen zu lassen. Es war seit langem das erste Mal, dass solche Maßnahmen erforderlich waren, denn es war die Zeit des Omikron. So sollte jeder nur dann seine Nächsten treffen, wenn sonst große Not einträte. Und eine jede und ein jeder sollte in die Stadt gehen, in der er lebte, um sich impfen und die Impfung in gelben Heften eintragen zu lassen.

Aber es gab viel Unvernunft im Volke. Manche wollten den Herrschenden nicht folgen, obwohl diese ihr Amt einer ehrlichen Wahl verdankten. Andere suchten ihre Familien und Freunde ohne Vorsicht auf, und gaben damit dem Omikron die Macht über ihr Leben. Viele davon bezweifelten die Wirksamkeit des Impfens oder bestritten diese gar entgegen aller Klugheit. Also zog sich große Verwirrung durch das Volk; fast schien es so, dass keiner mehr des anderen Sprache verstehe.

Josef und Maria machten sich auf den Weg. Sie gehörten zum Volk der großen Stadt und mussten deshalb aus den Hochhäusern an ihrem Rande in das Impfzentrum reisen, das in der Mitte der Stadt lag, um sich dort impfen und eintragen zu lassen. Maria war schwanger, und als sie nach dem mühsamen Weg in die Stadt und nach langem Warten auf ihre Impfung endlich an der Reihe gewesen waren, kam für sie die Zeit der Entbindung.

Das Impfzentrum hatte seinen Ort auf dem Gelände eines großen Krankenhauses, und so brachte Maria mit liebevoll tätiger Hilfe der Hebammen, der Ärzte und Ärztinnen des Krankenhauses, unter lautem Klagen des Schmerzes, aber auch in großer Vorfreude auf das, was sie erwartete, ihr erstes Kind zur Welt. Es war ein Sohn. Sie wickelte ihn in Windeln und legte ihn dann in ihr eigenes Bett, das auf dem Flur stand, weil im Krankenhaus sonst kein Platz mehr für sie war.

In der gleichen Nacht hielten viele Frauen und Männer des Krankenhauses Wache bei ihren Patienten. Sie waren sehr müde und erschöpft, denn der Omikron sorgte dafür, dass in unablässigem Strom schwer kranke Menschen in das Krankenhaus gebracht wurden, die alle ihrer Hilfe dringend bedurften. Es waren zu viele, so dass ihre helfenden Hände schmerzten und ihr Geist verhärtete. Und doch mussten die Pflegerinnen und Pfleger, die Ärztinnen und Ärzte Schicht um Schicht im Dienst verbleiben. Oftmals schliefen sie in den Nächten im Dienstzimmer ihres Krankenhauses. Dabei blieben ihnen meist vom Schlaf nur wenige Stunden, bis sie wieder zurück eilten zu den Hilflosen in ihren Intensivbetten.

Fürchtet Euch nicht! Eine aktuelle Lichtinstallation an der Pauluskirche in Stuttgart-Zuffenhausen.

Es waren für diese Frauen und Männer schwere Zeiten voller übermenschlicher Anstrengung. Unter ihnen herrschte auch große Sorge, selbst Opfer des Omikron zu werden. Deshalb hatten viele oft wirre Träume. Eines Morgens ereignete sich, dass sie alle das gleiche geträumt hatten, und sie erzählten sich gegenseitig davon und voller Staunen auch denjenigen, die während ihres Schlafes hatten Wache halten müssen. Plötzlich sei im Schlaf ein Engel zu ihnen getreten, und das Licht der Hoffnung habe ihn umstrahlt. Im Schlaf erschraken die Müden sehr und hatten Angst, aber der Engel sagte zu ihnen: „Ihr müsst euch nicht fürchten, denn ich bringe euch eine gute Nachricht. Heute Nacht ist endlich die Vernunft geboren worden. Ihr werdet sie daran erkennen, dass ihr ein Kind findet, das in Windeln gewickelt auf dem Flur in Eurem Krankenhaus bei seiner Mutter im Bette liegt. Es wird Ratio genannt werden.“ Und dann waren sie im Traum von strahlenden Engels-Heerscharen umgeben gewesen, die alle die Vernunft lobten und riefen: „Ehre und Herrlichkeit und Frieden den Menschen im Land, die uns den Gefallen der Vernunft tun!“

Die erwachten Träumer staunten über die Gleichartigkeit ihrer Erlebnisse in der Nacht und riefen: „Vielleicht haben es nun endlich alle verstanden! Die Vernunft ist geboren! Noch einmal verzichten auf das gemeinsame Feiern und Tanzen, noch einmal zur Impfung gehen, dann gibt es ein Licht der Hoffnung. Dann werden wir den Omikron besiegen und bald ohne Sorge zurückkehren können in unsere Heimatdörfer und Wohnsiedlungen. Wir werden Weihnachten feiern können mit unseren Familien, wir werden singen und tanzen und lachen können und Kraft sammeln und nicht nur Überstunden!“

Dann aber wurde ihnen bewusst, dass sie geträumt hatten, und dass die Engel längst verschwunden waren. Da sagten die Pflegenden zur Ärzteschar: „Kommt, wir gehen durch unsere Gänge und suchen die Mutter und das Kind der Vernunft, das uns geboren wurde!“ Schnell brachen sie auf und fanden Maria, das Kind und auch Josef, der auf einem harten Stuhl neben dem Bette saß und bei seiner kleinen Familie wachte. Als sie es gesehen hatten, erzählten sie, was ihnen im Traum über dieses Kind gesagt worden war. Alle, mit denen sie sprachen, wunderten sich sehr über das, was sie da berichteten. Maria aber bewahrte das Gehörte in ihrem Herzen und dachte immer wieder darüber nach.

Bald gingen die Pfleger und Ärztinnen wieder zu ihren Patienten zurück. Sie waren jetzt voller Hoffnung, die auch trotz ihrer schweren Belastungen nicht schwinden wollte. Zwar zwang der Omikron viele neue Hilfsbedürftige zu ihnen in das Krankenhaus, ohne Unterlass und mehr denn je. Aber immer wieder erzählten sie von ihrem Traum, von den Engeln und davon, dass sie die junge Familie der Vernunft tatsächlich bei ihnen auf dem Krankenhausflur getroffen hatten – ganz so, wie die Engel es vorausgesagt hatten.

Als das Kind acht Tage später beim Standesamt angemeldet wurde, gaben Maria und Josef ihm den Namen „Ratio“, ganz so, wie es die Engel vorhergesagt hatten.

Damals lebte ein im ganzen Land als gerecht und gottesfürchtig geachteter Mann namens Karl. Er wartete schon lange auf die Ankunft der Vernunft, die dem Land endlich Trost und Rettung in diesen Zeiten des Omikron bringen würde. Der hohe Geist des Wissens ruhte auf ihm, aber auch die schwere Last der Verantwortung. Als Karl von Ratios Geburt erfuhr, war er glücklich und besuchte die junge Familie. Danach sagte er: „Mit meinen eigenen Augen habe ich die Vernunft gesehen, die uns herausführen wird aus der Seuche. Die Vernunft ist ein Licht, das die Nationen erleuchten und mein Volk zu Ehren bringen wird, auch wenn sich viele gegen sie auflehnen werden.“

Als Ratio zwölf Jahre alt war, war der Omikron längst vom Volke gewichen. So reisten seine Eltern mit ihm zu den Großeltern und feierten dort ein großes sorgloses Weihnachtsfest, wie es der Sitte entsprach. Viele Freunde und Verwandte waren gekommen, und alle saßen auf engem Raum zusammen, sangen, tanzten und lachten.

Als das Fest zu Ende ging, vermissten Maria und Josef ihren Sohn. Voller Sorge suchten sie ihn im ganzen Haus. Endlich entdeckten sie ihn allein bei den Büchern seiner Großeltern. „Kind“, sagte seine Mutter zu ihm, „wie konntest du uns das antun? Dein Vater und ich haben dich verzweifelt gesucht.“ „Warum habt ihr mich denn gesucht?“, erwiderte Ratio. „Wusstet Ihr nicht, dass ich am Ort des Wissens sein muss?“

Ratio wuchs zu einem jungen Mann heran. Er wurde Wissenschaftler. Er forschte und publizierte, war vielen Kämpfen und immer wieder großem Streit ausgesetzt. Sein Platz war immer dort, wo es galt, der Vernunft Geltung zu verschaffen.

 

Vielleicht hat dieser Text Sie neugierig gemacht auf die echte Weihnachtsgeschichte der Bibel. Hier zum Nachlesen: https://www.bibel-online.net/buch/neue_evangelistische/lukas/2/#1

Weitere Texte aus meinem Blog als #Politikflaneur finden Sie hier. Ich wünsche: Frohe Weihnachten!

Geschichte vom Pferd (10. Dezember 2021)

Wie das Schöne politisch wird – eine Stuttgart-Erfahrung

Ein stolzes Kunstwerk: Das Bronzepferd von Fritz von Graevenitz von 1939 zur Eröffnung der „Reichsgartenschau“ auf dem Killesberg.

Ein Pferd sollte her! Wir befinden uns in Stuttgart, das ein Pferd in seinem Wappen führt, weil sein Name sich von einem Garten für Stuten ableitet. Ein stolzes Pferd sollte es also sein!

So oder so ähnlich mögen die Verantwortlichen der ersten Gartenschau am Neckar sich das gedacht haben. Eine „Reichsgartenschau“ sollte 1939 eröffnet werden, und so wurde der Auftrag erteilt, den schönen Park über der Stadt nicht nur mit Hakenkreuz-Flaggen, sondern auch mit einem Denkmal-Pferd zu schmücken.

Ein trauriger Torso: Graevenitz´ Pferd aus Muschelkalk am Eingang des Höhenparks Killesberg

Wer heute den Schauplatz betritt, der noch immer ein schöner Park ist, muss genau hinsehen, wenn er am Eingang noch ein Pferd erkennen möchte. Ein steinerner Torso fristet dort sein trauriges Dasein, angenagt von Wetter und Zeit. Sollte das hier das stolze Pferd von Stuttgart sein? Man kann es kaum glauben. Und es ist auch das falsche Pferd, zwar drei Jahre früher entstanden, aber erst seit den 70er Jahren hier aufgestellt.

Also ein paar Schritte den Hang aufwärts, hinein in den Park! Dort oben blinkt und lockt es schon im Sonnenlicht, das stolze Pferd von 1939, diesmal ein schmucker Bronzeguss. Dieses Pferd ist zeitlose Kunst, eine Pracht von Kraft und Energie, erstarrt in seiner aufstrebenden Bewegung. Eine Verbeugung vor der Schöpfung, die es vermocht hatte, ein solches schönes Geschöpf entstehen zu lassen.

Die beiden Pferde, der steinerne Torso wie auch das schöne aus Bronze (genauer gesagt: ein Nachguss von 1955) sind zu besichtigen im Höhenpark Killesberg in Stuttgart. Kaum jemand achtet heute auf das verschlissene Steinpferd am Eingang, aber fast jede und jeder Stuttgarter/in kennt den Pferderücken aus Bronze. Keine Kindheit in dieser Stadt, während der man nicht den in luftiger Höhe über der Stadt liegenden Park besucht hätte, seine Spielplätze, die kleine Kirmes, den Aussichtsturm, das Höhencafé, das sommerliche Lichterfest.

Das Bronze-Pferd steht dort mittendrin an zentraler Stelle. Abertausende Stuttgarter Kindesbeine haben schon seinen glattpoliert glänzenden Rücken erstiegen, haben des Hals dieses starren, stolzen Geschöpfs umarmt. „Das größte Glück der Erde …“ – für manches Kind lag es auf diesem Rücken.

Ein Museum, …

Geschaffen hat beide Pferde der Stuttgarter Bildhauer Fritz von Graevenitz, der von 1892 bis 1959 lebte, hochgeachtet als Künstler und bis 1945 Leiter der Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart. Graevenitz entstammte altem württembergischem Militäradel, erlitt schwer Verwundungen im ersten Weltkrieg, aus dem seine beiden Brüder nicht zurückkehrten. Fritz von Graevenitz wusste wohl aus eigenem schmerzhaftem Erleben, was Krieg bedeutet, und vielleicht auch deshalb konzentrierte sich ein großer Teil seines Schaffens ganz politikfern auf die künstlerische Darstellung von Tieren.

Aber leider auch auf Portraitbüsten.

Denn Fritz von Graevenitz erfuhr nicht die Gnade der späten Geburt (wie Helmut Kohl über sich sagte), sondern musste während des Nationalsozialismus leben. Wer hinaufsteigt am Nordwestrand von Stuttgart auf die „Solitude“, das Lustschloss württembergischer Herzöge, kann dort sonntags ein kleines Museum besichtigen, das sich Graevenitz widmet. Viele Tiere in Bild und Skulptur sind dort zu sehen, und auch Portraitbüsten – Darstellungen seiner Frau, seiner vier Töchter in unterschiedlichen Altersstufen, ein frühes Portrait seines Neffen Richard von Weizsäcker.

… das Wichtiges verschweigt

Und – politisch besonders erläutert – die Büste von Rudi Daur, einem evangelisch-pietistisch orientierten Pfarrer, der sich nach dem ersten Weltkrieg für eine Überwindung des Militarismus eingesetzt hatte. Das Vorhandensein dieser Erläuterung ist von Bedeutung, weil sie bewusst ablenkt von dem, was dezidiert nicht zu sehen ist und auch mit keinem Wort erwähnt wird. Fritz von Graevenitz fertigte im Jahr 1935 eine Portraitbüste von Adolf Hitler, die vielmals kopiert im ganzen deutschen Reich zu sehen war.

Schmucker Bau, fragwürdiger Inhalt: Das Graevenitz-Museum bei der der Stuttgarter Solitude.

Im Stuttgarter Graevenitz-Museum aber ist die Zeit stehen geblieben in den 60er Jahren unserer Republik. Hier wird einmal tatsächlich eine sprichwörtliche „Geschichte vom Pferd“ erzählt. Nicht nur, weil sich auch hier mehrere Studien und Gemälde von Pferden finden, sondern weil es keinen Hinweis auf die Rolle des Künstlers im sog. „Dritten Reich“ gibt. Der Kunstfreund, der sich hierhin verirrt, wird im Unklaren gelassen über fragwürdige Aufträge der Nationalsozialisten und verfehlte kulturpolitische Einordnungen, die Graevenitz als Direktor der Stuttgarter Kunstakademie kriegskonformistisch verlauten ließ. Künstlerische Irrtümer und politische Fehltritte waren das. Es steht nicht an, über diese zu richten. Aber ihr Verschweigen durch die Nachkommen darf man als Skandal empfinden.

Trägt das Pferd eine vergiftete Ladung in sich?

Was ein Museumsbesuch bewirken kann! Auch der Blick auf das stolze Bronzepferd von 1939 wandelt sich. Was für eine prachtvolle Darstellung kräftiger Muskelpartien, kein Gramm Fett, keine Spur Dekadenz ist an diesem Tier! Sind wirklich alle Pferde so makellos? War da ein vom Hitlerwahn verblendeter Künstler ästhetisch verliebt in Stärke und Energie, in rassisch überlegene Vitalität, in kriegerischen Durchsetzungswillen, wenige Wochen vor dem deutschen Überfall auf Polen? Trägt das Bronzepferd vom Killesberg ganz nach seinem sagenhaften Vorbild aus Troja eine vergiftete Ladung, eine mörderische List, in sich?

Fritz von Graevenitz musste auch gewusst, vielleicht sogar gebilligt haben, dass jüdische Mitbürger erniedrigt und durch Stuttgarts Straßen getrieben wurden, seine jüdischen Akademiekollegen verfolgt, ihre Synagogen verbrannt waren – während er an ästhetischen Details dieses schönen Pferdes feilte. Während die Stuttgarter am Pferd vorbei durch den Höhenpark flanierten, stand nur wenige Meter entfernt von seinem luftigen Hufschlag jene Halle, in der sich ab Dezember 1941 die geächtet Todgeweihten der Stadt zur Deportation in den Tod einzufinden hatten.

Vom Killesberg ging der Weg der Todgeweihten hierhin: Startpunkt der Deportationszüge ab 1941 war der Innere Nordbahnhof. heute erinnert daran eine Gedenkstätte.

Beladen mit solchen Fragen könnte der Betrachter von heute wieder hinausschreiten aus dem Park, ein paar tausend Schritte hinüber zum Nordbahnhof, wo eine gut versteckt gelegene Gedenkstätte an den Startpunkt der Stuttgarter Deportationszüge in die Todeslager erinnert.

Ein trostloser Weg; immerhin, er führt wieder am steinernen Pferdetorso vorbei.  Sein Kalkstein war zu weich für Sturm und Regen und Sonne, zu anfällig für die Luftverschmutzung der modernen Zivilisation. Es ist ein Mahnmal der Vergänglichkeit, und als solches hat es auch etwas Tröstliches.

 

Über Fritz von Graevenitz kann man sich informieren auf Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Fritz_von_Graevenitz und – mit den genannten Einschränkungen – im Graevenitz-Museum bei der Solitude in Stuttgart: http://www.graevenitz-stiftung.de/home . Es gibt dazu auch einen kritischen Hörfunkbeitrag auf SWR 2: https://www.swr.de/swr2/kunst-und-ausstellung/das-stuttgarter-graevenitz-museum-die-luecke-ist-da-ein-bildhauer-und-seine-ns-vergangenheit-100.html

Ganz aktuell (8. Februar 2022): Die Stiftung Geißstraße in Stuttgart will sich in einem Projekt der kulturhistorischen Aufarbeitung des Werkes von Fritz von Graevenitz im Stadtraum von Stuttgart annehmen. Wer Interesse hat, dort mitzuwirken, kann sich bei der Stiftung melden.

Über Geschichte und heutige Gestaltung des Höhenparks Killesberg gibt es hier mehr zu lesen: https://de.wikipedia.org/wiki/H%C3%B6henpark_Killesberg

Die Gedenkstätte „Zeichen der Erinnerung“ im Inneren Nordbahnhof hat eine eigene, sehr informative Website: http://www.zeichen-der-erinnerung.org/

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Eine Jagd steht bevor (5. Dezember 2021)

Zum Amtsantritt von Annalena Baerbock – Ein Plädoyer für Respekt und Haltung

Die Welt und ihre Geschichte sind voller Frauen , denen man ihre Aufgabe nicht zugetraut hat.  Die wenigsten davon kennen wir. Einige schon: Clara Schumann war eine herausragende Pianistin, finanzierte mit ihren Auftritten die Existenz ihres berühmten Mannes, durfte aber nur heimlich eigene Werke schaffen, um seinen Ruf als Komponist nicht zu stören. Fanny Mendelssohn wurde von ihrem Vater daran gehindert, ihr musikalisches Talent auszuleben, weil sie das Strahlen ihres Bruders Felix am Musikhimmel nicht stören sollte.

Zu viel Musik? Die französische Nationalheldin Jeanne d´Arc musste zahllose entwürdigende Prüfungen über sich ergehen lassen, bevor sie sich gegen die Vorurteile „zu jung, eine Frau!“ durchsetzen konnte. Und auch Angela Merkel trauten viele die Aufgabe nicht zu, die sie jetzt nach 16 Jahren weltweit geachtet abgibt.

Nun blicken viele auf die neue deutsche Außenministerin Annalena Baerbock. Und Skepsis ist schick, wenn der Blätterwald rauscht und die hinter anonymer Feigheit verborgenen Trolle ätzen. Ob sie das wohl schaffen wird?, wird geraunt. Auf Augenhöhe mit den Alphas dieser Welt? Ob ihre Stimme dafür nicht zu wackelig ist, um Sergej Lawrow die Menschenrechte zu erklären? Sie hat doch schon Fehler gemacht! Ob nicht der erfahrene Cem Özdemir geeigneter gewesen wäre?

Der Blätterwald rauscht, das Netz ätzt

Annalena Baerbock, damals noch Kanzlerkandidatin der Grünen, bei einer Veranstaltung in Stuttgart am 21. September 2021

Dies hier ist ein Appell an politische Kultur: Die bewusst-demokratisch denkende, große Mehrheit der Deutschen, egal ob Mann oder Frau, könnte sich in diesen Tagen auf Selbstdisziplin besinnen. Es geht darum, klug zu wägen, was wir sagen über Annalena Baerbock. Und zwar unabhängig davon, ob man grün gewählt hat oder nicht, unabhängig davon, ob man die ehemalige Kanzlerkandidatin persönlich schätzt oder nicht, ob man ihr Fehler verziehen hat oder nicht.

„Öffentliche Meinung“ kann Menschen vernichten

Jetzt ist Respekt und Haltung gefordert. Respekt vor einer Persönlichkeit, die einer neuen Generation von Politik angehört, die einen demokratischen Weg gegangen ist, der sie in dieses Amt geführt hat. Respekt vor dem Willen, fordernde Verantwortung zu übernehmen. Und auch eine Haltung gegenüber der lauernden Meute, die jetzt jedes Wort, jede Geste, jeden Gesichtsausdruck unter die Lupe nehmen, gnadenlos kommentieren, respektlos ausschlachten wird. Das desaströse Klima einer „öffentlichen Meinung“, das die Kandidatur von Armin Laschet jenseits aller sachlichen Argumente mit wenigen Bildern und einer Flut von Häme zerstört hat, kann da als Beispiel gelten. Die mitleidigen Töne wenige Tage nach der Bundestagswahl, in denen manche der gerade noch Zynischen einräumten, dass der „Armin manchmal vielleicht etwas ungerecht behandelt wurde“, machen den vor Respektlosigkeit triefenden Vorgang davor um keinen Deut besser.

Gleiches droht in den nächsten Wochen und Monaten Annalena Baerbock. Auch der neue Kanzler und allen anderen neuen Ministerinnen und Ministern werden Häme und Herabsetzung erleben. Aber kaum jemand (vielleicht nur noch der neue Gesundheitsminister Karl Lauterbach, der öffentlich so hochgelobt nun besonders vor der Gefahr des tiefen Sturzes steht) wird von der Meute so kritisch beobachtet, so messerscharf beurteilt werden, wie die ehemalige, schon damals strauchelnde Kanzlerkandidatin und jetzt neue Außenministerin. Es ist eine Jagd, die uns bevorsteht. Und jede/r einzelne von uns steht jeden Tag neu in jedem Mittagsgespräch, jedem Facebook-Post, jedem Tweet vor der Frage, ob sie oder er sich an der Jagd beteiligen will.

Welpenschutz? Nein. Darf man lernen? Ja.

Sollte die neue deutsche Außenministerin also unter Welpenschutz stehen? Nein. Muss sie sich messen lassen an dem, was sie tut, sagt, verantwortet? Ja, aber auch nur daran. Muss alles, was sie früher gesagt hat, sich jetzt in konkreter Politik wiederfinden? Nein, weil das neue Amt andere Anforderungen hat als frühere Funktionen in einer Partei. Und weil man lernen darf, auch in höchsten Staatsämtern.

Die Welt ist voller Frauen, denen man ihre Aufgabe nicht zugetraut hat. Und voller Männer, die trotz tausend Fehlern in ihren Ämtern verblieben sind. Auch Frauen in Verantwortung scheitern an eigenen Fehlern. Zusätzlich prallen sie gegen eine Mauer von Vorurteilen und Chauvinismus. Wir sind es, die diese Mauer bauen.

Oder wir belassen es einfach dabei, Politik zu beurteilen, zu diskutieren, zu kritisieren, ohne dabei Menschen zu vernichten.

 

 

Weitere Beiträge als #Politikflaneur finden Sie hier.

Über das Schicksal von Fanny Mendelssohn und welche Bedeutung Väter für die freie Entwicklung ihrer Töchter haben, habe ich auch als #BerlinerFlaneur einige Überlegungen niedergeschrieben.

 

 

 

Ein Booster mit fünf Buchstaben (18. November 2021)

Misstrauen mit 7 Buchstaben? Booster mit 5 Buchstaben?

Da sitzt er, der selten gewordene Freund des Kreuzworträtsels, und grübelt: „Misstrauen, Verdacht“ mit sieben Buchstaben? Heute kann man alles googeln, weshalb der Zeitvertreib aus dem vor-digitalen Zeitalter kaum noch Konjunktur hat. Es geht um „Argwohn“. Des Rätsels Lösung ist also schnell gefunden. Auch in unserer Gesellschaft müssen wir ihn nicht mehr suchen.

Es macht sich Argwohn breit im ganzen Land

Überbordender Argwohn ist täglicher Begleiter unseres pandemischen Lebens geworden, es macht sich Argwohn breit im ganzen Land. Wir misstrauen unserem Sitznachbarn in der Bahn, im Kino, im Restaurant. Wir misstrauen ihm, wenn er keine Maske trägt, oder wenn sie nicht richtig sitzt. Wir verdächtigen diejenigen, die keinen Impfnachweis haben, und wir beginnen, sogar dem Impfnachweis selbst zu misstrauen, weil wir davon lesen, dass der Impfschutz nachlässt. Wir hören, dass es Fälle gibt, in denen der Impfnachweis gefälscht wurde.

Wir begegnen den müden Männern aus Osteuropa mit Argwohn, wenn sie nach Feierabend verstaubt und farbbekleckert von unseren Baustellen kommen als abstandslose Gruppe hinter uns in der Schlange am Supermarkt stehen. Hatten wir nicht gelesen von den niedrigen Impfquoten in ihrer Heimat, von der Ansteckungsgefahr in billigen Sammelunterkünften? Argwöhnisch halten wir die Luft an, wenn sich in den engen Regalgassen des Supermarktes der Obdachlose auf dem Weg zum Flaschenautomaten an uns vorbeischiebt. Ja, es macht sich Argwohn breit in unserem Land.

Die Plage des Misstrauens wächst in der Kälte

Und die Plage des Misstrauens wächst, je kälter es wird. Die sommerliche Wärme hat uns eingelullt in einer Wolke freundlichen Vertrauens, nicht nur wegen der niedrigen Inzidenz-Zahlen. Sondern auch weil draußen Platz war für das selbst gewählte Maß an Wohlfühl-Distanz, weil Wind und Sonne unsere Sinne lüfteten. Aber jetzt ist es dunkel, und drinnen regiert der Argwohn.

Dabei wissen wir es doch: Fehlendes Vertrauen ist die Quelle vielen Unglücks. Tausende Romane und zahllose Bühnenstücke basieren in ihren Erzählungen auf dem Argwohn. Falscher Verdacht beschuldigt zu Unrecht, vergiftet unser Miteinander, seinetwegen wurden Kriege angezettelt und Menschen vernichtet. Argwohn sickert wie Gift in unsere Seele, macht uns hart, abweisend und ungerecht.

Der Argwohn hat einen Zwilling

Des Argwohns Zwilling ist die naive Gutgläubigkeit. Sie lullt uns ein in das süße Gefühl, dass schon alles gut werden kann, auch wenn wir uns nicht anstrengen. Wie der Argwohn uns verfinstert im Gemüt, so trübt uns die Gutgläubigkeit den Blick, raubt uns unsere Scharfsichtigkeit. Es ist naiv, eine offenkundige Gefahr nicht sehen zu wollen, anstatt ihr entgegenzutreten. Es ist kein Argwohn, sondern vorausschauende Klugheit, dem Räuber ein einbruchssicheres Schloss entgegenzusetzen.

Im Jahr 2015 wurde das Wort „Gutmensch“ zum „Unwort des Jahres“ gekürt, da es zu Unrecht diejenigen in ein schlechtes Licht rückt, die mit hoffnungsfroh-positivem Blick auf unser Zusammenleben blicken. Mit dem Schimpfwort „Gutmenschen“, so die Jury, würden „Toleranz und Hilfsbereitschaft pauschal als naiv, dumm und weltfremd, als Helfersyndrom oder moralischer Imperialismus diffamiert.“ Wer sich für das Gute in der Gesellschaft engagiert, muss eben nicht immer naiv und gutgläubig sein.

Die Dreifach-Impfung gegen den Argwohn

Erste Dosis: Zuhören. Wir wissen Vieles von unserer Welt, wenn wir Experten und Wissenschaftlern im gegenseitigen kritischen Diskurs einfach einmal zuhören. Aktives Zuhören, kritisches Nachfragen, Bereitschaft, sich überzeugen zu lassen – sie bilden die Basis unseres gesellschaftlichen Immunsystems. Wir können es stärken. Einfach mal zuhören!

Zweite Dosis: Solidarität. Sie ordnet unser Denken und unser Zusammenleben, und sie schützt uns vor naiver Gutgläubigkeit. Solidarität weitet unseren Blick darauf, was dem anderen zusteht, nicht nur einem selbst. Solidarität braucht auch einen gesunden Schuss Argwohn. Denn niemand, der Solidarität erfährt, kann aus der Verantwortung entlassen werden, nach seinen Kräften sich selbst zu helfen.

Und schließlich der Booster mit fünf Buchstaben: Demut. Demut macht uns bewusst, dass wir nicht alles wissen, und dass wir jederzeit irren können. Demut macht den Argwöhnischen tolerant und den Naiven vorsichtig. Das macht beide reicher.

 

Mit der Pandemie-Politik in Deutschland habe ich mich in einem weiteren Text als #Politikflaneur auseinandergesetzt: Von Macht und Machthabern

 

Von Macht und Machthabern (11. November 2021)

Die Bilder von der Grenze zwischen Belarus und Polen sind unerträglich. In Eiseskälte campieren Menschen auf dem Weg in die EU. Vor ihnen patrouillieren polnische Grenzsoldaten, die sie mit Stacheldraht und Waffengewalt genau davon abhalten. Hinter ihnen stehen ebenfalls Bewaffnete: Milizionäre aus Belarus, die sie hindern, umzukehren. Glaubt man dem, was dazu in unseren Medien berichtet wird, so sind diese Menschen zumindest zum Teil gezielt aus den desaströsen Verhältnissen ihrer Heimat, aus dem Irak oder Syrien, dorthin gelockt worden. Vom Regen in die Traufe? Das wäre eine zynische Untertreibung.

Ein „Machthaber“ handelt skrupellos …

Verantwortlich dafür sei der „Machthaber“ von Belarus, Alexander Lukaschenko, berichten die Medien. Er verleite Menschen, die in die EU einreisen wollen, gezielt dazu, dies an der Grenze seines Landes zu Polen zu versuchen. Angeblich holt er sie mit Hilfe Russlands und der Türkei sogar gezielt zu diesem Zweck in sein Land. Es sollen genau die Bilder des Grauens produziert werden, die uns jetzt quälen. Er will damit erreichen, dass europäische Sanktionen gegen sein Land zurückgenommen werden, seine Partner wollen Europa destabilisieren. Das Kalkül: Die Gutmenschen im satten Westeuropa werden es nicht aushalten, Menschen vor ihrer Eingangstür erfrieren zu lassen. Sie werden es nicht zulassen, dass ganze Familien sterben, wenn polnische Grenzsoldaten mit Waffengewalt das verteidigen, was wir „europäische Außengrenze“ nennen.

Und auch diese Bilder sind unerträglich: Am Rande der Erschöpfung kämpfen Intensivmediziner und -pflegende um das Leben von Menschen, die sich geweigert haben, die notwendige Vorsorge zu treffen. Obwohl sie es besser hätten wissen können. Obwohl die Impfung kostenlos und massenhaft angeboten wurde. Jetzt verstopfen sie die Betten für Menschen, die auf eine Krebsoperation oder das Einsetzen eines lebenssichernden Stents länger als eigentlich nötig und medizinisch geboten warten müssen. Gegen den Krebs oder den möglichen Herzinfarkt gibt es keine Impfung, gegen das Schicksal dieser Betroffenen keine Chance. Unsolidarische verstopfen den Weg zur Versorgung von Unschuldigen.

… und andere Machthaber zögern

Das Reichstagsgebäude in Berlin im herbstlichen Abendlicht.

Auch in diesem Drama fehlt es nicht an „Machthabern“, die daran etwas verändern könnten. Wir haben in Deutschland eine geschäftsführende Regierung, die umfassend handlungsfähig ist und auch verpflichtet, zu handeln. Wir haben amtierende Ministerpräsidenten. Sie alle sollte angesichts rapide steigender Infektionszahlen Macht ausüben, die ihr demokratisch zugeteilt wurde. Und wir leisten uns noch dazu den Luxus einer neuen, gerade legitimierten parlamentarischen Mehrheit. Auch sie könnte im Parlament Macht ausüben, wenn sie nicht abgelenkt wäre davon, sich mit anderen wichtigen Fragen zu beschäftigen. Die Ampel-Koalitionäre sind Machthaber im selbst auferlegten Wartestand. Kein Wort vom baldigen Kanzler, unentschlossene Konzepte der neuen „Machthaber“, die noch nicht „fertig“ damit sind, die Macht auch wirklich ausüben zu wollen, die ihnen die Wähler verliehen hat.

Vorsicht mit Begriffen! Wer ist ein „Machthaber“?

In beiden Geschichten sind nicht vergleichbar. Und doch wird in beiden der Begriff „Machthaber“ verwendet. Er geistert derzeit täglich durch deutsche Medien, wenn man den so Bezeichneten nicht anders einordnen kann oder möchte. In der Tatenlosigkeit deutscher Politik gegenüber wieder rapide steigenden Infektionszahlen zeigt sich, dass „Machthaber“ eine neutrale Bezeichnung sein könnte für diejenigen, welche die Macht ausüben. Wir haben in Deutschland nach unserer Verfassung hauptsächlich einen Machthaber: die oder der Bundeskanzler/in. „Machthaberin Merkel“ würde aber (außerhalb einzelner Pegida-Verwirrter) ernsthaft kein Mensch sagen. Auch den französischen oder amerikanischen Präsidenten würden wir niemals als „Machthaber“ bezeichnen, obwohl es beide noch viel umfassender sind als ein deutscher Kanzler. Sogar der mit fragwürdigen Methoden regierende russische Präsident Putin wird meist respektvoll als „Präsident“ bezeichnet.

Einen „Machthaber“ macht nach unserem Verständnis aus, dass ein Mächtiger (ja, in der Regel ist es ein Mann) seine Macht missbräuchlich nutzt. Ein „Machthaber“ vertritt die böse Seite der Macht. An der Grenze zu Belarus zeigt sich, dass der Begriff „Machthaber“ eine Verharmlosung ist. Wer ohne demokratische Kontrolle rücksichtslos Macht ausübt, wer mit Gewalt und Einschüchterung verhindert, dass er abgewählt werden kann, wer Hilflose oder Naive als menschliche Munition missbraucht und sie bewusst in ihr möglicherweise tödliches Unglück treibt, ist ein Tyrann, ein Diktator, vielleicht sogar ein Verbrecher.

Auch Macht-Unlust verursacht Schäden

Auch das Nichtausüben von Macht ist fragwürdig, zumal dann, wenn sie demokratisch legitimiert ist. Was ist das für ein Geeiere zwischen 2G und 3G, zwischen Impf- und Maskenpflichten, zwischen Festen und Testen! Es fehlt an entschlossener Machtausübung in unserem Land, das noch dazu geadelt ist von hoher politischer Kultur, in der eine große Mehrheit der Gesellschaft den Konsens sucht. Was wir erleben, ist Machtunlust der Machthaber zum Schaden unser aller Gesundheit.

Was also folgt daraus? Deutsche Medien sollten einen gewalttätigen, menschenverachtenden Diktator nicht als „Machthaber“ verniedlichen, sondern als solchen bezeichnen. Und eine Gesellschaft, die gewählt hat, hat Anspruch auf Machtausübung. Das gilt erst recht, wenn die Sorge um die Gesundheit keinen Aufschub des Tätigwerdens duldet. Demokratisch legitimierte „Machthaber“, die ihre Macht nicht ausüben, weil sie gerade anderweitig beschäftigt sind, versündigen sich an ihrem Auftrag.

Ein kluger Essay zum Thema Machtausübung in der Pandemie von Nils Minkmar in der Süddeutschen Zeitung (hinter der Bezahlschranke, aber lohnt sich!):  https://www.sueddeutsche.de/kultur/corona-politik-deutschland-bundesregierung-zaudern-1.5460138?reduced=true

Das perfide Kalkül, dem die Flüchtenden derzeit an den Westgrenzen von Belarus ausgesetzt sind, schildert sehr anschaulich der SZ-Podcast zu diesem Thema „Auf den Punkt“: https://www.sueddeutsche.de/politik/podcast-nachrichten-gefluechtete-in-belarus-lukaschenkos-kalkuel-1.5459637

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Von Konstanz nach Glasgow (4. November 2021)

Wahrscheinlich war der 11. November 1417 ein grauer Tag, nebelig vielleicht, der Dunst stieg auf vom See. Wenig ist heute so wie damals (aber um das Wenige wird es in diesem Text gehen). Das herbstliche Bodensee-Wetter könnte im Vergleich zu allem anderen, und trotz Klimawandel, eine Konstante geblieben sein.

Das Konzilgebäude von Konstanz ist der einzige Ort in Deutschland, in dem ein Papst gewählt wurde – vor mehr als 600 Jahren. Und es steht noch heute.
Die „Imperia“ an der Hafeneinfahrt gegenüber dem Konzilgebäude mahnt an den Sittenverfall während des Konzils (und davor und danach).

Also nehmen wir an, dass es vor 604 Jahren grau-dunstig gewesen ist in Konstanz am Bodensee. Aber niemand achtete auf das Wetter. Alle strömten zu den Straßen, suchten einen Blick zu erhaschen auf den festlichen Zug, der aus dem wuchtigen Walmdachbau am Seeufer herausquoll und sich über das nassgraue Pflaster wälzte. In edlem Brokat gekleidete Kardinäle, Edelmänner, hochdekorierte Beamte folgten gemessenen Schrittes einem Papst, der eben neu gewählt worden war. Martin V. führte den feierlichen Tross an, der hinüberzog zum Konstanzer Münster. Dort hatte das Konzil nun schon mehr als drei Jahre getagt. Ein Riesenaufwand, zigtausende Fremde waren in diese Stadt eingefallen, die selbst nur ein paar tausend Einwohner hatte. Die vielen Gäste hatten deren Alltag durcheinandergebracht, hatten gewohnt, gezecht, gehurt, gestritten, Geld ausgegeben und Schulden gemacht.

Nun kam das Spektakel zu einem Ende, denn jetzt war es vollbracht: Habemus papam! Von diesem Tag an gab es wieder nur noch einen Papst der katholischen Kirche, nicht mehr drei, wie zuvor. Mit Martin V., dem einzigen auf deutschem Boden gewählten Papst, konnte die katholische Kirche des Mittelalters ihr „abendländisches Schisma“ überwinden.

Heute spielt im Konzil das Sinfonieorchester

Die Orte dieses Geschehens sind bis heute zu besichtigen. Das Münster dominiert das Konstanzer Stadtbild, und auch der Ort der Papstwahl, das „Konzil“ direkt neben dem Bahnhof von Konstanz, steht bis heute. Ursprünglich war es ein mittelalterliches Warenhaus, und die Ehre, zum Ort einer Papstwahl zu werden, wurde ihm aufgrund seiner Größe und gut abgrenzbaren Lage zuteil.

Die schönste Art, den Geist dieses Ortes auf sich heute wirken zu lassen, ist vielleicht ein Konzert der Südwestdeutschen Philharmonie, die regelhaft im „Konzil“ musiziert. Also Applaus! Was für ein wunderbarer Ort, um zur Musik die Gedanken schweifen zu lassen…

Warum also heute diese Geschichte erzählen? Weil die Papstwahl von Konstanz uns lehrt, wie Pragmatismus und Realpolitik funktionieren. Und weil das viel mit dem Ringen der Mächtigen zu tun hat, die derzeit in Glasgow um eine Eindämmung der Klimakatastrophe streiten. Die Ausgangslage damals war so aussichtslos verworren wie heute. Seit fast vierzig Jahren gab es drei konkurrierende Päpste in der damals bekannten (also europäischen) Welt. Der Zustand war untragbar, denn der unselige Streit um Macht und Pfründe war für das Volk der Gläubigen vor allem Ausdruck für eine vollkommene Verrottung der kirchlichen Moral. Der deutsche König Sigismund, dessen Machtstellung sich ebenfalls von „Gottes Gnaden“ ableitete, wollte sich damit nicht abfinden. Was er einleitete und zum Abschluss brachte, war ein Musterbeispiel für einen realpolitischen Prozess.

Am Anfang steht der kleine gemeinsame Nenner

So gedacht, war das Konstanzer Konzil der Weltklimakonferenz nicht unähnlich: Am Anfang steht als kleinster gemeinsamer Nenner, dass man sich trotz scheinbar unüberbrückbarer Gegensätze wenigstens trifft. Das Konzil dauerte vier Jahre, in endlosen Sitzungen rangen Adlige und Kardinäle und ihre Politiker um jeden Millimeter der Annäherung. Es mussten scheinheilige Reden und hohle Ankündigungen ertragen werden, Kompromisse und Gegengeschäfte gemacht werden. Man musste lernen zuzuhören, zu geben und zu nehmen, aber nach Jahren stand immerhin ein Teilerfolg: Zwei der konkurrierenden Päpste waren mehr oder weniger freiwillig abgedankt, um die Wahl eines gemeinsamen Nachfolgers zu ermöglichen. Der dritte war politisch isoliert und wurde in Abwesenheit abgesetzt.

Für dieses Ergebnis musste ein Preis entrichtet werden. Die Mehrheit konservativer Kleriker setzte durch, dass auf grundlegende Reformen in der Kirche verzichtet wurde. Das sollte sich hundert Jahre später in der von Martin Luther losgetretenen Reformationsbewegung aus katholischer Sicht bitter rächen. Und doch hätte Luther vielleicht nicht erfolgreich wirken können, hätten nicht Jan Hus und Hieronymus von Prag schon in Konstanz gegen Pomp und Luxus in der Kirche gepredigt, dafür mit ihrem Leben bezahlt, und doch ihm damit den Weg bereitet.

Wir werden mit Glasgow nicht zufrieden sein können

Vor dem Eingang zum Konstanzer Münster steht ein Protestcamp der Klimabewegung.

Greta Thunberg ist nicht Jan Hus, und diese junge Frau und andere Aktivisten der Klimabewegung müssen (jedenfalls außerhalb mancher „sozialen“ Medien) in Europa keine Hinrichtung wegen Ketzertums mehr fürchten. Sie haben Recht, wenn sie realpolitischen Pragmatismus der heute Mächtigen als unzureichend anprangern. Aber sie erhalten nicht Recht, denn unüberbrückbar sind die Differenzen zwischen den reichen und den armen Ländern, zwischen Ignoranten und Idealisten, zwischen satten, hochgelegenen und armen, von Überflutung bedrohten Regionen.

Also werden wir nach Glasgow nicht zufrieden sein können, so wie die Kirche nach dem Konzil von Konstanz nicht ausreichend reformiert war. Wir werden Kompromisse hinnehmen müssen, und dafür Preise zahlen. Wie einst die selbstverliebten Kardinäle in Konstanz, verschließen auch wir die Augen vor den Folgen unserer Beharrung. Wie sie wollen wir unseren Glauben nicht verändern, unseren Glauben an ewiges Wachstum und unantastbaren Wohlstand. Das wird sich rächen.

Das Konstanzer Symphonieorchester steuert dem Ende des Konzertes zu, fiedelt und trötet sich souverän durch den letzten Takte machtvoller Musik. Für satte Akustik sorgen jene mächtigen hölzernen Balken, die gleichen stammdicken Säulen, die schon die Papstwahl bezeugt haben. In 600 Jahren haben sie schon viele Töne gehört, ehrliche und falsche, schrille und harmonische. Sie haben die Lügen der Kardinäle gehört, die falschen Schwüre, die unerfüllten Appelle. Sie haben alle Katastrophen überlebt, die über Konstanz schon hereingebrochen waren, die Hochwasser, die Brände, Kriege, Bombardierungen, auch die Verwüstungen der Moderne.

Diese Zeugen aus Holz wissen es längst: Wenn der letzte Ton dieser Musik verklungen ist, klatscht und pfeift und johlt das Publikum. Und dann wird ein neues Konzert folgen.

 

Nähere Informationen zum Konzil von Konstanz bei Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Konzil_von_Konstanz

 

Das Konzertprogramm und weitere Informationen über die Südwestdeutschen Philharmonie Konstanz findet sich auf deren Website: https://www.philharmonie-konstanz.de/

 

Das Münster von Konstanz, in dem das Konzil (außer bei der Papstwahl) tagte, ist auch in meiner Sammlung #1000Kirchen zu finden, hier

Wilhelm geht ins Museum (19. Oktober 2021)

Eine freie Assoziation über Wilhelm II., den letzten König von Württemberg, auch als Audiodatei:

Das Denkmal für Wilhelm II. von Württemberg als Spaziergänger mit seinen Spitzhunden ist nicht unumstritten. Derzeit steht es in der Ausstellung im Stadtpalais; im Sommer stand es vor dem Stuttgarter Opernhaus.

Was für eine Schande, denkt sich Wilhelm. Er stützt sich auf seinen Rollator, als er vor seine Villa tritt. Das schöne Eingangstor aus Schmiedeeisen mit den goldenen Spitzen, das ist noch gut in Schuss. Aber wie sinnlos ist es geworden! Unmittelbar davor, dort, wo einmal alles grün und prächtig war, hatten die Demokraten ihm das ewige Brausen, Jaulen und Tosen einer vierspurigen Straße vor die Nase gesetzt. Den ständigen Lärm, Tag und Nacht, nahm er schon gar nicht mehr wahr. Seit vielen Jahren durchschneidet die scheußliche Schneise den schönen Park, seinen Park. Wenig ist davon übriggeblieben, auch links die Pferdeställe, früher ein Prachtquartier für seine edlen Hengste und Stuten, sind nur noch Ruinen. Immerhin, seine Villa Marienwahl selbst, die sieht noch recht ordentlich aus, findet Wilhelm.

Wer Straßen nutzt, soll sich nicht über sie beklagen, hatte ihm einmal ein kluger Mensch gesagt. An diesen Spruch denkt Wilhelm jetzt, als er das beige Taxi herbeirollen sieht, das ihn nach Stuttgart bringen wird. Die freundliche Taxifahrerin hilft ihm, den Rollator zusammenzuklappen und in den Kofferraum zu wuchten. Wilhelm lässt sich seufzend auf den Beifahrersitz hinabsinken. Schon praktisch, diese Autos, denkt sich Wilhelm, während das Taxi herausrollt aus dem, was geblieben ist vom schönen Garten rund um seine Villa und einbiegt auf diese schreckliche Straße, die sein Ludwigsburg durchschneidet.  Nicht nur seine Villa, auch sein Schloss liegt nun unmittelbar an dem brausenden Ungetüm von Straße. Es ist, als hätte der Allmächtige persönlich mit einer Axt einen Spalt durch die einst so prächtige Residenzstadt geschlagen. Demokraten sind ästhetische Barbaren, denkt sich Wilhelm.

Leben in Stuttgart nicht Menschen, sondern Autos?

Die gleiche Gewalt dann auch in Stuttgart. Wilhelm hat den Eindruck, dass dort nicht Menschen, sondern Autos wohnen, die auf Straßen leben, und nicht in Häusern. Manche Gebäude kann man wegen der vielen Straßen, dem ewigen Brausen, das kein Anhalten erträgt, schon gar nicht mehr erreichen. Auch vor seinem früheren Stuttgarter Haus kann man nicht mehr anhalten und aussteigen.

„Im Wesentlichen hat die Demokratie den Menschen Autos gebracht“, sagt Wilhelm, als die Taxifahrerin im Getümmel der Großstadt eine Stelle sucht, an der sie ihn absetzen kann. Sie hat keine Zeit, auf diese Aussage zu reagieren, blickt links und blinkt rechts, schließlich findet sie gegenüber vom Bahnhof eine Möglichkeit zum Anhalten. Von dort kann man direkt in den Park gehen, der einmal sein Schlossgarten war.

So viel Unordnung in seiner alten Welt …

Wilhelm sucht sich erstmal eine Parkbank. Er möchte dem ganzen Durcheinander entfliehen und Kraft schöpfen für die letzten Meter seines Ausflugs. Wackelig ist er, das weiß er, aber auch zäh, und wach, ein liberaler, auch stolzer Geist, noch immer diszipliniert und mit wenig Dünkel. Seine Augen mustern die Szene, lange ruht sein Blick auf jenem Bahnhof, den er noch höchstpersönlich in Auftrag gegeben hatte. Auch dort schrauben und bohren sie herum. Diese ganze Unordnung seiner alten Welt! Überall Absperrungen, Baugruben, Putz und Mörtel. Schweres Gerät macht lauten Lärm, kein Vogel mehr zu hören im Park. Ein heilloses Durcheinander haben sie angerichtet, die demokratischen Kräfte, die das jetzt alles zu verantworten haben.

Die Ruhepause im Tumult hat ihm dennoch gutgetan. Also wuchtet er sich wieder hoch, packt die beiden Griffe seines Rollators und macht sich auf den Weg durch den Schlossgarten. Ach, wäre er doch noch der stattliche Mann, der er einmal war, als er mit seinen zwei Spitzhunden durch diese Stadt spaziert ist! Wie leichtfüßig wäre er diese paar Meter bis zu seinem Ziel flaniert, links und rechts gegrüßt von den Leuten, die ihn mochten! Jetzt aber ist es eine Qual, der Weg ist lang und mühsam, vorbei an seinem schönen großen Theaterbau, auf den er noch immer stolz ist. Hinten herum um sein Schloss, in dem er einmal regiert hatte. Dann die Böschung hinauf, bis er schließlich wieder vor so einer Straßenschneise steht, die es zu überwinden gilt. Immerhin hatten die Demokraten eine gute Idee dafür gehabt: Ampeln hatten sie erfunden, die wie mit Zauberhand den unaufhörlich fließenden Strom der Autos anhalten können.

… und sein früheres Zuhause ist jetzt ein Museum

Jenes Haus, das einmal sein Zuhause in Stuttgart war, ist jetzt ein Museum. Wilhelm weiß das; er hatte es ja selbst erlebt, wie sie ihn hinauskomplimentiert hatten aus diesem Gebäude, das alte Stuttgarter noch immer „Wilhelmspalais“ nennen. Für die Jüngeren heißt es „Stadtpalais“, und so steht es auch in leuchtenden Buchstaben über dem Eingang. Besser gefallen hat es ihm ohnehin immer in seiner Villa Marienwahl in Ludwigsburg. Dass man ihm sein Stadtpalais genommen hatte, schmerzt ihn also wenig.  Sollen sie es doch als Museum nutzen.

Bis 27.3.2022: Wilhelm II. in der Ausstellung von Stadtpalais und Landesarchiv Baden-Württemberg. Foto: Volker Naumann, bereitgestellt von Stadtpalais Stuttgart

Mehr als hundert Jahre war Wilhelm nicht mehr hier gewesen. Heute aber will er sich selbst besuchen, in einer Ausstellung. An der Kasse erkennen sie ihn nicht, und er will auch keine Sonderbehandlung. Diese Zeiten sind vorbei. Also kramt Wilhelm acht Euro Eintritt heraus, hält widerwillig einen Arm hin, um sich ein Bändchen darum herum kleben zu lassen. Ob er geimpft sei, wird er gefragt. Ja, klar, „ich bin doch nicht blöd“, nuschelt er durch seinen Bart. Dann muss er sich noch über die Ermahnung wundern, er solle keine Bilder berühren. „Sehe ich so aus?“, fragt er zurück. Und er muss versichern, dass er über keines dieser neumodischen drahtlosen Telefone verfügen würde, weil er es sonst tief in seiner Tasche zu vergraben hätte. Wilhelm findet, dass es ganz schön kompliziert geworden ist, sich selbst zu besuchen.

Aber dann ist er endlich drin in seinem eigenen Leben. War es überhaupt „seins“?  Niemals hat ihn jemand gefragt, ob er hatte König werden wollen. Ein Studium hatte er absolviert, sich mit allem beschäftigt, was für den Staat wichtig war: Jura, Politik und Finanzen. Dann musste er zum Militär, sogar zu den kriegsfreudigen Preußen nach Potsdam.

Die Weitsicht des Adels war begrenzt …

Vieles lief nicht so, wie er sich das gewünscht hätte. Seine erste Ehefrau, die liebe Marie, war gestorben, zwei tote Kinder hatte er zu betrauern. Kein Thronfolger war ihm vergönnt gewesen, aber es wurde ja auch keiner mehr benötigt. Seine zweite Frau Charlotte, die war ihm geblieben.  Und natürlich Pauline, seine Tochter. Wie hatte sie seine Pferde geliebt! Täglich geht er zu ihrem Grab, nicht zum Friedhof, sondern die kleine Allee bei Marienwahl entlang. Pauline ruht direkt neben den verfallenen Pferdeställen.

Villa Marienwahl in Ludwigsburg

Das ist ohnehin jetzt alles vorbei, denkt sich Wilhelm, die Pferde tot, auch an eine Jagd ist nicht mehr zu denken. Gott sei Dank sind auch die sinnlosen Kriege vorbei, für die er Soldaten an seinen preußischen Namensvetter, den Kaiser und Kriegstreiber, hatte abstellen müssen. Wilhelm muss schwer atmen, als er seinen eigenen Aufruf an seine Württemberger liest. „Furchtlos und treu“, hatte er 1914 geschrieben, sollten sie für das Vaterland kämpfen. Wo hatte er das erst neulich wieder gelesen?

Gekämpft haben sie bestimmt, aber hauptsächlich sind sie gestorben, denkt sich Wilhelm. Der Krieg ging verloren. Die Weitsicht des militärverliebten Adels war eben sehr begrenzt. Jetzt betrachtet er die Bilder und Texte rund um seine Vertreibung aus diesem Haus. An das pseudo-revolutionäre schwäbische Gedruckse kann er sich noch gut erinnern. Das schlechte Gewissen triefte damals seinen sozialistischen Untertanen aus jeder Pore. Eine Revolution vollziehen wollten und sollten sie, obwohl sie gegen ihn als König eigentlich gar nichts einzuwenden hatten.

… und die Weitsicht der Demokraten ist es auch

Also haben sie ihn nach Bebenhausen vertrieben, aber dort ihn in Ruhe gelassen. Das waren schwere Stunden, denkt sich Wilhelm, aber man kann es schlechter erwischen. Die in der Revolution ermordeten Adligen von Frankreich zählen dazu sowieso, aber zum Beispiel auch der kunstsinnige junge König von Bayern, nur drei Jahre älter als er, den sie irgendwie im See ersäuft haben. Hätte der mal besser auch einen Bahnhof und nicht teure Schlösser gebaut, dann hätte er vielleicht länger leben dürfen. Heute verdienen sie Millionen mit Neuschwanstein und Herrenchiemsee, aber damals waren sie ihnen zu teuer. Auch die Weitsicht der Demokraten ist begrenzt, denkt sich Wilhelm.

Der alte Nicht-mehr-König ist nun reichlich erschöpft von seinem eigenen Leben, als er den Ausstellungsraum verlässt. Erschrocken hält er inne: Sein lebensgroßes Gegenüber steht da, mit seinen zwei Spitzhunden, in grau gegossen, bärtig, Hut und Anzug. Sein Denkmal! Wilhelm gefällt sich in dieser Darstellung. In der Zeitung hatte er gelesen, dass die Stuttgarter streiten, ob überhaupt und wo dieses Denkmal einmal auf Dauer stehen soll. Ihm ist es egal.

Dann tritt Wilhelm heraus aus seinem Palais, vorsichtig bugsiert er seinen Rollator die geschwungene Einfahrt herunter, die einmal seine Besucher für ihre Kutschen benutzt hatten. An der Straße winkt er einem Taxi, das auch gleich anhält. Lautes Getröte und Gehupe erschallt, als der Taxifahrer die Weiterfahrt blockiert, um dem alten Mann zu helfen. „Nach Ludwigsburg“, sagt Wilhelm, als er im Auto sitzt.

„Schön im Museum?“, fragt der Taxifahrer, „um was geht’s denn dort?“

„Um mich, aber das ist nicht wichtig“, antwortet Wilhelm.

Der Taxler wendet sich zu Wilhelm herum und mustert ihn lange. Aber Wilhelm erwidert den Blick nicht, sondern schaut geradeaus.

„Sie sollten lieber auf den Verkehr achten“, sagt er schließlich und deutet durch die Windschutzscheibe nach vorne. Bremslichter leuchten vor ihnen auf, lautes Hupen ertönt, ein Fahrer gestikuliert wild aus dem Autofenster heraus. Quietschend bleibt auch das Taxi stehen. Da vorne, direkt vor ihnen, laufen todesmutig zwei Spitzhunde durch das Verkehrsgetümmel, wuseln hindurch zwischen den Autos, überspringen Verkehrsinseln, kümmern sich nicht um Ampeln – und verschwinden im Schlossgarten.

 

 

 

Die Ausstellung „Wilhelm II. – König von Württemberg“ ist noch bis 27. März 2022 zu besichtigen im Stadtpalais Stuttgart und im unmittelbar benachbarten Hauptstaatsarchiv Stuttgart: https://www.stadtpalais-stuttgart.de/ausstellungen/wilhelm-ii-konig-von-wurttemberg

Auf der Website der Ausstellung finden sich zahlreiche weiterführende Informationen über Wilhelm II von Württemberg, sein Leben, eine historische Einordnung und Beiträge zur Diskussion über die Erinnerungskultur heute (auch über das Denkmal).

Ein sehr schöner Beitrag über die Geschichte der Villa Marienwahl in Ludwigsburg findet sich im Online-Archiv der Stuttgarter Zeitung: https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.ludwigsburg-die-klitsche-des-koenigs.73f60c60-45ce-4b4a-a88a-4eebc0cbe1e1.html

 

Unbeugsam-weiblich gegen den „Ökozid“ (27. September 2021)

Am Tag nach der Wahl steht nicht viel fest. Aber vermutlich wird es ein Mann sein, der Angela Merkel im Kanzleramt folgen wird. Er wird einlösen müssen, was die heutige Kanzlerin einmal für sich in Anspruch nahm: ein Klima-Kanzler sein.

In „Ökozid“ am Schauspiel Stuttgart muss Angela Merkel (hier die Schauspielerin Nicole Heesters) als Zeugin vor Gericht aussagen. Foto: Björn Klein

Diese Vorrede lenkt den Blick auf ein aktuelles Kultur-Ereignis am Schauspiel Stuttgart. Dort sind es Frauen, die zu Gericht sitzen, und es sind Frauen, die sich verteidigen. Wir befinden uns gedanklich im Jahr 2034, und eine dann stolz-ergraute Angela Merkel, seit 13 Jahres aus dem Amt geschieden, wird als Zeugin befragt. Sie wird gespielt von Nicole Heesters als noch immer hoch kontrolliert in ihren Bewegungen, ihren Aussagen, ihrem Auftritt. Hätte sie die Klimakatastrophe abwenden können, wenn sie gemäß dem gehandelt hätte, was bereits bekannt war?

Vorwurf: Untätigkeit gegen die Katastrophe

Die Rede ist von dem Schauspiel „Ökozid“ (Premiere war am 24. September). Den Vorsitz in einem Internationalen Gerichtshof führt eine strenge, verständige Richterin, die Anklage wird von zwei Frauen vertreten: einer stimmgewaltigen Sprecherin des Verbundes der 31 klagenden Staaten „des globalen Südens“ und ihrer Anwältin. In dieser Besetzung unterscheidet sich das Theaterstück, das in Stuttgart uraufgeführt wird, von dem gleichnamigen Film, der im November letzten Jahres bei der ARD zu sehen war. Auch sonst hält der Theaterabend zahlreiche künstlerische Überraschungen und Ergänzungen parat, der den Besuch lohnen lässt, auch wenn man den Film bereits gesehen hat.

Zur Sprache kommt alles, was uns in den zurückliegenden Wochen des Bundestagswahlkampfs täglich beschäftigt hat, und es in den kommenden noch viel dringlicher tun wird. Hätten die deutschen Regierungen seit Gerhard Schröder es hätten besser wissen können? Hat Deutschland im internationalen Zusammenspiel der klimafeindlichen Kräfte überhaupt relevantes Gewicht? Verletzt die Untätigkeit des Nordens gegenüber den erkennbaren Folgen einer Klimakatastrophe vor allem im Süden der Weltkugel grundlegende Menschenrechte, wie sie die UN-Charta allen Menschen gleichermaßen verspricht? Oder ist alles ganz anders, war davon nichts erkennbar, ist irgendwas davon noch strittig oder nicht?

Empörende Erfahrungen im Wahlkampf

Männer spielen während dieses nachdenklich machenden und trotzdem unterhaltsamen Theaterabends allenfalls kauzige Nebenrollen. Sie plustern sich auf in oft substanzloser Rechthaberei, womit eine Brücke gebaut wäre zu einem geschlechterspezifischen Blick auf den Wahlkampf und auf das, was nun folgen wird in den Verhandlungen über eine neue Regierung. Der Blick zurück macht fassungslos. Wie selbstgerecht und rechthaberisch mit einigen Spitzenfrauen in diesem Wahlkampf umgegangen worden ist – oft, aber nicht nur, von Männern – ist für jeden sensiblen Geist eine empörende Erfahrung.

Frauen in der Politik können ganz generell darüber viel berichten. Daher hier nur einziges, aber besonders prominentes Beispiel aus den letzten Wochen: Die Republik zu „warnen“ vor einer Machtübernahme durch die SPD-Co-Vorsitzende Saskia Esken, der unterstellt wurde, dass sie wie eine strippenziehende Mephista den SPD-Kanzlerkandidaten Olaf Scholz marionettenartig über die politische Bühne zappeln lassen würde – das adressierte zumindest zum größeren Teil nicht deren inhaltliche Aussagen. Sondern es appellierte an dumpfe Assoziationen, die sich gegen ihr selbstbewusstes Auftreten und ihre von manchen vielleicht als ruppig empfundene Sprechweise richteten.

Engagierte Frauen waren nicht willkommen, …

Also raus aus dem Theater, wenige Häuser weiter, rein ins Kino! In fast zwei Stunden breiten dort im aktuellen Film „Die Unbeugsamen“ politisch erfahrene Frauen aus, welche Mühen, Gemeinheiten, Niederlagen, Zurücksetzungen und Zumutungen aller Art sie aushalten mussten, bis sie in der Männerwelt der deutschen Nachkriegspolitik angekommen waren. Der Film lässt keine Zweifel offen, dass engagierte Frauen alles andere als willkommen waren, und auch, dass die Männer sich kaum Mühe gaben, ihre ehrverletzende Überheblichkeit wenigstens höflich zu verbergen. Um sich in diesem Umfeld durchzusetzen, mussten Frauen Männern so ähnlich wie möglich werden. Für einen ersten Einblick genügt schon der Trailer des Films (Link siehe unten). Die Verhältnisse sind zweifellos besser geworden – aber gut sind sie noch nicht, wenn im neu gewählten Bundestag der Frauenanteil von 31 auf gerade mal 35 Prozent gestiegen ist.

… sind jetzt aber Mehrheit und Stimme der Klimaaktiven

Beim Stuttgarter „Ökozid“ fehlt es den Frauen nicht an Macht. Trotzdem haben sie in der Diktion des Theaterstücks vollständig männlich versagt. Ihr Scheitern bei der rechtzeitigen Rettung der Welt ist im Schauspiel ein Generationenproblem, keines der Geschlechter. Daher die Frage: Vielleicht können Frauen doch die besseren Klimaretter sein? Weil sie sich als Mütter eben doch noch immer stärker mit dem Schicksal ihrer Kinder identifizieren, als dies Väter tun? Warum sonst hat Annalena Baerbock im Wahlkampf dauernd von ihren Kindern geredet, Olaf Scholz (keine Kinder) und Armin Laschet aber nicht? In der „Fridays for Future“-Bewegung dominieren nach einer Studie des Berliner Instituts für Protest- und Bewegungsforschung die jungen Frauen mit 60%. Alle wesentlichen Repräsentantinnen der Bewegung sind weiblich.

Vielleicht ist das nun die neue Generation unbeugsamer Frauen, die nach Kriegsende in der deutschen Politik fehlten. In der neuesten Folge des „unendlichen Podcast“ der ZEIT (Link unten) formuliert die Schauspielerin Nora Tschirner einen weiteren Aspekt. Für Frauen und für unsere Gesellschaft kann es nicht nur darum gehen, Männer an  ihren Machtpositionen gleichwertig zu ersetzen.  Als „Seitenprodukt“ des jahrhundertealten Patriarchats sei ein „Privileg auf Frauenseite entstanden, eine Weisheit in Beziehungen, Kommunikation, Gefühle und zwischenmenschlichen Geschichten“. Dieses Potenzial sei bisher gesellschaftlich noch nicht ausreichend hochgewertet.

Die Klimakrise fordert neue Kompetenzen

Mehr Weiblichkeit in diesem Sinne hätte der Politik in den letzten 50 Jahren vielleicht weniger Orientierung am Automobil ermöglicht, mehr Naturschutz durchgesetzt, vielleicht auch insgesamt weniger Wachstum und  weniger Reichtum in Kauf genommen, aber dafür eine andere Balance aus Arbeit und sozialem Leben ermöglicht, ein anderes Geben und Nehmen, weniger Raffen, mehr Fürsorge.

Für eine Abwendung der drohenden Klimakatastrophe benötigen wir genau all das. Schade, dass dieser Aspekt im Stuttgarter „Ökozid“-Prozess keine Rolle spielt. Er endet jedoch mit einer eindrücklich sinnlichen Inszenierung, die den Theaterbesucher hinunterzieht in die Flut der steigenden Meeresspiegel. Und wenig überraschend: Es ist eine junge Frau, deren Stimme uns dort hineinführt und uns darin ertrinken lässt.

 

„Ökozid“ ist am Schauspiel Stuttgart noch mehrfach bis November auf dem Spielplan, jeweils verbunden mit einer Rede von Klima-Aktiven: https://www.schauspiel-stuttgart.de/spielplan/a-z/oekozid-2021/

Der Trailer zu „Die Unbeugsamen“ ist hier zu finden, der Film läuft (noch) in den Kinos: https://www.youtube.com/watch?v=yLjAayYEgOQ

Der Podcast und die Videoaufzeichnung von „Alles gesagt“ mit Nora Tschirner dauert fast vier Stunden. Die hier zitierte Passage (und mehr zu ihrer Sicht auf modernen Feminismus) ist etwa zehn Minuten vor dem Ende zu finden: https://www.zeit.de/video/2021-09/6271162956001/lange-nacht-der-zeit-2021-alles-gesagt-mit-nora-tschirner-christoph-amend-und-jochen-wegner?utm_referrer=https%3A%2F%2Fverlag.zeit.de%2F

 

 

Micha geht wählen – Ein modernes Märchen (26. September 2021)

Später Nachmittag, Ende September in Deutschland. Tür auf, raus aus dem Haus, links um die Ecke. Jetzt geradeaus bis zur nächsten Straße. Micha steckt in Schlabberhosen, lockerem T-Shirt und hat wirre Haare. Und er weiß nicht so recht, wie ihm geschieht. Er hat es eilig, und noch dazu hat er einen sonderbaren Gesellen im Schlepptau – oder treibt ihn dieser unpassend gekleidete Begleiter nicht eher vor sich her? Wie ist es dazu nur gekommen?

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Für Georgios hatte der Tag schon sehr früh begonnen. Das war nicht ungewöhnlich, denn tagsüber brannte die Sonne gnadenlos vom attischen Himmel. Es war wichtig, die kühlen Morgenstunden zu nutzen für die schwere Feldarbeit oder – wie heute – für den Weg in die Stadt. Georgios wollte nach Athen, rechtzeitig, bevor die Ekklesia begann. Perikles sollte eine Rede halten, und das war ein besonderes Ereignis. Um dorthin zu kommen, musste Georgios vier Stunden laufen, hinweg über staubige Wege, hindurch zwischen den Weinbergen, vorbei an Bettlern, vorbei an den Tempeln. Heute hatte er keine Zeit, den Göttern zu opfern. Er musste auf die Agora, denn heute war Volksversammlung.

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Micha hatte einen faulen Sonntag-Nachmittag verbracht, bis es geklingelt hatte. Das Nachmittags-Fußballspiel war eben erst beendet, Abpfiff nach drei Minuten Nachspielzeit. Aber dann machte es „Ding-dong“. Vor der Tür war ein sonderbarer Fremder gestanden, ein Mann mittleren Alters, gestutzter Bart, in langem weißem Gewand. Es war eigentlich nur ein Tuch, ähnlich wie es indische Frauen als bunte Sahris tragen, kunstvoll gewickelt, aber in Weiß. Gerafft war das Tuch über die rechte Schulter. Die linke lugte blank hervor, und das jetzt im Herbst, dachte sich Micha, so warm ist es doch auch wieder nicht. „Ich bin auf dem Rückweg“, sagt der sonderbare Fremde, „das sind noch fast vier Stunden Fußweg.“ Manfred schaute dem Bärtigen ins Gesicht, perplex über dessen Erscheinung, und hatte keine Idee, was er zu diesem Überraschungsbesuch sagen könnte. „Vielleicht etwas zu trinken?“, fiel ihm schließlich doch noch ein.

„Nein, Danke,“ winkte der Fremde ab, „wir haben dafür keine Zeit.“ Seine Stimme klang angenehm, klar, auch selbstbewusst. „Wissen Sie, den ganzen langen Weg habe ich nur wegen meiner Stimme auf mich genommen“, setzte der Fremde hinzu, „nur damit sie nicht verfällt.“

„Und – und was kann ich sonst für Sie tun?“ stotterte Micha.

„Für meine Stimme bin ich so weit gelaufen, Stunde um Stunde,“ antwortete der rätselhafte Fremde, „da wirst Du doch die paar Meter hier zum Wahllokal schaffen“. Fordernd zeigte er in eine bestimmte Wegesrichtung. „Aber beeil Dich, Du hast nicht mehr viel Zeit.“

Ja, heute war Wahlsonntag. Eigentlich hatte Micha per Briefwahl abstimmen wollen, wie das zurzeit fast alle taten. Aber erstens hatte er es verduselt, den Antrag abzuschicken. Und zweitens war er ohnehin unsicher, was oder wen er eigentlich wählen sollte. Die dauernden Wahlsendungen, die Plakate überall und die Posts auf Facebook – das alles hatte ihn schwer genervt in letzter Zeit. Keine Ahnung, für oder gegen wen er da stimmen sollte. Irgendwie war es auch egal, fand Micha. Ihm ging es gut, er hatte eine kleine, aber auskömmliche Rente, das Häuschen war abbezahlt, die Kinder verdienten ihr eigenes Geld. Weniger Steuern wären erfreulich, klar. Aber Micha machte sich auch keine Illusionen: Weniger Steuern machen den Staat arm, und irgendwer muss ja seine Rente und die Schulen und Straßen bezahlen. Also werden die Steuern ohnehin nicht sinken und wegen der Steuern muss er dann auch nicht zum Wählen gehen. Mindestlohn interessierte ihn auch nicht mehr. Und das mit dem Klima verstand er sowieso nicht. Also hatte er erst heute Morgen den Brief mit der Wahlbenachrichtigung in den Papierkorb geworfen, zu spät für eine Briefwahl. Und was würde seine Stimme schon ausmachen?

„Es ist nicht selbstverständlich, dass man eine Stimme hat, mein Freund,“ hörte Micha den Fremden jetzt sagen, als könnte er Gedanken lesen. Seine strenge Autorität blieb bei Micha nicht ohne Wirkung. Verwirrrt kramte er den Umschlag wieder aus seinem Abfall, schlüpfte in seine Schuhe und stapfte los.

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Der griechische Politiker Perikles (gest. 429 v. Chr.) gilt aus Vordenker und Konstruktuer der Athener Demokratie (Hier eine Statue von der Fassade der Glytothek, München).

Georgios war stolz auf sein Bürgerrecht. Deshalb nahm er es alle paar Wochen es auf sich, den langen heißen Weg in der frühen Morgensonne hinter sich zu bringen. Als vollwertiger Bürger von Attika durfte er in Athen abstimmen und wählen. Seine Stimme zählte. Georgios fand es wichtig, dass nicht nur die fettleibigen Städter ihre Stimme abgaben, sondern auch die hart arbeitenden Bauern vom Land rund um die Hauptstadt. Als er die Agora erreichte, herrschte dort schon reges Treiben, hunderte Bürger hatten sich versammelt, um zu diskutieren und abzustimmen. Der Rat hatte dafür gesorgt, dass es eine Ordnung gab in diesem Durcheinander. Aufmerksam hörte er die mitreißende Rede von Perikles. Und die Gegenreden anderer Athener Bürger. Aber Georgios wusste auch: Die Städter hatten vieles schon vorab besprochen. Wie bei jeder Versammlung dominierten diejenigen, die hier jeden Tag lebten, die sich in den Gassen der Hauptstadt absprechen konnten, die täglich palaverten in den Tavernen, die sich auf dem Markt begegneten und nebenbei Politik machten. Viele der Diskussionen verstand er auch gar nicht richtig, aber er stimmte nach bestem Wissen mit.

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So kam es, dass Micha jetzt unterwegs ist. In seinen Sandalen schlurft der Fremde hinter ihm her, das weiße Gewand schleift auf dem Asphalt. Den Weg zum Wahllokal kennt Micha gut, er war ihn schon tausendmal gegangen, nicht zum Wählen, sondern raus zu den Sportplätzen am Ortsrand. An der Straßenecke links, vorbei an der Flüchtlingsunterkunft, die vor ein paar Jahren gebaut worden war. Stammt der Fremde von dort? Nein, eher nicht, denkt sich Micha. Die Menschen in der Unterkunft sehen fremdländisch aus, aber so eigenartig wie der Mann im gewickelten Tuch denn doch nicht.

Jetzt muss Micha die Straße überqueren, vorbei an der Schranke, die dafür sorgt, dass es keinen Durchgangsverkehr gibt im schönen Wohnviertel. Micha wendet sich um, der Fremde folgt ihm auf Schritt und Tritt. auf. Schließlich bleibt Micha stehen, und sieht dem Kauz mit der Toga mitten ins Gesicht. „Wer bist Du eigentlich und warum willst Du mir vorschreiben, wohin ich gehe?“

Der Fremde bleibt ruhig, seine Hand macht eine nach vorne wedelnde Bewegung – Los, geh weiter!, soll sie wohl bedeuten. „Du verlierst Zeit, mein Freund. Du hast nur noch fünf Minuten.“

Also setzt Micha seinen Weg fort, rechts abbiegen, jetzt den Fußweg am Wald entlang, links vorbei am Kindergarten. Rechts die Schule, die seine Kinder besucht hatten. Weiter vorne lugt das große Automobilwerk hervor, in dem Micha gearbeitet hatte.

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Als Georgios bei Sonnenuntergang seinen Rückweg antrat, wieder vier Stunden zurück in sein Dorf, da dachte er an seine Frau und seine Kinder, die ihn fragen werden, ob es das wieder Wert gewesen sei? Ein ganzer Tag in Stadt, statt auf den Feldern, bei den Tieren? Georgios wusste, wie er antworten würde: So viele Menschen in den anderen Städten des Peloponnes, in Sparta zum Beispiel, wären dankbar, wenn sie eine Stimme hätten. Niemand sonst kennt eine Herrschaft des Volkes. Überall regiert das Schwert der Mächtigen. Nur als Bürger Attikas bin ich nicht despotischen Entscheidungen ausgeliefert. Ich entscheide selbst mit!

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„Du willst wissen, wer ich bin?“, hört Micha jetzt den Fremden sagen. „Es ist nicht einfach zu erklären, weil aus Deiner Zeit bin ich nicht. Aber ich bin attischer Bürger, und wir Athener sind stolz auf unsere Demokratie. Aber von einem freien, gleichen Wahlrecht, wie Ihr es heute habt, können wir zu unserer Zeit nur träumen. Frauen dürfen nicht mitstimmen, und auch nur solche Männer, die ein Bürgerrecht besitzen. Und das blieb auf der ganzen Welt noch fast 2500 Jahre so.“

Ah, ein Grieche! Einer aus dem Erfindervolk der Demokratie! Endlich konnte Micha den seltsamen Begleiter einordnen. Aber wie konnte der Bärtige das alles wissen? War er 2500 Jahre alt? Die Begegnung blieb rätselhaft.

„Ihr habt es wirklich weit gebracht im Vergleich zu uns,“ hob der Grieche wieder an. „Neidisch bin ich nicht nur auf Eure glatten Straßen und großen Schulen und prächtigen Fabriken, sondern auch auf Euer Stimmrecht.“ Noch ein paar Schritte, schon kommt die Gastwirtschaft in den Blick, heute Michas Wahllokal. „Klingt doch ganz einfach, oder?“ fragt der Toga-Mann. „Jeder erwachsene Mensch wählt in seinem Land, wo er Staatsbürger ist, frei, gleich, geheim. Egal, ob Mann oder Frau, egal ob reich oder arm, egal ob von Adel oder nicht, ob Arbeiter oder Professor, egal was er glaubt oder denkt. Jede Stimme zählt gleich. Und es gibt feste Regeln, wann und wen man wählen kann.“

„Ja eben,“ antwortet Micha. „Klare Sache. Was regst Du Dich so auf?“

Da kommt Leben auf in dem rätselhaften Fremden. Er springt an Micha vorbei, das Tuchgewand wirbelt herum. Der Grieche stellt sich Micha in den Weg: „Eine klare Sache nennst Du das? Wir haben es erfunden, aber damit es so ist wie heute, musste über Jahrhunderte gekämpft werden, dafür sind Menschen eingekerkert worden und gestorben!“, schnauzt er Micha jetzt an. „Und was machst Du? Du schmeißt Deinen Wahlbrief einfach in den Papierkorb.“

Kopfschüttelnd tritt der Bärtige zur Seite. „Nun mach schon, die Zeit läuft!“ Micha blickt auf seine Uhr: eine Minute vor sechs. Mit wenigen Schritten stürmt er in das Wahllokal. „Jetzt aber schnell“, lacht die Wahlhelferin, als er den Raum betritt. Resopaltische, Sperrholzkabinen, an der Decke Hochzeitsgirlanden für vergangene und künftige Feste. Rein in die Kabine, zwei Kreuze gemacht. Plötzlich hat Micha keine Zweifel mehr: na klar, dorthin gehören sie, die Kreuze. Und schon verschwindet der Zettel sorgsam gefaltet im Schlitz des grauen Kastens. Geschafft!

„18 Uhr!“ ruft der Wahlvorstand in den Raum. Micha tritt heraus, blickt sich um. Der Fremde ist verschwunden.

 

Mehr Informationen über die attische Demokratie hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Attische_Demokratie

 

 

 

Deutschland gemeinsam machen (13. September 2021)

Ein Essay über den Wahlkampf-Claim der CDU – aus meiner Mini-Serie als #PolitikFlaneur über die Wahlkampf-Slogans der drei Kanzlerkandidaten-Parteien

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Was ist das Beste im Mann?

Chips auf dem Sofa, das Bier im Anschlag: Ein Ehepaar guckt Fernsehen. Schon zum wiederholten Male schlägt sie in der Werbepause die Hände über dem Kopf zusammen. „Wie kann man sich nur so klein machen!“ ruft sie aus und blickt ihren Mann fragend an. Gerade hat ein Rasierklingen-Hersteller für seine Produkte geworben. Glatt und reibungslos gleitet die Klinge über das Kinn des Mannes, keine Chance für Bartstoppeln. Dazu der Slogan: „Für das Beste im Mann“.

„Wie kann man nur!“, ereifert sie sich, „die blöden Bartstoppeln sind doch nicht das Beste an Euch Männern!“ Er ist gelangweilt. Die Diskussion haben die beiden schon zig-mal geführt. „Darum geht es doch gerade, dass Du Dich aufregst, dass Dir das in Erinnerung bleibt“, wendet er müde ein. „Du denkst beim ‚Besten im Mann‘ natürlich nicht an Barthaare, sondern an was anderes, was auch immer, aber jedes Mal, wenn es wieder kommt, denkst Du an die Rasierklingen …“

Eine spontane Umfrage ohne Anspruch der Repräsentativität zeigt, dass der zentrale Werbeclaim der CDU nicht Gefahr läuft, eine vergleichbare Diskussion auszulösen. Die wenigsten Befragten kennen ihn, obwohl er auf fast jedem CDU-Plakat stand, das bis September zu sehen war. Der Slogan der CDU lautet: „Deutschland gemeinsam machen“.

Eine Aktivität vortäuschende Selbstverständlichkeit

„Die Zeit ist schlecht?“, fragte der schottische Essayist Thomas Carlyle (1795 – 1881) vor 150 Jahren, und gab gleich auch die Antwort: „Wohlan. Du bist da, sie besser zu machen!“ Aber der Spruch der CDU lautet eben nicht „Deutschland besser machen“ – sondern einfach nur „machen“. Kann man Deutschland „machen“? Ist das überhaupt erforderlich, denn eigentlich war es doch schon immer da, oder? Ist es vielleicht sogar schon fertig? Die Fragen zeigen, auf welche Komplexität der auf den ersten Blick inhaltlich eher einfallslose Claim der CDU-Kampagne zur Bundestagswahl einzahlt. „Deutschland gemeinsam machen“ ist so etwas wie eine  Aktivität vortäuschende Selbstverständlichkeit. „Machen“ tun wir alle ständig irgendwas, wir „machen“ den Abwasch oder „machen“ die Tür zu und wieder auf. Etwas „machen“ ist eine aktive Handlung, und darauf will die CDU wohl hinweisen, sie verspricht, nicht einfach nur zu warten, das etwas geschieht, sondern sie will etwas „machen“.

Abgesehen davon, dass dies ja wohl das Mindeste ist, was wir von unseren Politikern erwarten – bleibt die Frage: Was eigentlich? „Deutschland“ kann man nicht mehr „machen“, Deutschland ist in Jahrtausenden gewachsen, ist vielfach gefallen in Ruinen und aus diesen wieder auferstanden, hat sich in Stolz und Überheblichkeit geirrt und Demut gelernt. Bei allem Respekt für die CDU: Diese Partei wird Deutschland so wenig „machen“ wie es andere tun können. Die Union hat prägenden Anteil daran, dass Deutschland heute so ist, wie wir darin leben. Aber das gilt für viele. Deutschland kann man nicht machen, Deutschland gibt es so, wie es ist.

Fertigmachen? Weitermachen?

Natürlich ist Deutschland trotz allem, was da schon gemacht wurde, nicht „fertig“. „Ich habe fertig“, sagte in einer berühmt gewordenen Pressekonferenz des FC Bayern Giovanni Trapattoni, drehte sich um, und ging hinaus, damit es keine Chance für die Journalisten gab, ihm Fragen zu stellen. Aber fertig war er trotzdem nicht, er musste noch weitermachen, bis die Bayern ihn aus dem Amt jagten. Die CDU will nicht herausgejagt werden aus dem Kanzleramt, und deshalb Deutschland gemeinsam – ja was? Fertigmachen? Nein, das passt nicht. Besser machen, wie Carlyle vorschlägt? Hört sich nicht toll an nach 16 Jahren CDU-Kanzlerschaft. Vielleicht ist „Weitermachen“ gemeint. Sehr dynamisch klingt auch das nicht, „Weitermachen“ hat so etwas von langweiliger Kontinuität, und deshalb haben die Werbestrategen der Union vermutlich das „weiter“ gestrichen, obwohl es inhaltlich so gemeint  sein dürfte.

Nun will die CDU nicht einfach Deutschland „weitermachen“, sie will es „gemeinsam“ tun. Gemeinsam mit uns Bürgern, gemeinsam mit der ganzen Gesellschaft, mit allen, die mitmachen wollen. Das klingt nach einem einladenden Angebot, ist aber eine demokratische Selbstverständlichkeit.

„Deutschland gemeinsam machen“ ist ein missglückter Allgemeinplatz. Vielleicht deshalb findet sich auf der Website der CSU der Spruch nicht. Das gemeinsame Wahlprogramm von CDU und CSU steht unter dem ebenfalls wenig originellen Motto „Gemeinsam für ein modernes Deutschland“, und auf den neuesten Wahlplakaten der CDU ist auch nichts mehr zu lesen vom gemeinsamen Machen.

Mit sprachlichen Belanglosigkeiten verkauft man nichts

Sprache ist verräterisch. Wenn die Union aus der Wahl mit einem schlechten Ergebnis herauskommen sollte, wird sie nachdenken müssen, ob es ihr selbstbezogenes Denken ist, das da zu sehr aus ihrem Slogan herauslugt. Die Parteien der konkurrierenden Kanzler-Kandidaten nehmen zumindest sprachlich in ihren zentralen Claims „Respekt für Dich“ (SPD) und „Bereit, weil Ihr es seid“ (Grüne) nicht sich selbst, sondern den Adressaten von Politik, das Wahlvolk in den Blick. Von der Idee des „gemeinsam machen“ dürfte sich die Wählerin oder der Wähler eher nicht direkt angesprochen fühlen. Eine Nebensächlichkeit? Ja, vielleicht. Aber die Bartstoppeln sind ja auch nebensächlich und nicht das Beste im Mann. Für jeden Kandidierenden ist derzeit das Beste am Wähler oder der Wählerin die Wahlstimme. Mit sprachlicher Belanglosigkeit wird sie schwer zu bekommen sein, genauso wie man damit keine Rasierklingen verkaufen kann.

 

Hier der Link zum gemeinsamen Wahlprogramm der CDU/CSU: https://www.ein-guter-plan-fuer-deutschland.de/

 

Dieser Beitrag gehört zu einer dreiteiligen Serie, die sich mit den zentralen Wahlkampf-Claims der drei Parteien beschäftigt, die einen Kanzlerkandidaten aufgestellt haben. Hier die Links zu den anderen Beiträgen: 

Respekt für Dich (SPD)

Bereit, weil Ihr es seid (Grüne)